Landtagspräsidentin Aigner denunziert Volksbegehren als Angriff auf die Demokratie

24. 10. 2021 | Henry Mattheß | In Bayern sind die Wiesen grüner, der Himmel blauer und die Entscheidungsrechte der Bürger weitergehend als anderswo in Deutschland. Das laufende Volksbegehren zur Auflösung des Landtages ist ein Novum in der Geschichte Bayerns und der Bundesrepublik. Die bayrische Landtagspräsidentin kann sich diesen Vorgang nur als „Angriff auf die Demokratie“ erklären. Ein Verfassungsrechtler spinnt den Faden sogar noch weiter.

Beim noch bis zum 27.10. laufenden Volksbegehren „Landtag abberufen“ geht es um keine spezielle Sachfrage, sondern um die vorzeitige Auflösung des Bayrischen Landtages nach Art. 18 der Bayrischen Verfassung. Die Initiatoren vom Bündnis Landtag abberufen werfen dem Landtag unter anderem eine verfassungswidrige Politik vor. Sie fordern von einem neuen Landtag ein Ende des Fraktionszwangs der Abgeordneten, einen größeren Einsatz für den Status des Freistaates Bayern und mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild. Letzteres durch eine Regelung, beschlossene Landtagsgesetze im Anschluss bei Bedarf einem Volksbegehren unterziehen zu können.

Ein „Angriff auf die Demokratie“ ist in diesen Zielen nicht zu erkennen. Vor allem wenn man bedenkt, dass seit 1946 in Bayern 21 Volksbegehren und 19 Volksentscheide stattgefunden haben, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Und es scheint gute Gründe für Volksabstimmungen zu geben:

„Repräsentative und direkte Demokratie sind nicht unvereinbar, ganz im Gegenteil. (…) Unsere Demokratie lebt vor allem von der Mitwirkung der Bürger. Die Erfahrungen zeigen: Direkte Demokratie stärkt deren Engagement. (…) Aus den Argumenten der Gegner (sprechen) starke Vorbehalte gegen die politische Reife der Bürger. Dieses Misstrauen in die Bevölkerung halte ich heute für völlig unangebracht.“

Das schrieb Markus Söder 2016, der Vorsitzende der Partei Ilse Aigners. Ebenfalls 2016 sprachen sich in einer internen Umfrage 68.8% von 52.000 teilnehmenden CSU-Mitgliedern für Volksentscheide auf Bundesebene aus, was sie progressiver macht als die heutigen Grünen. Aigner vertritt in ihrer Partei eine Minderheitenposition, was sie aber nicht daran hindert, diese im Amt als Landtagspräsidentin vorzutragen:

„Es ist ein Angriff auf die Demokratie, es werden demokratische Institutionen grundsätzlich in Frage gestellt.“

„Das Problem sei, dass die Initiatoren mehrheitliche Entscheidungen nicht respektierten und damit auch gegen die Demokratie vorgingen“ wird Aigner weiter indirekt zititert. Das ist ein verblüffender Vorwurf gegen Initiatoren, die eine Mehrheitsentscheidung aller Bayern herbeiführen wollen. Offenbar verwechselt Aigner aus der Höhe ihrer Landtagskanzel eine Mehrheit der Volksvertreter mit einer Mehrheit des Volkes, was ein tieferes Verständnis des Prinzips der Volkssouveränität vermissen lässt.

Weil aber das Volksbegehren „Landtag abberufen“ weder formalrechtlich noch inhaltlich angreifbar ist, wird zu sachfremden Argumenten gegriffen. In den Mittelpunkt wird die vermeintliche politische Gesinnung der Initiatoren gerückt und mit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz „bewiesen“. Was zeigt, wie politisch gewollt und praktisch eine solche Beobachtung sein kann. So veröffentlichte die CSU-Landesleitung in seltsamen Kontrast zu Söders obigen Ausführungen und der Mehrheitsmeinung der CSU jüngst ein gegen das Volksbegehren gerichtetes Informationsblatt, gegen welches mittlerweile Anzeige wegen Erfüllung mehrerer Straftatbestände gestellt wurde:

Angestoßen wurde das Volksbegehren von der Querdenkerszene. (…) Die offiziellen Argumente vertuschen die eigentlichen Argumente der Organisatoren. Es geht den Organisatoren definitiv nicht um die Stärkung der Demokratie, sondern um die Schwächung des politischen Systems.
(Fett im Original)

Der Fraktionschef der Freien Wähler Bayerns spricht sogar von Rechtsmissbrauch:

„Höchst rechtsmissbräuchlich (sei das Volksbegehren). Ich sehe darin einen Angriff auf unsere Demokratie und unseren Freistaat durch die Querdenkerszene.“

Das ist die seit anderthalb Jahren permanent vorgetragene perfide Verleumdung von Kritikern der Corona-Politik: Die für die beispiellosen Grundrechtseinschränkungen Verantwortlichen unterstellen gerade denen Demontage von Rechtsstaat und Demokratie, die sich aktiv für die Wahrung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Getreu dem Motto: Haltet den Dieb! Diese Gleichsetzung von Regierungskritikern mit Demokratiegefährdern war schon vor Corona eine beliebte Methode der Diffamierung und Bekämpfung aller politischen Kritik, die nicht bestimmten elitären Erwartungen folgt. Seit Corona wird sie auf die Spitze getrieben und bewegt sich seitdem im Bereich des Skurrilen.

Die Denunziation eines verfassungsmäßigen Volksbegehrens als „Angriff auf die Demokratie“ ist der Versuch, eine Demokratie nach Gesinnung einzuführen. Nur denen, die die richtige Gesinnung nachweisen, wird ein legitimer Anspruch auf demokratische Rechte zugestanden. Allen anderen nicht. Das ist totalitäres Denken in Reinform.

Dieses Denken führt zu bizarren Konsequenzen. Einer solchen Gesinnungslogik folgend, würden auch Wahlen einen „Angriff auf die Demokratie“ darstellen, wenn Parteien mit vermeintlich falscher Gesinnung über hohe oder gar führende Stimmenpotentiale verfügen, wie aktuell in Thüringen und Sachsen. Will man diesen Parteien und damit ihren Wählern das Wahlrecht absprechen? Am Ende solch totalitären Denkens, steht der Tod einer Demokratie, was anscheinend in zu vielen Köpfen nicht mitgedacht wird.

Verfassungsrechtler sind sich nicht zu schade, offen über eine Verfahrenseinschränkung von Volksentscheiden in Bayern nachzudenken. Für Martin Burgi, Verfassungsrechtler von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ist laut Bayrischen Rundfunk:

„…das Volksbegehren Anlass, darüber nachzudenken, ob die bürgerlichen Mitwirkungsmechanismen noch richtig sind. Für die Zukunft werde man sich überlegen müssen, ob die im bundesweiten Vergleich niedrigen Voraussetzungen zur Mitwirkung in Bayern richtig justiert seien.“

Konkret stört ihn, dass Abstimmungen in Bayern mit einfacher Mehrheit der Abstimmenden entschieden werden und es keine ihm wohl notwendig erscheinende Zustimmungs- oder Beteiligungsklausel (Quorum) gibt. Es ist infam, dass die nicht genehme Inanspruchnahme eines Verfassungsrechts sofort als Anlass zu Überlegungen für dessen Beschneidung benutzt wird. Nichts beschreibt diesen demokratiefeindlichen Reflex treffender als der Buchtitel „Die Angst der Eliten. Wer fürchtet die Demokratie?“ von Paul Schreyer.

Das Recht zur Landtagsauflösung nach Art. 18 Bayrische Verfassung ist gedacht als ein Mittel zur Begrenzung der Macht von Volksvertretern – und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch wenn es praktisch in Anspruch genommen wird. Machtbegrenzung war auch für Markus Söder 2018 das zentrale Argument, bei seinem gescheiterten Versuch, die Amtszeit bayrischer Ministerpräsidenten auf zehn Jahre zu begrenzen:

„Wir setzen damit ein fundamentales Signal für mehr Demokratie, für Begrenzung von Macht.“

Kurioserweise widersetzte sich die Opposition, insbesondere von SPD und B90/Die Grünen diesem Vorhaben.

Ganz gleich, ob am 27.10. die erforderliche Million Unterschriften auf den Gemeindeämtern in Bayern zusammenkommen oder nicht, eines ist schon jetzt klar: Das Volksbegehren „Landtag abberufen“ hat Millionen Staatsbürgern ein direktdemokratisches Recht in Erinnerung gerufen, das vielen vielleicht gar nicht (mehr) bewusst war: Der Souverän bestellt die Volksvertreter und kann sie bei Bedarf auch vorzeitig wieder entlassen – zumindest in Bayern. Gesamtgesellschaftliche Diskussionsprozesse auch unabhängig von Parteien in Gang setzen zu können, ist ein wesentlicher Effekt von Volksabstimmungen, auch wenn die meisten Initiativen bei der Abstimmmung abgelehnt werden.

„Wenn genügend Bürger den Eindruck haben, dass bei einem wichtigen Thema das Parlament oder die Parteien nicht in die Gänge kommen, können sie die Initiative ergreifen.“ Markus Söder, 5.7.2016, xing.com

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