Vor Bundesratsabstimmung zum Infektionsschutzgesetz: RKI lässt Einschätzung der Gefährdung durch Corona als „hoch“ stillschweigend verschwinden

19. 09. Nachtrag mit Antwort RKI | 16. 09. 2022 | Seit zwei Wochen ist in den Wochenberichten des Robert-Koch-Instituts der entscheidende Satz kommentarlos entfallen, es schätze „die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung als hoch ein“. Das Stillschweigen der Behörde über die geänderte Lageeinschätzung dürfte dazu dienen, die Regierung mit ihren neuen Oktober-bis-Ostern-Corona-Regeln nicht bloßzustellen. Das geänderte Infektionsschutzgesetz steht heute im Bundesrat zur Beratung an. Die Zustimmung der Ländervertretung wackelt.

Bis zum 1.9. stand in den Wochenberichten des RKI seit 5. Mai unter

„1 Epidemiologische Lage in Deutschland
1.1 Zusammenfassende Bewertung der aktuellen Situation“

am Ende der Satz (Fettung im Original):

„Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung durch COVID-19 für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt weiter als hoch ein.“

Vor 5. Mai wurde die Gefährdung an gleicher Stelle als „sehr hoch“ bezeichnet.

In den Wochenberichten vom 8.9. und vom 15.9. hat sich der Text des Abschnitts nicht wesentlich geändert, aber der wichtige abschließende Satz, ohne den gravierende Freiheitseinschränkungen für die Bevölkerung kaum noch zu rechtfertigen sind, wurde kommentarlos und ersatzlos gestrichen. Die Bedrohungslage wurde nicht etwa heruntergestuft, das RKI äußert sich im einschlägigen Abschnitt des Wochenberichts einfach gar nicht mehr dazu.

Auf den Informationsseiten des RKI im Netz zum Coronavirus heißt es unter „Risikobewertung zu Covid-19“ allerdings weiterhin:

„Das Robert Koch-Institut schätzt die derzeitige Gefährdung durch COVID-19 für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als hoch ein.“

Als Stand (letzte Aktualisierung) der Information ist dort der 29.06.2022 angegeben.

Misstrauisch gemacht durch zielgenaue Terminierungen von Einschätzungsänderungen des RKI, etwa bei der Dauer des Genesenenstatus, fragt man sich unwillkürlich, wann die Gesundheitsminister Karl Lauterbach unterstellte Behörde wohl Gelegenheit finden wird, ihre Seite mit der Risikoeinschätzung zu aktualisieren. Vielleicht am Montag, wenn die erste Beratung im Bundesrat gelaufen ist?

In einer ersten Reaktion auf eine telefonische Anfrage verwies eine Sprecherin des RKI darauf, dass weiter vorne auf Seite 1 im Wochenbericht, dort wo auf andere Veröffentlichungen des Instituts hingewiesen wird, auf die „aktuelle Version“ der Risikobewertungsseite des RKI verlinkt werde. Der entsprechende Absatz auf Seite 1  lautet:

„Unter dem Link www.rki.de/inzidenzen stellt das RKI werktäglich die tagesaktuellen Fallzahlen und Inzidenzen (einschließlich des Verlaufs nach Berichtsdatum) nach Landkreisen und Bundesländern zur Verfügung. Werktäglich aktualisierte Trendberichte relevanter Indikatoren stehen ebenfalls zur Verfügung. Des Weiteren bietet SurvStat@RKI die Möglichkeit, übermittelte COVID-19-Fälle sowie andere nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) meldepflichtige Krankheitsfälle und Erregernachweise individuell abzufragen. Die aktuelle Version der Risikobewertung findet sich unter https://www.rki.de/covid-19-risikobewertung.“

Das Wegfallen des Satzes zur hohen Gefährdung der Bevölkerung in den Wochenberichten habe vermutlich keine besondere Bewandtnis sagte die Sprecherin auf Nachfrage.

Eine telefonisch vereinbarte schriftliche Anfrage, um eine abgesicherte Antwort zu bekommen, läuft seit Freitagvormittag. [Antwort unten im Nachtrag]

Nachtrag (11:50 Uhr): Bundesrat stimmt zu

Nach dem Bundestag stimmte noch am Vormittag auch der Bundesrat dem geänderten Infektionsschutzgesetz zu. Einem Bild-Bericht zufolge versprach die Bundesregierung dafür per Protokollnotiz, die besonders scharfen Regeln für Schüler aus dem Gesetz zu streichen. Bundesweit vorgeschrieben werden FFP2-Masken in Kliniken, Pflegeheimen und Arztpraxen. Das bedeutet zum Beispiel, dass Reha-Sport in Rehabilitationskliniken mit den besonders dichten Masken stattfinden muss, was wohl gesundheitsschädlich ist. In Pflegeheimen und Kliniken muss außerdem vor dem Zutritt ein negativer Test vorgelegt werden.

Auch in Fernzügen gilt weiter Maskenpflicht, künftig sogar FFP2-Maskenpflicht, wobei nur noch für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren eine einfache OP-Maske reicht. Nach Arbeitsschutzrecht wäre das Tragen von FFP2-Masken für eine Dauer, wie sie in Fernzügen vorkommt, nicht zulässig. In Flugzeugen fällt die Maskenpflicht weg, wohl weil Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck mit Entourage dabei erwischt worden sind, dass sie die bestehende Maskenpflicht auf Flug und Rückflug nach Kanada einfach ignoriert haben.

Möglich wird eine Maskenpflicht in Nahverkehrszügen und -bussen sowie in Innenräumen wie Geschäften, Restaurants und Veranstaltungsräumen. Die Länder können dort ab 1. Oktober Maske vorschreiben, müssen dies aber nicht. Klare Kriterien fehlen. Wer einen negativen Test vorzeigt, ist in der Gastronomie und bei Veranstaltungen zwingend von einer solchen Pflicht auszunehmen.

Nachtrag 19. 09.: RKI nimmt schriftlich Stellung

Heute kam die Antwort des RKI auf meine schriftliche Anfrage. Sie lautet:

„Die Risikobewertung des RKI zu COVID-19 gilt weiterhin. Die letzte Anpassung erfolgte am 29.6.2022. Der Wochenbericht wird wöchentlich angepasst. Gleich auf der ersten Seite des Wochenberichtes wird auf die Risikobewertung verwiesen. In der zusammenfassenden Bewertung kann aber nicht immer alles wiederholt werden, da wir in dem Kapitel versuchen, v.a. die aktuell wichtigsten Trend und Änderungen hervorzuheben. Änderungen der Risikobewertung werden an dieser Stelle natürlich wieder aufgegriffen.“

Mich kann diese Antwort nicht überzeugen. In einer Zeit, in der weltweit Corona-Maßnahmen aufgehoben werden und viele Länder die Pandemie für beendet erklärt haben, streicht die zuständige Behörde den Satz von der hohen Gefährdung der Bevölkerung ersatzlos aus ihrem Wochenbericht. Der Grund soll nicht etwa sein, dass man sich langsam und unauffällig davon verabschieden will, ohne die gegensätzliche Politik des vorgesetzten Ministers zu desavouieren, sondern lediglich, dass man auf einmal festgestellt hat, dass der Platz im Wochenbericht zu wertvoll ist, um diesen Satz jedes Mal hinzuschreiben. Dabei besteht der Wochenbericht des RKI zum allergrößten Teil aus Wiederholungen viel weniger wichtiger Sätze.

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