Bündnis 90/Die Grünen und die Angst vor dem Volk

30. 11. 2020 | Henry Mattheß. Befürworter direkter Demokratie hatten gehofft, mit einer zukünftigen Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen würde das Thema Volksabstimmungen auf Bundesebene endlich entscheidungsreif und die Blockadehaltung der CDU beendet. Doch der Parteivorstand räumte einen potentiellen Konflikt mit der CDU vorauseilend aus dem Weg.

Eine knappe Mehrheit der Parteitagsdelegierten folgte dem Vorstand bei der Ablehnung einer dreistufigen Volksgesetzgebung (Volksinitiative, -begehren, -entscheid) im neuen Grundsatzprogramm. In diesem parteiinternen Vorgang spiegelt sich ein oft nur oberflächliches Verständnis von Demokratie in der Gesellschaft.

Seit April 2018 hat die Partei Bündnis 90/Die Grünen eine Neufassung des letzten Grundsatzprogramms aus dem Jahr 2002 diskutiert. Die parteiinterne Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratie und andere vermissten ein klares Bekenntnis zu direkter Demokratie auf Bundesebene in Form von Volksabstimmungen. Sie reichten Änderungsanträge zum Grundsatzprogramm ein. Für den Parteivorstand plädierte der Parteivorsitzende Robert Habeck gegen eine solche Festschreibung:

„Ich schätze Euer Engagement für die Vergangenheit und ich achte die Tradition, aber wir müssen in dieser Zeit neu überlegen, worüber wir reden und was das richtige Instrument für die jeweilige Zeit ist. […] Und deswegen sind die Bürgerräte, die wir vorschlagen genau in der Linie von Bündnis 90/Die Grünen. […] Die Frage, die wir beantworten müssen ist, welches Problem soll direkte Demokratie lösen und welches Problem darf sie nicht schaffen. Das Problem, dass sie aus meiner Sicht in erster Linie lösen muss, ist das Repräsentanzproblem.[…] Seht, dass im Deutschen Bundestag 80% der Mandatsträger Akademiker sind und nur drei Leute mittlere Reife haben. Das ist die Frage, die die direkte Demokratie beantworten muss. Und das Problem, dass sie nicht schaffen darf, ist eine Stärkung des Populismus, ist ein Antiparlamentarismus mit dem Sound: „Die da oben sind sowieso alles Verräter, das Volk weiß es besser.’ Das hat sich geändert gegenüber 2002. Deswegen müssen auch wir unsere Antworten überdenken und überprüfen.

Habeck denkt Demokratie offenbar nur temporär in der „jeweiligen Zeit“. Volksabstimmungen als unmittelbare Manifestation von Volkssouveränität sind aber kein schmückendes Beiwerk von Demokratie, das man den Zeitumständen nach gewährt oder eben nicht. Volkssouveränität bedeutet: Das Volk als Souverän hat jederzeit die Hoheit über die Gesetzgebung inne, also auch zwischen den Wahlen der von ihm beauftragten Volksvertreter. Ohne die Möglichkeit, Gesetze jederzeit direkt aus dem Volk zu initiieren oder zu korrigieren, ist ein Volk nicht souverän. Volkssouveränität ist nicht teilbar oder auf Parlamente übertragbar. Lediglich beschränkte Macht kann auf gewählte Vertreter übertragen werden.

Es ist nicht ersichtlich, wie das Repräsentationsproblem im Bundestag durch direkte Demokratie lösbar und das sogar ihre Hauptaufgabe sein soll. Dem Repräsentationsproblem des Bundestag müsste in erster Linie durch veränderte Auswahlverfahren der Wahlkandidaten durch die Parteien oder einer Mandatszeitbegrenzung auf acht Jahre begegnet werden. Direkte Demokratie soll vielmehr helfen, wichtige gesellschaftliche Fragen einer Lösung zuzuführen. Habecks Argumentation ist völlig rätselhaft.

Habeck warnt auch vor einer Spaltung der Gesellschaft in Ja und Nein-Lager bei Volksabstimmungen. Bei Parlamentswahlkämpfen „spaltet“ sich die Gesellschaft in die Anhänger der sich bewerbenden Parteien, weshalb vielleicht demnächst auch vor Parlamentswahlen gewarnt wird.

Angst vor Populisten

Den Parteivorsitzenden und viele andere treibt der Schutz der Demokratie, also die Angst vor Populisten um. Das ist eine Freund-Feind-Motivation, der es an prinzipiellen Überlegungen zum Wesen von Demokratie mangelt. Volkssouveränität sucht man im Grundsatzprogramm und bei Robert Habeck vergeblich, vielleicht weil das Wort Volk vielen verdächtig ist, obwohl es der zentrale Bezugspunkt des Grundgesetzes ist. Immer wieder ist auffällig, dass gerade Menschen, die sich selbst als progressiven Teil der Gesellschaft sehen, von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Volk und einer mangelnden Kenntnis von Volkssouveränität geprägt sind.

Jürgen Trittin sekundiert seinem Parteivorsitzenden mit in Falschinformation mündender Unkenntnis:

„Die Antragsteller wollen einen Wechsel des Betriebssystems. Der Entscheidung der freigewählten Abgeordneten soll Konkurrenz gemacht werden. Das ist der Kern des Volksentscheids. Und mit dieser Konkurrenz hat Deutschland miese Erfahrung gemacht. In der Weimarer Republik stand den Koalitionen der Reichsregierung, den Kompromissen, der direkt vom Volk gewählte Reichspräsident gegenüber. Das endete in der Krolloper mit der Machtübertragung an die Nazis.

Trittin verwechselt die Personenwahl des Reichspräsidenten mit einem Volksentscheid. Bei einem Volksentscheid steht keine Person, sondern ein Sachthema zur Abstimmung. Es gibt keine „miese Erfahrung“ mit Volksabstimmungen in der Weimarer Republik, sondern mit einem blockierten Parlament, das eben nicht mehr zu den „Kompromissen“ fähig war, die Trittin so hervorhebt.

Zudem war nicht die Direktwahl des Reichspräsidenten für sich ein Problem (dann wären alle heutigen Präsidialsysteme höchst gefährdet), sondern der untaugliche Versuch, zwei entgegengesetzte Verfassungstypen zu kombinieren. Das dem US-Präsidialsystem entlehnte Amt des Reichspräsidenten erwies sich als unvereinbar mit dem der Volkssouveränität folgendem deutschen Parlamentssystem eurpäischer Verfassungstradition.

Und der „Kern“ eines Volksentscheids ist nicht eine Konkurrenz zum Parlament, wie Trittin zu wissen meint, sondern die unmittelbare Verwirklichung von Volkssouveränität, wenn nötig natürlich auch als Korrektiv von Parlamentsentscheiden. Der „Kern“, das Wesen einer Volksabstimmung ist auch nicht die Qualität ihres materiellen Ergebnisses, sondern der demokratische Prozess der Entscheidung. Das gilt auch für eine Wahl.

Jürgen Trittin sei vor weiteren Geschichtsexkursen die profunde zusammenfassende Darstellung über Volksabstimmungen in Paul Schreyers Buch Die Angst der Eliten empfohlen. Gleichfalls Cem Özdemir, der sich auf Twitter für „exzellente Begründungen“ der oben Genannten bedankt und sich so seine Unkenntnis beim Thema Volksabstimmung bescheinigt.

Das Erbe von Bündnis 90

Es gibt aber selbstverständlich auch zahlreiche und prominente Fürsprecher einer dreistufigen Volksgesetzgebung. Die Partei scheint bei diesem Thema gespalten, zumindest dem Abstimmverhalten der Delegierten nach. Michael Kellner, Bundesgeschäftsführer aus dem Kreisverband Uckermark appelliert:

„Deswegen steht auch hier das Erbe von Bündnis 90 zur Abstimmung. [..] Stimmt für das Erbe von Bündnis 90! Stimmt für den Gründungsimpuls der Grünen!

Schon im ersten Grundsatzprogramm von 1980 forderten die Grünen „Volksbegehren und Volksentscheid zur Stärkung der direkten Demokratie“.

Der ostdeutsche Ruf „Wir sind das Volk“ war keine Phrase der Selbstbestätigung, sondern eine konzeptionelle Ansage zur Demokratie, die sich auf Initiative von Bündnis 90 bis in den Verfassungsentwurf der DDR am Runden Tisch vom 4. April 1990 zog.

Der federführend von Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) erarbeitete Verfassungsentwurf besagte in Artikel 89: „Die Gesetze werden durch die Volkskammer oder durch Volksentscheid beschlossen“. Artikel 98 enthielt eine detaillierte Regelung einer zweistufigen Volksgesetzgebung, wie sie von den Grünen nahestehenden Bürgerinitiativen Ende der 1980er Jahre in der BRD entwickelt worden war.

Die Forderung nach Volksabstimmungen ist ein zentrales Erbe ostdeutscher Bürgerbewegungen. Wer dieses negiert, sollte ehrlicher- und konsequenterweise Bündnis 90 aus dem Parteinamen streichen.

Gerald Häfner, Aktivist der ersten Stunde in Sachen Volksgesetzgebung bei den Grünen, warb mit sichtbarer Fassungslosigkeit für seinen Änderungsantrag:

„Hier geht es um unser Selbst- und Politikverständnis als Grüne. Keine Partei hat so lange für direkte Demokratie gekämpft und gestritten wie wir Grünen. Wir haben im Deutschen Bundestag den ersten Gesetzentwurf 1988 eingebracht, 44 Stimmen dafür alle anderen dagegen. Dann 1997 den Zweiten mit 146 Stimmen dafür und den Dritten 2002, da hatten wir 341 Stimmen für direkte Demokratie 199 dagegen. Wir brauchen die Zweidrittel-Mehrheit, wir sind ganz knapp davor. Die gesellschaftliche Zustimmung ist gewaltig gewachsen […], alle Umfragen sagen drei Viertel der Bevölkerung, vier Fünftel unserer Wähler wollen direkte Demokratie. Und jetzt sind wir so dicht vor dem Ziel, bleiben stehen, kehren um, sagen, das haben wir nie gewollt. Ich vestehe die Welt nicht mehr. […] Bitte wählt nicht die grüne Selbstamputation eines unserer Kernanliegen seit Jahrzehnten.

Katja Keul vom Kreisverband Nienburg:

„Lassen wir uns nicht von denjenigen treiben, die unsere Demokratie zerstören wollen, indem wir aus Angst unser eigenes Grundsatzprogramm ändern.

Genau das passierte aber nach Habecks und Trittins Angstmache vor den sogenannten „Populisten“, deren Wortmeldungen nicht weniger „populistisch“ klangen, weil sie Dinge unzulässig verkürzten bzw. sogar Falschinformation enthielten.

War bisher die CDU die einzige Partei, die sich einem programmatischen Bekenntnis zu Volksgesetzgebung auf Bundesebene verweigerte, bekommt sie jetzt überraschend Gesellschaft von Bündnis 90/Die Grünen. Diese positionieren sich nun jenseits der Grundsatzprogramme aller anderer Parteien von CSU bis DieLinke, die Volksentscheide auf Bundesebene ausdrücklich erwähnen. Habeck kann stattdessen nun bei Frau Merkel einstimmen: „Volksentscheide auf Bundesebene, da ist meine Haltung absolut gefestigt, dass ich das unter keinen Umständen möchte.“ (Merkel in ARD-Sommerinterview 16.7.2017)

Bürgerräte – ein nicht gleichwertiger Ersatz

Bei Bündnis 90/Die Grünen heißt das neue Zauberwort als Ersatz von Volksabstimmungen Bürgerrat. Ein Beratungsgremium, das mit per Zufall ausgelosten Teilnehmern besetzt, Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Fragen erarbeiten und das Parlament beraten soll.

Bürgerräte und Volksabstimmungen sind jedoch prinzipiell und qualitativ etwas völlig Verschiedenes. Beratende Bürgerräte können nicht das Entscheidungsverfahren Volksgesetzgebung ersetzen. Oder mit den Worten von Katharina Schulze vom Kreisverband München:

„Aber sind wir mal ehrlich, ein Rat bleibt ein Rat. Ich versteh nicht, warum man jetzt die Bürgerinnenräte gegen die Volksentscheide ausspielt.

Es ist vor allem deshalb nicht zu verstehen, weil der erste selbstorganisierte bundesweite Bürgerrat im Herbst 2019 ein klares Votum für Volksabstimmungen auf Bundesebene abgegeben hat. Robert Habeck missachtet als Politiker schon die erste Empfehlung des von ihm favorisierten Bürgerrates. Das verheißt nichts Gutes für Bürgerräte. Kennt er dieses Votum nicht, oder ignoriert er es vorsätzlich auf dem Weg zur Macht – selbst um den Preis, sich und seine Partei damit unglaubwürdig zu machen?

Zitate: Parteitagsmitschnitt auf youtube.com ab 44min07

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