Cancel Culture: NDR wirft Ulrike Guérot aus Buchpreisjury

16. 09. 2022 | Am 14. September verkündete der Norddeutsche Rundfunk (NDR), dass die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot eines von zehn Mitgliedern der Jury des Sachbuchpreises des NDR sei. Noch am gleichen Tag oder am Folgetag lud der Sender sie aus, weil sich Kritiker von außen und die anderen Jury-Mitglieder gegen sie positioniert hätten.

In einem „Transparenzhinweis“ mit Datum 15.9. unter der mit Datum 14.9. geändert veröffentlichten Pressemitteilung schreibt der Sender (meine Fettungen):

„Die Jury des NDR Sachbuchpreises besteht auch in diesem Jahr aus renommierten Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Medien. Der NDR hat entschieden, auf die Mitarbeit von Prof. Dr. Ulrike Guérot in der Jury zu verzichten, anders als ursprünglich gemeldet. Somit besteht die diesjährige Jury unter dem Vorsitz von NDR Programmdirektorin Katja Marx aus neun Mitgliedern, u. a. Prof. Dr. Sandra Ciesek, Moderatorin Ninia La Grande und Prof. Dr. Nils Hoppe. Bei der Anfrage zur Mitarbeit in der Jury des NDR Sachbuchpreises ist nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass Ulrike Guérot sich mit öffentlichen Äußerungen von den Werten der wissenschaftlichen Gemeinschaft und des NDR Sachbuchpreises deutlich entfernt hat. Wir bedauern dieses Versehen. Um eine sachliche, diskursive aber auch im Rahmen eines demokratisch und wissenschaftlich abgesicherten Wertekanons kooperative Juryarbeit sicher zu stellen, verzichtet der NDR auf die Mitarbeit von Ulrike Guérot.“

Im Absageschreiben an Guérot heißt es außerdem:

„Unsere Juryarbeit basiert auf Werten der wissenschaftlichen Gemeinschaft und denen des NDR Sachbuchpreises. Die Jurymitglieder haben sich eindeutig positioniert und sehen Ihre öffentlichen Äußerungen deutlich von unseren Werten entfernt.“

In der DDR war eine ganz ähnliche Formulierung gebräuchlich: „Hat sich von den Werten unserer sozialistischen Gesellschaft enfernt“, sagte man damals, um das Canceln von Abweichlern vom rechten Gesinnungspfad zu begründen.

Guérot fragt sich mit einigem Recht auf Twitter, wer eigentlich den „abgesicherten Wertekanon“ verhandelt und festlegt.

Der Hinweis auf die eindeutige Positionierung der (anderen) Jurymitglieder durch den NDR und die nötige „kooperative Juryarbeit“ enthält die implizite Behauptung, dass alle oder fast alle Jurymitglieder nicht mit Guérot zusammenarbeiten und diskutieren wollten, welches die preiswürdigsten Sachbücher des Jahres sind. Bis sie das dementieren – und dann normalerweise auch aus der Jury austreten – darf man daher annehmen, dass den neun verbleibenden Mitgliedern jegliches Gespür für anständigen Umgang mit Andersdenkenden fehlt, sie eine offene Diskussion über Werte und Verdienste scheuen, und nur mit Leuten weitgehend gleicher Meinung in Austausch treten wollen. Inwieweit Menschen mit diesen Eigenschaften geeignet sind, die besten Sachbücher auszuwählen, ist die Frage.

Es sind dies laut NDR-Pressemitteilung:

Katja Marx ist Jury-Vorsitzende und seit Januar 2020 Programmdirektorin des Norddeutschen Rundfunks. Zum NDR wechselte sie vom Hessischen Rundfunk, wo sie zuletzt Hörfunk-Chefredakteurin und Leiterin des Informationsprogramms hr-iNFO war.

Hendrik Brandt war mehr als ein Jahrzehnt lang Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist jetzt als Chefredakteur in der Madsack Mediengruppe für Sonderprojekte verantwortlich.

Prof. Dr. Sandra Ciesek ist Medizinerin und Virologin, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt sowie Professorin für Medizinische Virologie an der Goethe-Universität. Dort ist sie maßgeblich an der Forschung zu SARS-CoV-2 beteiligt.

Adrian Feuerbacher ist Programmchef von NDR Info und seit Mai 2021 Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks. Er studierte in den 90er-Jahren Volkswirtschaft und Sozialwissenschaften, kam 1998 als freier Mitarbeiter zum Norddeutschen Rundfunk, wechselte 2003 ins ARD-Hauptstadtstudio in Berlin. 2013 übernahm er bei NDR Info die Leitung der Abteilung Politik und Aktuelles.

Prof. Dr. phil. Marie-Luisa Frick ist assoziierte Professorin am Institut für Philosophie an der Universität in Innsbruck. Sie absolvierte ein Diplomstudium der Rechtswissenschaften, ein Magisterstudium sowie ein Doktoratsstudium der Philosophie an der Universität Innsbruck.

Prof. Dr. Nils Hoppe ist Geschäftsführender Leiter des Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS) und Inhaber der Professur für Ethik und Recht in den Lebenswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte befinden sich u. a. an der Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Forschungsethik, Bioethik, Gesundheitsrecht und regenerativer Medizin.

Ninia LaGrande lebt und arbeitet in Hannover als Moderatorin, Autorin und Schauspielerin. Sie moderiert Formate vor der Kamera, auf der Bühne und am Podcast-Mikrofon. Ihr Fokus liegt dabei auf Politik, Gesellschaft und Popkultur.

Andrea Lütke ist Direktorin des NDR Landesfunkhauses Niedersachsen und seit dem 1. Juli 2020 Stellvertretende Intendantin des NDR. 1994 kam Andrea Lütke zunächst als freie Mitarbeiterin zum NDR nach Hannover. 1999 wurde sie Redakteurin und 2012 Leiterin der Redaktion von „Hallo Niedersachsen“. 2017 wurde sie Programmbereichsleiterin Fernsehen im NDR Landesfunkhaus und zwei Jahre später dessen Direktorin.

Petra Reich veröffentlicht seit 2016 auf ihrem Literaturblog „LiteraturReich“ und einem gleichnamigen Instagram-Account Buchbesprechungen und Beiträge rund ums Buch. Seit 2017 arbeitet sie in der Bloggerjury zum Bloggerpreis für Literatur „Das Debüt“ mit, der jährlich einen besonders gelungenen Romanerstling auszeichnet.

Ausgeprägte Wendehalsigkeit müssen sich insbesondere die drei hochrangigen NDR-Vertreter in der Jury bescheinigen lassen, die Guérot zuerst mit ausgesucht haben dürften oder mindestens davon gewusst haben werden, und sie gleich darauf derart kaltherzig und kaltschnäuzig öffentlich über die Klinge springen lassen. Das um so mehr, als ihnen das von Markus Lanz moderierte Tribunal über Ulrike Guérot im Juni vor Millionenpublikum nicht entgangen sein dürfte.

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