Der Fachkräftemangel aus der Sicht eines Hauptschullehrers

30. 01. 2024 | Die Betriebe klagen über Fachkräftemangel. Die Politik bemüht sich nach Kräften, diesem durch Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte abzuhelfen. Gleichzeitig fehlen vielen heimischen Jugendlichen, gerade auch denen mit Migrationshintergrund, Fähigkeiten und Antrieb, eine Ausbildung zu absolvieren und Fachkraft zu werden. Ein Hauptschullehrer beschreibt die Situation der Schüler, die Ursachen ihrer Probleme und mögliche Abhilfen durch Schule und Betriebe. Er tut es anonym, weil die Schulverwaltungen es nicht mögen, wenn man aus dem Nähkästchen plaudert.

Gastautor. Viele Jugendliche leiden an medialer Überreizung, verminderter Aufmerksamkeitsspanne, Mangel an real-persönlichem Austausch. Sie leiden an reduzierter und verrohter Sprache durch alle sozialen Schichten („du Opfer…bist du behindert?“). Sie sind schnell in gefühlter Kränkung („Ehre verletzt“) und zeigen wenig Wissen über den Alltag jenseits ihrer Blase. Ihre Welt spaltet sich zunehmend in physisch, also Familie, Schule, Essen, Konsum, und digitales Erleben per soziale Netzwerke und Computerspiele. Seit den Coronamaßnahmen mit ihrem starkem Schub für die Digitalisierung und Entsozialisierung haben sich diese Leiden verstärkt.

In gruppendynamischen Prozessen (z.B. Teamtraining / Bewerbertraining), zeigen sich abnehmende Fähigkeiten in der Gruppe zu agieren und deutlich reduzierte Begeisterungsfähigkeit. Emotional-soziale Reduktionen, wie man sie vor 20 Jahren teilweise noch als pathologisch interpretiert hätte, sind häufig, etwa beim Bildertest, der das Erkennen von Emotion über Gesichtsausdrücke prüft.

In den Schulen und Schulverwaltungen erprobt man bereits Möglichkeiten, wie man die nervösen, überreizten Kinder mit Schlafdefizit und Zuckerrausch zu Unterrichtsbeginn so weit beruhigen kann, dass Informationsaufnahme möglich wird.

Besonders in Hauptschulen ist der Migrantenanteil hoch. Menschen diverser Kulturen, oft mit traumatischen Erfahrungen wie Flucht, Mangel, Krieg und Gewalt, die sich viel zu früh mit mangelhaften Sprachkenntnissen integrieren sollen in eine ihnen sehr fremden Kultur mit wenig sozialem Entgegenkommen. In Deutschland aufgewachsene Schüler stammen oft aus Familien mit sozialen und finanziellen Nöten.

Erzieher, Eltern, Lehrer und Ausbilder wissen zu wenig über Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen, besonders weil deren Freizeitgestaltung heute oft in den virtuellen Raum ausgelagert wird. Helfernetze werden zunehmend ausgedünnt.

Nach einer unter solchen Bedingungen absolvierten Schulzeit soll eine Ausbildung in Handwerk, Industrie oder Dienstleistungssektor beginnen. Dafür müssen die Jugendlichen sich bewerben. Das scheitert oft schon an den Fähigkeiten der Schüler sich konsequent, mit ausreichend Vorlauf zu kümmern, mit Firmen in Kontakt zu treten, oder überhaupt eine Idee von einem für sie interessanten Berufsfeld zu entwickeln.

Sie scheitern am Erstellen von Bewerbungen, an kompliziert aufgebauten Homepages der potenziellen Ausbildungsbetriebe, unübersichtlichen Kontaktformularen. Sie scheitern auch an überzogenen Anforderungen:

Wenn etwa für Erzieher ein Realschulabschluss oder Hauptschulabschluss mit abgeschlossener Berufsausbildung gefordert wird, Schornsteinfeger gute Noten in Mathematik, Technik, Werken, Naturwissenschaften, Deutsch haben sollen. Ist ein Bewerber in einem Bereich mangelhaft (z.B. wegen Lese-Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche), hat er keine Chance im Bewerberverfahren, selbst wenn er z.B. beste Eignung für die Erziehertätigkeit hat. Doch befähigen Top-Noten auch für alle Tätigkeiten? Wäre es nicht sinniger Eignung und Fähigkeiten ganzheitlicher zu prüfen?

Von Eltern und arbeitenden Bekannten, bekommen die Jugendlichen häufig das Bild von der Maloche vermittelt, die einem alle Energie raubt. Youtube oder TikTok zeigt demgegenüber Menschen, die mit Film und Gerede scheinbar ohne Anstrengung reich werden. Wie viel Zeit und Aufwand Influencer investieren ist ihnen nicht klar. Warum sollen gerade sie körperlich hart arbeitende HandwerkerInnen werden. Zumal die für Hauptschüler (mit Mühe) erreichbaren Berufe nicht gerade gut vergütet werden, (Gerüstbauer/Elektriker/Reinigungsfachkraft ca. 1.800€ Netto, Lageristen und Friseure weniger; Hotel- und Gastrobereich ca. 1.500€ Netto) oder bei mäßiger Bezahlung körperlich/mental anstrengend und nicht selten mit rassistischen Anfeindungen verbunden sind (Kranken-/AltenpflegerInnen, ca. 2.100-2.800€ Netto im Schichtdienst; Berufskraftfahrer, Einstiegsgehalt mit Spesen ca. 1.800€ Netto),

Die Jugendlichen formulieren gleichzeitig hohe Ansprüche an ihren beruflichen Alltag. Die Tätigkeit soll zu ihrem gelebten Alltag und ihren Vorstellungen passen. „Ich seh mich da nicht“ wird oft geäußert wenn Tätigkeitsprofile vorgestellt und Praktika nachbesprochen werden. Der Wille etwas mitzutragen, was schon in der Vorstellung Unlust erzeugt, ist gering ausgeprägt.

Dem gegenüber stehen häufig Betriebe die z.B. nicht auf Anschreiben reagieren oder mit vorgefertigten Abfertigungsschreiben, ungern Praktikumsplätze vergeben, schwer zu kontaktieren sind, Arbeitsalltag in abstrakte Begriffe verpacken und wenig zur Berufsfindung beitragen. Schlüsselqualifikationen werden vorausgesetzt, die den Jugendlichen weitestgehend fehlen (Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Regelakzeptanz, gutes Deutsch in Rede und Schrift, mathematische und PC-Grundkenntnisse, Aufmerksamkeit, ein gutes Gedächtnis, oder Denken in größeren Zusammenhängen, etwa für Tätigkeiten im Bereich Gebäudetechnik / Industrieanlagenbau).

Diese Fähigkeiten werden in der Schule kaum gefördert, es herrscht das Ritual „Bulimielernen“ (kurzfristig Auswendiglernen von Fakten, Formeln, Sachverhalten, Wissen etc. ohne tieferes Verständnis und Langfristigkeit, s.a. Film „Bildungsgang“).

Die Jugendlichen artikulieren auch ein hohes Maß an Selbstbestimmungswünschen (daher das Idol des scheinbar selbstbestimmten Youtubers / Infuencers). Die Firmen haben noch nicht verstanden, dass sie in dieser Situation um die zukünftigen Fachkräfte werben müssen, Arbeits(-um-)felder schaffen sollten, die attraktiv für diese jungen Menschen sind.

Die Betriebe profitierten Jahrzehnte von einer guten grundständigen Schulbildung. Doch das System Schule wurde in den letzten 30 Jahren, trotz vieler wissenschaftlicher Erkenntnisse und reformpädagogischer Ansätze, kaum entwickelt, sondern mit praxisfernen Inhalten verstopft.

Unterdessen haben die akademisierten und digital gestützten Entwickler in den Firmen extrem vielfältige Abläufe entwickelt. Ausbildungen wurden in vielen Bereichen generalisiert, Ausbildungsbereiche zusammengelegt und die Inhalte der jeweiligen Lehre umfangreicher.

So muss zum Beispiel ein Bergmann (Berg- und Maschinentechniker) heute untertage komplexe Maschinen und Automaten aufbauen, programmieren, steuern und warten (Bedienung eines 3-D-Druckers ist Alltag). Der Handwerker ist für seinen Chef jederzeit per Handy erreich- und dirigierbar, während er mit seinem Laservermessungsgerät die ideale Achse für die Anbringung der Spezialdübel zum Montieren der Wärmepumpen-Steuereinheit anpeilt. Ein Zweiradmechaniker repariert nun komplexe Fahrräder, mit Steuergeräten und Einspritzanlagen bestückte Motorräder und Fahrzeuge mit E-Antrieb (Steuerung, Akku, Regler).

Um ihnen zu helfen, diese oft mühsam zu erlernende Vielseitigkeit der Tätigkeiten anzunehmen, trotz der jahrelang schulisch vermittelten Erfahrung, das man eh nicht durchblickt, sondern sich irgendwie durchhangelt, müssten die Betriebe die Jugendlichen begeistern, ihnen entgegen kommen, ihnen das Gefühl vermitteln an ihnen interessiert zu sein, Orientierungszeiten anbieten. Die DB bietet zum Beispiel ein bezahltes Orientierungsjahr für alle Tätigkeitsbereiche. Sie müssten in die Ausbildung von Lern- und Teamfähigkeit investieren, sich fachlich kompetentes Personal heranbilden, auch mit Hilfe von Pädagogen (nicht verwechseln mit eher didaktisch geprägten LehrerInnen).

Die Unternehmen sollten nicht warten bis das träge, staatlich über- und durchverwaltete System Schule sich ändert. Vielmehr sollten sie die Erfahrung vermitteln, dass Arbeit Bereicherung, Freude, Sozialleben, Entfaltung bedeuten kann. Menschen müssen sich wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen, sich einbringen können und angemessen entlohnt werden. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sind nötig um dem vielseitigeren Menschen entgegen zu kommen. Untersuchungen zeigen, dass Mitarbeiter dann weniger Gefahr laufen in das Modell „Dienst nach Vorschrift“ abzurutschen.

Mundpropaganda ist weiterhin die beste Werbung und im negativen Sinne die beste Möglichkeit um nur jene Mitarbeiter zu bekommen, die nehmen müssen, was sie bekommen können und dann mit entsprechend geringer Motivation zu Werke gehen.

Bildungsvermittlung in Schulen und Betrieben muss anders gestaltet und der digitalisierten Sucht begegnet werden. Der Fokus sollte auf die Potenziale der Jugendlichen gerichtet, das gemeinschaftliche Verständnis gefördert werden, zum Beispiel über Potenzialanalysen und Teamtrainings. Es gibt im Lehrplan noch keine Zeiten in denen LehrerInnen die Stärken und Fähigkeiten der Schüler jenseits des Lehrplanes kennenlernen.
Mit solchen Reformen wäre es ohne weiteres möglich, in Deutschland die Fachkräfte heranzubilden, die unsere Gesellschaft braucht. Das Importieren ausländischer Fachkräfte, die für Integration und Sprache viel Investment benötigen, ist keine Lösung sondern Augenwischerei. Diese Fachkräfte fehlen dann in ihren Heimatländern, während das heimische Potenzial in Sozialhilfesystemen und niedrigqualifizierten Helferjobs gammelt und sich dadurch soziale Spannungen aufbauen.

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