Auch EU gibt letzten Anschein von Souveränität auf

Nachtrag 19.7. | 17. 07. 2023 | Wie um den derzeit vieldiskutierten Vasallenstatus Europas zu unterstreichen, hat die EU-Wettbewerbskommissarin entschieden, eine Amerikanerin mit guten Beziehungen zu Apple und Amazon zur neuen Chefvolkswirtin zu machen. Das passt bestens in die erklärte US-Strategie, die Europäer als Hilfstruppen im Kampf mit China um die IT-Vorherrschaft zu requirieren und das Regulierungsumfeld dafür passend zu machen.

Die Entscheidung der EU-Wettbewerbskommissarin, die US-Amerikanerin Fiona Scott Morton, die viele Jahre als Beraterin von Apple und Amazon gearbeitet hat, zu ihrer Chefökonomin zu machen, hat im EU-Parlament und bei französischen Politikern wie deren Regierung, scharfe Proteste hervorgerufen. Die deutsche Politik blieb bezeichnenderweise still. Auch die deutschen Medien blieben völlig stumm, bis ein Protestbrief aus dem EU-Parlament an die Kommission öffentlich wurde.

Eines der schwierigsten und wichtigsten laufenden und künftigen Themen der EU-Wettbewerbspolitik ist der Umgang mit den amerikanischen Plattform- und IT-Giganten, die monopolähnliche Stellungen haben und sich nicht an europäische Gesetze, insbesondere zum Datenschutz halten und hier fast keine Steuern zahlen.

Die Berufung von Scott Morton kommt in diesem Umfeld einem Vasallentreuschwur der EU gegenüber den USA gleich, alles zu tun, um der Leitmacht in ihrem Abwehrkampf gegen China um die IT-Vorherrschaft auf der Welt zu helfen.

Den Hintergrund habe ich in einem längeren Stück Ende Juni erläutert, insbesondere, dass es sich dabei um ein Ziel allerhöchsten Ranges für die US-Regierung handelt und deshalb unbedingte Treue und Unterstützung von den „Verbündeten“ eingefordert wird.

Geopolitik der Digitalisierung: Wie der Abwehrkampf der USA gegen China eine toll gewordene Welt erklärt
Hören | 26. 06. 2023 | Wer verstehen will, was derzeit auf der großen Weltbühne, in Europa und in Deutschland vorgeht, sollte die Berichte der National Security Commission on Artificial Intelligence (NSCAI) und des Special Competitive Studies Project (SCSP) der USA kennen. Jeweils unter der Leitung des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt haben diese Kommissionen im Auftrag von US-Regierung und Parlament aufgeschrieben, was nötig ist, um die globale Vorherrschaft der USA gegen China zu verteidigen. Die Umsetzung erleben wir gerade.

Hier ein einschlägiger Auszug daraus:

„Wer verstehen will, was derzeit auf der großen Weltbühne, in Europa und in Deutschland vorgeht, sollte die Berichte der National Security Commission on Artificial Intelligence (NSCAI) und des Special Competitive Studies Project (SCSP) der USA kennen. (…) Der Bericht des SCSP lässt keinen Zweifel an der zentralen Rolle der IT-Konzere und Plattformen für die staatliche Machtausübung: „Die Art und Weise, wie Staaten die Macht ihrer Technologieunternehmen für sich nutzen können, ist heute ein wesentliches Element der Staatsführung in der Geopolitik, bei der Gestaltung der internationalen Ordnung und im grundlegenden systemischen Wettbewerb zwischen offenen Gesellschaften und geschlossenen Systemen.“

Die digitalen Plattformen nennt der SCSP-Bericht „Instrumente der Staatskunst, die zu mächtig sind, um sie zu ignorieren“. Denn die Plattformen hätten die Macht zu entscheiden, welche Information geteilt wird, wie schnell und wie „laut“ sie verstärkt wird und wer Zugang dazu hat. „Da sie Unmengen Daten besitzen, können digitale Plattormen helfen, tiefe Einsichten über globale Trends zu gewinnen, ebenso wie über einzelne Individuen“.

Wer die Plattformen kontrolliert, wisse Bescheid über alles, was vorgeht in der Welt und kontrolliert die Menschen, und zwar nicht nur digital, denn: „In dem Maße, wie physische, digitale und biotechnische Technologien in der nächsten Dekade verschmelzen, wird der Wettbewerb der Plattform-Staatskunst sich ebenfalls über die digitale Welt hinaus ausbreiten.“

Wer sich fragt, warum die amerikanischen Internetplattformen und IT-Konzerne kaum behelligt von europäischen Datenschutz- und Steuerregeln fast machen dürfen, was sie wollen, findet hier jenseits der vordergründigen Erklärungen einen tiefer liegenden Grund.“

In den Berichten kann man auch nachlesen, wie unzufrieden die US-Regierung damit ist, dass die Europäer versuchen, die IT-Plattformen der USA zu regulieren und damit deren gemeinsamen Kampf mit den Plattformen gegen China behindern. Aus meinem Bericht:

„Wenn die Konzerne der US-dominierten Sphäre durch Datenschutz daran gehindert werden, bestimmte Anwendungen zu entwickeln und auszurollen, dann machen sie weniger Geschäft und bekommen weniger Daten als die chinesischen Konzerne. Und das darf nicht sein. Denn die globale Dominanz der USA ist allemal wichtiger als Datenschutz. Also bloß keine „übermäßig restriktiven regulatorischen Regime als Antwort auf KI-Skepsis und Angst“ aufsetzen. Weder in den USA selbst, noch bei den Alliierten. Die Bestrebungen der EU, KI durch ein KI-Gesetz zu regulieren und dabei besonders problematische Anwendungen auch zu verbieten, wird in dieser Richtung schon als innovationsfeindlich eingestuft, wegen zu hoher Kosten der Regelbefolgung. (…) Wir (sollten) laut SCSP lieber nur so viel regulieren, dass Exzesse vermieden werden, die die Öffentlichkeit zu sehr gegen KI aufbringen und zu einer Gegenbewegung in Richtung rigider Überregulierung führen könnten. Ideal sei die Nationale KI-Strategie der Briten, die sich bisher weitgehend in Floskeln erschöpft. Mit anderen Worten: Die USA werden in Sachen KI-Regulierung nicht mit Europa kooperieren. Ihre Konzerne werden ungebremst mit der Entwicklung aller denkbaren Anwendungen fortfahren, und erst, wenn sich große Probleme mit hoher Öffentlichkeitswirksamkeit zeigen, wird reguliert.“

Angedeutet wird auch, wer sich darum kümmert, dass die Europäer mitmachen:

„Außerdem wurde ein Joint Artificial Intelligence Center (JAIC) von Militär und Geheimdiensten geschaffen. Dieses Gemeinsame Zentrum für Künstliche Intelligenz, hat unter anderem die Aufgabe, die Aktivitäten in dieser Richtung mit den US-Alliierten abzustimmen. (…) Ein Office of Technology Transition Initiatives (Büro für Technologiewende-Initiativen) im Außenministerium oder in dessen Entwicklungshilfeorganisation USAID soll daher laut SCSP mit Expertenteams im Ausland Partnerregierungen in Sachen Netzwerkarchitektur, Cybersicherheit und „digitale Freiheit“ beraten.“

Man fragt sich bei der Bewerbung von Scott Morton für ihre Beraterpostion bei der EU, was denn eine amerikanische Yale-Professorin mit sicherlich äußerst lukrativen Beraterverträgen mit Apple und Amazon dazu motiviert, sich um einen vermutlich deutlich schlechter bezahlten Job im nicht ganz so schönen Brüssel zu bewerben.

Mit dieser Berufung gibt die EU-Kommission nach der Bundesregierung ebenfalls jeden Anschein auf, souverän zu agieren.

Passend dazu hat die EU-Kommission vor einigen Tagen einen Beschluss veröffentlicht, wonach ihr mit der US-Regierung vereinbartes EU-US Data Privacy Framework einen angemessenen Datenschutz für in den US gespeicherte und verarbeitete Daten aus der EU gewährleiste, auch wenn alle Welt erwartet, dass diese offenkundig falsche Einstufung vom Europäischen Gerichtshof gekippt werden wird, wie zuvor schon die Vorgängerabkommen Safe Harbor und Privacy Shield.

Es ist nun einmal so, dass der CLOUD-Act der US-Regierung Zugang zu allen bei US-Unternehmen gespeicherten Daten garantiert und das nicht US-Bürger in den USA in solchen Fragen keinen nennenswerten Rechtsschutz genießen. Durch ihre wissentlich falschen Behauptungen in Sachen Angemessenheit des Datenschutzes, unter gezielter Nutzung der langen Dauer von Gerichtsverfahren dagegen, ermöglicht die Kommission es den US-IT-Konzernen und ihren Kunden über Jahrzehnte hinweg die europäischen Datenschutzvorschriften zu brechen.

Mein Fazit von Ende Juni gilt weiterhin:

„Die Machtverhältnisse sind so, dass die EU und erst recht Deutschland sich an diesen wenig aussichtsreich erscheinenden Kampf der USA um die Bewahrung ihrer globalen Dominanz beteiligen müssen. Aber je willfähriger das geschieht, und je weniger das öffentlich diskutiert und kritisiert wird, desto rücksichtsloser wird das auch gegen unsere Interessen vorangetrieben werden.“

Nachtrag (19.7.): Scott Morton zieht zurück

Am 19.7. informierte Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager per Twitter, das Fiona Scott Morton ihre Bewerbung aufgrund der Kontroverse um die beabsichtigte Berufung einer Nicht-Europäerin, zurückgezogen habe.

Martin Sonneborn schreibt dazu auf Twitter:

Während die Personalie Fiona Scott Morton in Frankreich in ganz großem Stil debattiert wurde – Zeitungen, TV-Runden, Wissenschaftler, ehemalige EU-Beamte, Oppositions- und Regierungspolitiker, Minister bis hin zum Staatspräsidenten – hatte die deutsche Presse ihren Standpunkt mal wieder von der Presseerklärung der Kommission abgepaust: normal, Expertin, bitte gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.

Deutsche Journalisten könnten mit Ihrem Heinrich Mannschen Welt- und Institutionenbild, in dem jede (noch so berechtigte) Kritik an den USA wie eine Gotteslästerung und jede (noch so berechtigte) Kritik an der EU-Kommission wie Majestätsbeleidigung behandelt wird, ganze Bibliotheksregale von „Lustigen Taschenbüchern“ füllen. Es obläge ihnen stattdessen, die Kommission wegen formal fehlerhafter Entscheidungen und mangelnder Vertretung europäischer Interessen zur Ordnung zu rufen.

Ein paar Kilometer weiter südlich hat Macron die Personalentscheidung nicht nur als „zweifelhaft“ und „bedenklich“ eingestuft, sondern auch seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass es doch kaum so lausig um Europas Akademiker stehen könne, dass man eine US-Amerikanerin rekrutieren müsse. (Da kennt er wohl Annalena Baerbock schlecht.) Er unterstütze nicht nur das Prinzip der strategischen Autonomie, das die Autonomie des Denkens einschließe, sondern auch das der Reziprozität, stelle allerdings fest, dass es einem Europäer per Gesetz untersagt sei, einen derart wichtigen Verwaltungsposten in den USA oder China zu übernehmen.

Derweil hat eine Reihe (hereingelegter, vgl. Tweet gestern) EU-Kommissare – der Franzose Thierry Breton, der Italiener Paolo Gentiloni, der Spanier Josep Borrell, der Luxemburger Nicolas Schmitt, die Portugiesin Elisa Ferreira – Frau vonderLeyen schriftlich aufgefordert, die Personalentscheidung rückgängig zu machen. Im Europäischen Parlament haben sich Abgeordnete aller Fraktionen ähnlich ausgesprochen – mit Ausnahme der Grünen, deren Ko-Fraktionsvorsitzender Philippe Lamberts seinen anfänglichen Protest aus unerfindlichen (und bestimmt auch anderen) Gründen zurückgezogen hat. LOL.

Die dänische Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager hat ihre Entscheidung gestern Abend vor dem EP „verteidigt“.

Das ritualisierte Frage-Antwort-Pingpong, dem sie gegenüber dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) des Europäischen Parlaments ausgesetzt war, beherrscht Vestager nach zehn Dienstjahren eigentlich im Schlaf – ebenso wie die Kunst, falls es eine ist, der wortreichen Inhaltsleere und des inhaltsreichen Schweigens. Ihren intendierten Zweck scheint die einstündige Veranstaltung dennoch verfehlt zu haben. „Vestagers Verteidigung mit Halbwahrheiten überzeugt nicht“, notiert Le Monde, „zögernd“, „stockend“, immer wieder über ihre eigenen Worte „stolpernd“ habe sie von ihrem Zettel abgelesen.

Vor allem wirft Vestager mehr Fragen auf als sie beantwortet und schafft mehr Widersprüche als sie ausräumen kann. Und wo Transparenz hätte entstehen sollen, wurde gleich eine ganze Batterie von Nebelkanonen gezündet.

Knapp tausend Mal beruft sich Vestager auf Geheimhaltung, knapp zweitausend Mal findet sie ihre eigene Entscheidung richtig und über die verbleibende Zeit paraphrasiert sie schließlich beides (geheim!, aber richtig!), ohne die von den Ausschussmitgliedern gestellten Fragen auch nur ansatzweise zu beantworten.

Wir fassen wie folgt zusammen:

1) Da es an kompetenten Europäern für die Stelle gemangelt habe, habe sie sich für die Streichung der EU-Staatsangehörigkeitsvoraussetzung entschieden.

Wann immer Morton sich wegen ihrer (ziemlich zahlreichen) Interessenskonflikte werde zurückziehen müssen, würden kompetente Europäer das Ruder übernehmen.

(Ja, genau. Lesen Sie das ruhig zweimal.)

2) Die Liste der Interessenskonflikte wird von der Kommission derzeit noch noch bearbeitet.

Aber die Entscheidung, Morton einzustellen, ist bereits gefallen.

3) Die Liste der Interessenskonflikte von Fiona Scott Morton sei „vertraulich“ (?), unterliege der Geheimhaltung (?) und werde auch den Mitgliedern des Europäischen Parlaments nicht zur Verfügung gestellt (?).

(WTF?)

4) Morton habe keine Sicherheitsfreigabe erhalten.

Sie benötige auch keine, selbst wenn sie Zugang zu strategischen und vertraulichen Informationen erhalte, die für Ihr Heimatland (USA) von vorrangigem Interesse sind.

(Hä, was?)

5) Die Abschaffung des EU-Staatsangehörigkeitserfordernisses sei eine Ausnahme und werde nicht die Regel sein.

(Na, immerhin.)

Allen, die das mit dieser Ernennung verbundene Problem nicht erkennen konnten, möchten wir es durch Ersetzung der Parameter leichter machen. Es ist, als würde die EU einem russischen Berater von Gazprom die Schaltstelle der europäischen Gasmarktregulierung übergeben. Oder einem saudi-arabischen Vizescheich die Gestaltung der europäischen Ölversorgung. Oder Jeff Bezos die Hoheit über die Steuersätze Luxemburgs.

Unfassbar, dass die Kommission auf eine solche Idee überhaupt gekommen ist.

Bevor die Personalie auf dem heutigen Treffen der Kommissare (erstmals!) zur Sprache kommen konnte, hat Fiona Scott Morton ihren Verzicht auf den Posten mitgeteilt.“

Dazu Sonneborn ausführlich in einem Gastbeitrag in der Berliner Zeitung.

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Die Bundesregierung wahrt nicht einmal mehr den Anschein, ein souveränes Land zu regieren
11. 07. 2023 | Einer Regierung, die ihr Land von einem großen Thinktank des „Verbündeten“ als Vasall bezeichnen lassen muss, die bedingungslos diejenigen unterstützen muss, die Terroranschläge auf die eigene Energieinfrastruktur verüben, die sich von Botschaftern anderer Länder wie Schuljungen abkanzeln lassen muss, die sich ohne Gegenwehr die eigene Industrie wegnehmen lässt und nichts Verwerfliches mehr an Uranmunition und Streubomben finden darf, bleibt nicht einmal mehr der Anschein von Souveränität.

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