Leserbrief und Antwort | 28. 01. 2024 | Der Pädagoge Bernd Schoepe hat für diesen Blog bereits zwei vielbeachtete Gastbeiträge geschrieben (siehe „Mehr“). Er gehört zu den Initiatoren des im Aufbau befindlichen Netzwerks für die pädagogische Aufarbeitung der Corona-Krise*. In diesem Gastbeitrag charakterisiert er die Zeit der Corona-Maßnahmen und der ausbleibenden Aufarbeitung als eine Ära der Gegenaufklärung.
Bernd Schoepe.* Für die Beschreibung unserer Gegenwart als „Ära der Gegenaufklärung“ spricht besonders der Beitrag, den die Wissenschaften während der Pandemie zur technokratischen Steuerung der Bevölkerung geleistet haben. Dabei vollzog sich ein Bruch mit dem modernen Wissenschaftsverständnis, wie es sich auf der Grundlage des Rationalismus, ausgehend von den Prämissen und Prinzipien der Aufklärung und ihres emanzipatorischen Geistes entwickelt hat. Dieses aufklärerische Wissenschaftsverständnis hatte die Vernunft und Logik auch zur Grundlage ihrer moralischen Prinzipien und ethischen Urteile gemacht. Mit der Befreiung des Denkens aus den dogmatischen Fesseln wurde auch das ethische System revolutioniert, da für die Ethik tatsächlich dieselben emanzipatorischen Tugenden und Intentionen in Anspruch genommen wurden wie für den erwachten freien Forschergeist.
Für die Außerkraftsetzung von Grundrechten durch Verordnungen im Rahmen der Notstandsgesetzgebungen des sogenannten Bevölkerungsschutzgesetzes in den verschiedenen Fassungen, die zwischen 2020 bis 2023 Gültigkeit hatten, wurden die Wissenschaften von der Politik instrumentalisiert. Denn erst die Wissenschaften konnten der Politik eine Legitimation für das beispiellos übergriffige Handeln des Staates – der Arzt Gunter Frank spricht in diesem Zusammenhang von einem „Staatsverbrechen“ – verschaffen. Und sie sollten ihr diese Legitimation liefern.
Was jedoch dafür vorgebracht wurde, war Form und Inhalt nach antiwissenschaftlich, sogar wissenschaftsfeindlich, weil dem wissenschaftlichen Streit par ordre du mufti Enthobenes. Diese paradox anmutende Wissenschaftsfeindlichkeit im Inneren der Wissenschaft, die sich in der Corona-Zeit deutlich herausbilden und zeigen sollte, wird die Gesellschaft noch eingehender beschäftigen müssen. Zumindest dann, wenn man nicht in einem digital überwachten „Nanny-Staat“ leben möchte, der die Bürger durch wissenschaftliche Expertokratie in allen Lebensbereichen bevormundet, kontrolliert und steuert. Die totalitären Züge eines solchen Nanny-Staates zeichnen sich nicht nur bei der Pandemie-Politik, sondern auch bei anderen Themen wie der Klima-Politik immer deutlicher ab.
Mit dieser missbräuchlichen Indienstnahme der Wissenschaften durch die Politik fielen beide Systeme, das politische und das wissenschaftliche, hinter die Aufklärung zurück.
Und die Pädagogik? Sie hat das böse Spiel einfach mitgespielt. Die wahrheitswidrige Darstellung der Wissenschaft als quasi monolithischer Block, der sich in der politischen Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus einig weiß – wurde von oben zentralisiert auf die Ebene von Schulen, Hochschulen, Unterricht und Lehre, in die Hörsäle und Klassenräume der Republik durchgereicht. Sie hatte bestürzend absurde Folgen für die Lehre: Abweichendes Denken wurde unter Strafe gestellt, Häresie, Ketzertum – mittelalterlich anmutende Dinge, die ausgestorben und begraben und dank der Aufklärung überwunden schienen – erlebten ein seltsames Revival. Der offene wissenschaftliche Diskurs wurde schwer beschädigt.
Schlimmer noch: Bis zum heutigen Tag ist in der schulischen und in der universitären Lehrerschaft kein Reflexionsprozess in Gang gekommen, keine Besinnung eingekehrt. Noch immer ist den Lehrern kein Licht aufgegangen, wie folgenschwer ihr Versagen in der Corona-Krise war. Sie fragen nicht, welche Pathologien die wichtigsten Instanzen der sogenannten „Wissensgesellschaft“ befallen haben und wie das geschehen konnte.
Solange sich daran nichts ändert, muss beharrlich an diese pathologischen Prozesse, an das Versagen und an dessen schlimme Folgen erinnert werden. Sonst wächst durch die zunehmende Verdrängung die Gefahr, dass sich wieder so etwas – oder vielleicht sogar noch etwas Schlimmeres – ereignet.
Der Politikwissenschaftler und Kindheitsforscher Michael Klundt, Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal, hat in Interviews an einige Facetten des (nicht nur) pädagogischen Fehlverhaltens aus den letzten Jahren erinnert:
„‚Schwarze Pädagogik‘ (…) war leider allzuoft an der Tagesordnung, innerhalb und außerhalb der Schule. Dies nun weitgehend zu verdrängen oder nicht wahrhaben zu wollen und eine (selbst-)kritische Aufarbeitung zu verweigern, ist wirklich skandalös. Massenhafte Berichte von Eltern, Lehrern und Kindern über Beschämungen und Bloßstellungen im Klassenraum, im Lehrerzimmer, auf dem Schulhof, dem Schulweg. Unter der Maske an Atemnot leidende Schüler, die nicht einmal ans offene Fenster zum Durchatmen gelassen, sondern vor versammelter Klasse der Lächerlichkeit preisgegeben wurden. Entsetzliche Szenen auf Schulhöfen, wo den unter offenem Himmel in ihr Pausenbrot hineinbeißen wollenden Schülern befohlen wurde, sich dazu auf den Boden zu setzen. Ausgegrenzte nicht-getestete, vor der versammelten Klasse ekelhaft vorgeführte nicht-geimpfte Kinder. Ein Fanatismus nach dem Schema: ‚Ihr seid eine Gefahr für mich‘ (…). Die Kinder als angebliche Viren-Treiber. Böhmermanns Behauptung, die Kinder seien während Corona das, was die Ratten während der Pest gewesen seien, diese für mich volksverhetzende Kinder/Ratten-Analogie wirkte in alle Poren der Gesellschaft.“
Klundt, der als einziger deutscher Wissenschaftler eine Professur für Kinderpolitik innehat, war schon im September 2020 als vor die Kinderkommission des Deutschen Bundestages geladener wissenschaftlicher Sachverständiger zu dem Ergebnis gekommen, dass im Corona-Krisenmanagement „Kinderrechte weitgehend ignoriert wurden und Bund und Länder ihre Verpflichtung zu Schutz, Beteiligung und Fürsorge für 13 Millionen Kinder nicht nachgekommen sind“.
Seine Kritik bringt es auf den Punkt:
„Kinder wurden von der Politik wie Objekte behandelt“,
Klundts Gutachten führten zu keinerlei Veränderungen zum Besseren im Interesse der Kinder und Jugendlichen, da die Politik sich beratungsresistent zeigte. Seine Worte verhallten genauso folgenlos wie die aller anderen Mahner und Kritiker der Maßnahmenpolitik. Selbst die Great Barrington-Erklärung, die im Oktober 2020 in kürzester Zeit von über 30.000 Wissenschaftlern und Medizinern weltweit unterzeichnet wurde, und die sich in der Rückschau wie eine leider wahr gewordene Prophezeiung liest, wurde in den Altmedien wie ein rotes Tuch behandelt – man berichtete einfach nicht darüber.
Dabei wiesen führende Epidemiologen für Infektionskrankheiten und Wissenschaftler aus dem Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens mit dieser Erklärung auf Gefahren hin, die angesichts einer rigiden, die gesamte Bevölkerung durch Lockdowns und Grundrechteentzug masssiv treffenden und in Mitleidenschaft ziehenden Pandemiepolitik doch recht nahe lagen. Die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen hätte spätestens nach dem ersten Lockdown für alle evident sein müssen. Denn schon im Frühjahr 2020 hatte es sich herausgestellt, dass diese Virus-Infektion nur für alte Menschen mit multiplen Vorerkrankungen wirklich bedrohlich war. In der Erklärung wird gewarnt:
„Die derzeitige Lockdown-Politik hat kurz- und langfristig verheerende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit. Zu den Ergebnissen, um nur einige zu nennen, gehören niedrigere Impfraten bei Kindern, schlechtere Verläufe bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weniger Krebsvorsorgeuntersuchungen und eine Verschlechterung der psychischen Verfassung – was in den kommenden Jahren zu einer erhöhten Übersterblichkeit führen wird. Die Arbeiterklasse und die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft werden dabei am schlimmsten betroffen sein. Schüler von der Schule fernzuhalten, ist eine schwerwiegende Ungerechtigkeit. Die Beibehaltung dieser Maßnahmen (…) wird irreparablen Schaden verursachen, wobei die Unterprivilegierten unverhältnismäßig stark betroffen sind.“
Angsterzeugung wider wissenschaftliches Denken
Im Zusammenhang mit diesen und weiteren eingetroffenen Warnungen der Renegaten und Ketzer aus der Wissenschaft muss grundsätzlich die Rolle der Wissenschaften befragt und reflektiert werden. Dabei gilt zu bedenken, welche zentrale Bedeutung die Lehrer für den Wissens- und Wissenschaftsprozess haben. Denn auch in den Schulen wurden bei Corona rationale und wissenschaftlich-didaktische Prinzipien wie das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot über Bord geworfen.
Beim Überwältigungsverbot und dem Kontroversitätsgebot handelt es sich um Prinzipien und Maximen pädagogischen Handelns, auf die man sich als die Grundsätze politischer Bildungsarbeit im Unterricht verständigt hat. Alle Lehrerinnen und Lehrer sollten sich selbstverpflichtend daher eigentlich an sie halten. Das Überwältigungsverbot lautet:
„Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern.“
Das Verbot wurde in der Corona-Krise fast durchgängig gebrochen. Mit den Mitteln der Angst und Angsterzeugung wurde jeder rationale Diskurs über die tatsächliche Bedrohungslage durch das SARS-CoV-2-Virus im Keim erstickt und während der gesamten Zeit nicht zugelassen. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht nur (kontra-)faktisch von der „Pandemie“ überwältigt worden, sie sollten sogar ausdrücklich durch sogenannte Furchtappelle überwältigt und zur Impfung getrieben werden. Das wissen wir aus ministeriellen Strategiepapieren und kürzlich zur Veröffentlichung frei geklagten Protokollen des Corona-Expertenrates.
Da trotz allem aber mindestens ein Viertel der Bevölkerung vom offiziellen Pandemie-Narrativ nicht überzeugt werden konnte, blieb das Thema kontrovers und hätte im Unterricht auch so behandelt werden müssen. Denn das Kontroversitätsgebot besagt:
„Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.“
Die Missachtung des Kontroversitätsgebots ging so weit, dass Lehrerinnen und Lehrer, die in ihrem Unterricht den Corona-Alarmismus in Frage stellten und die Maßnahmenpolitik problematisierten, denunziert und mit disziplinarischen Maßnahmen bis hin zur Suspendierung verfolgt wurden.
Das geschah, ohne dass ihre Kollegen sich schützend vor sie gestellt hätten. Im Gegenteil: Pauschal diffamierte die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Kritiker als „antisemitische Corona-Leugner“, „Volksverhetzer“ und „Verschwörungsideolog*Innen“. Bis heute hat keiner der GEW-Oberen sich für diese haltlosen Unterstellungen, Beschimpfungen und Beleidigungen entschuldigt.
So steht das Versagen der Lehrer in der Corona-Krise stellvertretend für den Komplettausfall des wissenschaftlichen Denkens insgesamt – und stellt zugleich einen besonders gravierenden und folgenreichen Fall dafür dar, da Lehrer ihre Schüler doch gerade zum wissenschaftlichen Denken – das heißt vor allem zur methodischen und produktiven Skepsis befähigen sollen.
Damit hat die Corona-Krise zugleich eine tiefe Krise der Pädagogik offenbart. Eine Krise, die noch über Lehrermangel, die Migrationsproblematik in den Schulen, PISA-Hiobs-Testergebnisse, eine wissenschaftlich schwammige „Kompetenzorientierung“, und sogar über die verdummende Schul-Digitalisierung hinausgeht.
Der Aufarbeitung des Geschehens dieser letzten drei Jahre sollte man sich mit den wahrhaft humanen und biophilen, d.h. den nach Erich Fromm lebensfreundlichen und dem Leben dienlichen Mitteln und Einsichten der Aufklärung endlich stellen.
- Bernd Schoepe und das Netzwerk: Der Autor gehört mit Rechtsanwalt Sebastian Lucenti, Stefanie Raysz, Sprecherin von „Schule bleibt offen“, Vertretern der Jugendbewegung STAUF und dem Professor für Kinderpolitik Michael Klundt zu den Initiatoren des Netzwerks für die pädagogische Aufarbeitung der Corona-Krise. Das im Aufbau befindliche Netzwerk will die Aufklärung über die Irrtümer und Folgen der Corona-Politik vorantreiben. Insbesondere will das Netzwerk Impulse für die überfällige Debatte über die Gründe für das multiple Versagen des pädagogischen Bereiches geben, Betroffenen Rat und Hilfe zukommen lassen und den geschädigten Jugendlichen endlich Gewicht und Stimme im öffentlichen Diskurs geben.