Mit Sozialpunkten und digitalem Euro sollen wir zu präzise gesteuerten Teilen einer sozialen Maschine werden

16. 05. 2022 | Sozialpunkte und digitaler Euro entstammen dem Instrumentenkasten der technokratischen Sozialingenieure. Sie wollen Gesellschaften zu sozialen Mega-Maschinen machen. Es genügt nicht, die individuelle Freiheit wahlweise gegen mächtige Konzerne oder einen übergriffigen Staat zu verteidigen. Man muss auch wissen, wie eine bessere Alternative zum Social Engineering aussieht.

Dieser Blogbeitrag behandelt ein wichtiges gesellschaftliches Thema mit einigen Strängen, die unbedingt einmal zusammen betrachtet werden müssen. Deshalb ist er etwas länger geworden. Anstatt ihn in mehrere Teile aufzuteilen, lade ich Sie ein, bei Bedarf eine Pause einzulegen. Damit Sie dabei den Faden nicht verlieren und schnell wieder an die passende Stelle zurückfinden, hier eine kurz kommentierte und verlinkte Gliederung.

  1. Sozialkredit: Was es bereits gibt und das Perfide daran
  2. Smart City: Sozialkreditexperimente als Teil von Smart-City-Programmen
  3. Digitaler Euro: Sozialkredit auf Steroiden
  4. Vorreiter China: Von der Kreditwürdigkeitsprüfung zum umfassenden Maß für Vertrauenswürdigkeit und Tugendhaftigkeit.
  5. Von China lernen: Unsere Technokraten sind schwer beeindruckt von einer effizienten sozialen Maschine
  6. Die technokratische Weltsicht: Was daran alles falsch ist
  7. Die Alternative: Mehr soziale Bindung und weniger Markt statt Verhaltensmanipulation von oben

1. Sozialkredit – Unvereinbar mit Freiheit und Demokratie

Derzeit werden von vielen Regionen und Kommunen parallel Sozialkreditsysteme getestet. Beschrieben habe ich die Pilotprojekte von Rom, Wien, Bologna und Bayern. Die Projekte ähneln sich. Organisiert werden sie jeweils von den Verantwortlichen für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Diese wiederum haben oft ein allzu enges Verhältnis zu den großen IT-Konzernen und ihren Lobbys, bei denen das Digitalsierungs-Know-How und die Kapazität, dieses in großem Maßstab umzusetzen, liegt.

Die Pilotprojekte zum Sozialkredit laufen jeweils darauf hinaus, dass die Bürger, die mitmachen, sich überwachen lassen und für aus Sicht der Organisatoren tugendhaftes Verhalten mit Sozialtokens in ihrer digitalen Brieftasche belohnt werden. Diese können sie gegen geldwerte Prämien eintauschen. Je nach Programm gibt es Punkte für ordentliches Mülltrennen, Energieeinsparung, Zufußgehen und Fahrradfahren, Nutzen von Online-Verwaltungsangeboten und unbares Bezahlen.

Die Programme ähneln Treuerabatten und Kundenkarten von Einzelhändlern. Man könnte sie deshalb für relativ harmlos halten, abgesehen davon, dass man mit diesen Kundenkarten – oft unbewusst – einwilligt, seine Daten sammeln und verkaufen zu lassen. Doch wenn der Staat solche Programme auflegt, ist das etwas ganz anderes, als wenn es ein Einzelhändler tut.

Der Einzelhändler beurteilt nicht die Tugendhaftigkeit des Verhaltens seiner Kunden, er revanchiert sich aus Eigeninteresse für Kundentreue. Der Staat, der tugendhaftes Verhalten belohnt, maßt sich an, zu bestimmen, was tugendhaftes Verhalten ist, und von seiner hoheitlichen Warte aus die Menschen mit Anreizen und Strafen entsprechend zu lenken. Das steht im Widerspruch zu einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft und zu demokratischen Prinzipien.

In einer offenen, liberalen und toleranten Gesellschaft gibt es zwei Sorten von Regeln. Staatliche Gebote und Verbote sorgen dafür, dass für das Zusammenleben grob schädliche Verhaltensweisen bestraft werden und erzwingen andere, die als unbedingt nötig betrachtet werden, etwa das Mitfinanzieren von öffentlichen Leistungen und Transfers.

Daneben gibt es in der Gesellschaft die Erwartung, dass man sich an die vorherrschenden Werte und Gebräuche hält, wie Schicklichkeit und Höflichkeit oder Fairness und Hilfsbereitschaft. Je liberaler die Gesellschaft, desto weniger rigide diese informellen Regeln und die informellen Sanktionen für Regelübertretungen, aber um so geringer möglicherweise auch der gesellschaftliche Zusammenhalt. Der Staat ist hier in einer freiheitlichen Gesellschaft außen vor.

Wenn diese beiden Regelkreise vermischt werden, wird es sehr problematisch. Denn die Liberalität oder die Demokratie bleiben schnell auf der Strecke, wenn eine Mehrheit der Gesellschaft die Hoheitsgewalt des Staates nutzt, um einer Minderheit ein Verhalten aufzudrängen, das sie für tugendhaft hält. Oder wenn die Mächtigen  vorherrschende Wertvorstellungen instrumentalisieren, um das Verhalten der Bürger in Hinblick auf eigene Ziele zu kontrollieren und zu manipulieren.

Das wird leicht zur Farce, wenn die weiche Manipulation des Bürgerhandelns im Hinblick auf ein angeblich sehr wichtiges Ziel hin, zum Beispiel die CO2-Einsparung, im Gegensatz zu dem steht, was die Regierung bei den harten hoheitlichen Regeln tut. Wenn man etwa genötigt wird, staatliche Subventionen für die Automobilbranche oder die (konventionelle) Landwirtschaft zu finanzieren, aber gleichzeitig Sozialkredit-Prämien bekommt, wenn man auf Autos oder Autofahrten verzichtet und Bio-Lebensmittel kauft. Wenn Regierungen, die den Flugverkehr durch die Steuerbefreiung von Flugbenzin und Subventionen für nicht ausgelastete Flughäfen massiv subventionieren, Tugendhaftigkeits-Prämien ausloben, wenn man nicht fliegt.

Wird solches widersprüchliches Agieren zur Norm, und die Verantwortung für das Ergebnis des Staatshandelns der Tugendhaftigkeit der Bürger zugeschoben, wie sollen die Bürger dann noch sinnvoll mit einem Stimmzettel alle paar Jahre das Regierungshandeln kontrollieren und lenken?

Wenn zum Beispiel der Verminderung des CO2-Ausstoßes überragende Bedeutung zugewiesen wird, dann muss die Regierung in ihrem Verantwortungsbereich die Regeln so ändern, dass diesem Ziel genüge getan wird, anstatt sich Programme zur Feinjustierung des Bürgerhandelns auszudenken, die minimalen Effekt mit erheblichen Eingriffen in die Privatsphäre und die Privatautonomie verbinden.

2. Smart City statt Demokratie

Die Pilotprojekte zum Sozialkredit sind zumeist in Smart-City-Programme eingebunden. Diese maßgeblich von den großen US-IT-Konzernen propagierte und vorangetriebene Idee baut darauf, durch Kameras, Mikrofone und Sensoren ein Maximum an Daten über eine Stadt, deren Bewohner und ihr Interagieren zu sammeln und auszuwerten. Auf dieser Basis soll das Zusammenleben dann mittels künstlicher Intelligenz effizient gesteuert werden.

In einer Broschüre des Bundesumweltministeriums mit dem Titel „Smart City Charta“ aus dem Jahr 2017 findet man unter anderem folgende Aussagen:

  • Künstliche Intelligenz ersetzt Wahl: Wir müssen uns nie entscheiden, einen bestimmten Bus oder Zug zu nehmen, sondern bekommen den schnellsten Weg von A nach B.
  • Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen. Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen.
  • Durch „People-Public-Private-Partnerships“ kann in der Smart City 2.0 eine neue Form von Politik und Entscheidungsfindung entstehen.
  • Vielleicht wird Privateigentum ein Luxus. Daten könnten Geld als Währung ergänzen oder ersetzen.
  • Ein Markt übermittelt nur, dass eine Person dies oder das gekauft hat; wir wissen aber nicht warum. Künftig können Sensoren uns bessere Daten als Märkte liefern.

Das war kein einmaliger, inzwischen verjährter Ausrutscher. Das Smart-City-Programm wurde unter Innen-, Bau- und Heimatminister Horst Seehofer ebenso weitergeführt wie unter der Ministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Klara Geywitz. In vielfältigen Smart-City-Dialogen und Kongressen tauscht man sich, sicherlich großzügig unterstützt von der IT-Branche, darüber aus, wie das“ Teilen von Daten und Datenkooperationen über Sektoren und Zuständigkeiten hinweg innerhalb der Stadt gelingen können (und) welche technischen und vertraglichen Modelle sich für eine gewinnbringende Partnerschaft zwischen öffentlichen und privatem Sektor innerhalb der Smart City“ eignen.

In den Sonntagsreden und Broschüren geht es fast ausschließlich um die Verbesserung der Lebensqualität und den Schutz der Umwelt. Das Letzteres durchaus auch bedeuten kann, dass selektiert wird, wer wichtig genug ist, um mit dem Auto oder überhaupt in die Innenstadt zu dürfen, wird selten erwähnt. Ebenso selten wird erwähnt, welches totalitäre Potential in der Überwachungsinfrastruktur steckt, das integraler Bestandteil der Smart City (ebenso wie jedes Sozialkreditsystems) ist.

Manchmal scheint es aber durch, wie in einer als Studie bezeichneten Werbebroschüre von McKinsey mit dem Titel: „Smart cities: Digital solutions for a more livable future“. Darin werden die Vorzüge der Überwachungstechniken von Smart Cities bei der Kriminalitätsbekämpfung gepriesen, mit „datengetriebener Polizeiarbeit“, unter anderem durch „predictive policing“. Dabei verhindert die Polizei Verbrechen schon im Vorfeld, weil Algorithmen sie auf potenzielle Täter und Tatorte hinweisen.

3. Digitaler Euro als smarter Bezugsschein

Die Europäische Zentralbank (EZB) arbeitet schon länger an einem digitalen Euro und die EU-Kommission will bereits im ersten Quartal die rechtliche Grundlage dafür schaffen, dass dieser als gesetzliches Zahlungsmittel ausgegeben werden kann.

Digitale Guthaben, die auf Euro lauten und mit denen man bezahlen kann, gibt es schon heute in Form des Bankengeldes, auf dessen Basis wir Geld überweisen oder per Karte bezahlen. Diese digitalen Guthaben bei Banken stellen aber rechtlich nur Ansprüche auf Auszahlung echter (Bargeld-)Euro von der Zentralbank dar. Guthaben auf dem Bankkonto sind keine Euro, sondern in Euro ausgezeichnete Schulden der Banken bei uns.

Ein digitaler Euro dagegen ist digitales Geld von der Zentralbank mit dem gleichen rechtlichen Status wie Bargeld. Die Einführung eines digitalen Euro würde bedeuten, dass wir alle direkt oder indirekt Zugang zu solchem digitalen Zentralbankgeld bekämen und damit bezahlen könnten. Das könnte entweder direkt sein, per Jedermannkonto bei der Zentralbank, oder indirekt, indem Finanzdienstleister Treuhandkonten für uns verwalten, über die unsere Transaktionen in digitalen Euro abgewickelt werden.

Mit einem Zahlungsverkehr, der auf dem digitalen Euro beruht, schaltet sich der Staat als zentraler Mittelsmann in jede Transaktion ein – zumindest potentiell. Er kann (anfangs) darauf verzichten, indem er private Dienstleister die Euro-Konten verwalten lässt, und die dort anfallenden Daten zu unseren Zahlungen nicht abfragt. Aber er kann sich jederzeit den Komplettzugriff auf alle unsere Zahlungen verschaffen.

Der digitale Euro soll programmierbar sein, denn er soll, wie es die EU-Kommission in ihrer Bürgerbefragung zur angekündigten Richtlinie beschreibt auch folgende Zwecke erfüllen:

„Die Unternehmen in der EU benötigen zunehmend innovative Zahlungsmittel, um ihre Logistik-, Energie-, Internet-of-Things-, Vermietungs-, Streaming- und sonstigen Online-Dienste und -Geschäfte im neuen Zeitalter der Industrie 4.0 zu unterstützen.(…)“

In einfacher Form sind auch unsere Zahlungen mit Bankengeld programmierbar, etwa in Form von Daueraufträgen. In den digitalen Euro könnten man hineinprogrammieren, was man will, etwa: „Überweise, wenn Frau x laut Passagiererfassung von Busunternehmen y einen Kilometer in dessen Bussen zurückgelegt hat, 50 Cent von ihrem Konto auf das des Busunternehmens, und dann 25 Cent für jeden weiteren Kilometer.

All die vielen Mikrozahlungen, die Stunde um Stunde, Minute für Minute fällig werden, wenn wir getreu der Verheißung des Weltwirtschaftsforums „Du wirst nichts mehr besitzen, und du wirst glücklich sein“, alles mieten was wir benutzen, und für jede einzelne Leistung bezahlen. Der Datenfluss zur zentralen Stelle ist ein Traum jedes Smart-City-Strategen – und jedes Sozialingenieurs.

Wenn der digitale Euro mit einen „Identitätslösung“ verbunden ist, so wie die EU-Kommission das beschreibt, dann sind der gesellschaftlichen Feinsteuerung kaum noch Grenzen gesetzt. Im Rahmen des Programms ID2020 sollen weltweit alle Menschen bis 2030 eine biometrisch-digitale eindeutige Identität bekommen. Diese erlaubt es, alle relevanten Informationen über eine Person automatisch unter einer eindeutigen Identifikationsnummer zu sammeln. So wissen die Computerprogramme genau, wer wer ist, wer wie viele abhängige Haushaltsmitglieder und sonstige Bedarfe hat, und alles andere, was sie wissen müssen. Das kombiniere man nun mit einem programmierbaren Geld.

Dann kann man einprogrammieren, dass Frau x, weil sie wenig gesundheitsbewusst und teuer für das Gesundheitssystem ist, also unsolidarisch, und ihr Energieverbrauch den Normwert überschreitet, einen Aufschlag von 20% für jede Kilowattstunde über dem Normwert und für Produkte mit roter Ernährungsampel zahlt, der automatisch an den Staat, die Krankenkassen oder die Ukraine überwiesen wird. Zum Ausgleich kann man ihr einen Rabatt bei Fitnessstudios einprogrammieren, der bei Inanspruchnahme automatisch von einem Konto des Staates abgebucht wird. Sollte sie aber ausweislich ihrer Fitbits oder Smartphone-Apps künftig eifrig Sport treiben und ausweislich ihrer Waage Gewicht verlieren, winkt eine Lockerung.

Der programmierbare digitale Euro ermöglicht eine Sozialkreditsystem auf Steroiden.

Mit einem digitalen Euro als smartem Zuteilungssystem kann man aber auch auf positive und negative Anreize ganz verzichten, weil man das Verhalten direkt steuern kann. Frau x kann auch gleich verunmöglicht werden, Nahrungsmittel mit roter Ampel zu kaufen.

Auch ein CO2-Einsparprogramm kann man mit dem programmierbaren Euro besser umsetzen als mit jedem Sozialkreditprogramm, das umweltfreundliches Verhalten lediglich belohnt. Wenn jedem Produkt von schlauen Experten eine durch Herstellung, Vertrieb und Gebrauch verursachte Menge CO2 zugewiesen wird, kann man für jede Bürgerin ein CO2-Budget programmieren, das sie mit seinen Käufen nicht überschreiten darf, oder ab dem für sie alles 10, 20 oder 50 Prozent mehr kostet. Der Aufschlag fließt in das Budget des Umweltministers.

Sage niemand, es sei eine absurde Vorstellung, dass bei uns so etwas eingeführt werden könnte. In Australien und in Indien bekommen Sozialhilfeempfänger ihre Stütze digital, mit einprogrammierten Begrenzungen, was sie damit kaufen können und was nicht. Solche Dinge werden immer zuerst bei den schwächsten Gliedern der Gesellschaft eingeführt. Eine ganze Reihe deutsche Banken erhebt bereits mehr oder weniger unbemerkt Gebührenaufschläge, wenn ihre Karten für Zahlungen an Glückspiel-Dienstleiter genutzt werden. Jeder kommerzielle Kunde der Zahlungsdienstleister hat eine Klassifikation zu welcher Branche er gehört. Es ist also klar, ob eine Zahlung an einen Einzelhändler, ein Spielcasino, einen Juwelier, einen Escortservice, ein Anwaltsbüro oder einen Waffenhändler geht. Einer Verfeinerung der Klassifikation steht nichts Grundsätzliches im Wege.

Im Zuge der drohenden Energieknappheit durch das diskutierte Gasembargo gegen Russland wurde bereits diskutiert, ob erst Verbrauchern oder der Industrie das Gas abgestellt werden sollte. Mit einem digitalen Euro und zugehöriger Identitätslösung muss man nicht mehr über solch grobe Unterscheidungen reden.

Die Lebensmittelknappheit aufgrund des Ukraine-Kriegs hat uns auch geholfen, uns Rationierungen auf diesem Gebiet wieder vorstellen zu können. Auch dabei könnte der programmierbare digitale Euro hervorragende Dienste leisten. Denn er ist so etwas wie ein smartes Bezugsscheinsystem. Pro Konto und Woche nur eine Packung Klopapier und eine Flasche Sonnenblumenöl, lässt sich einfach zentral einprogrammieren. Dasselbe bei Brot, Milch, Eiern, Benzin, Strom und jedem anderen Produkt, das knapp ist oder knapp zu werden droht. Mit digitalem Geld und leistungsstarken Computerprogrammen, die mit vielen Daten gefüttert werden, lässt sich eine zentralisierte Planwirtschaft sehr gut umsetzen.

Groß angelegte Strafaktionen gegen Aufsässige, wie im Februar in Kanada exerziert, lassen sich mit digitalem Zentralbankgeld sehr viel geschmeidiger und effizienter durchführen. Als die Regierung aufgrund der Demonstrationen und Blockaden durch Lastwagenfahrer gegen die rigiden Impfvorschriften und die große öffentliche Unterstützung dafür in Not kam, rief sie den Notstand auf. Die Banken wurden angewiesen, allen Truckern und allen Unterstützern, die sie anhand ihrer Daten zu Überweisungen und auf sonstigem Wege ausfindig machen konnten, die Konten zu sperren. Damit wurde der Widerstand der Trucker und der Bevölkerung schnell gebrochen.

Mit digitalem Zentralbankgeld geht das künftig mit viel weniger Aufsehen. Wenn vorher eingeführt ist, dass Menschen, die Unerlaubtes tun, mit Kontensperrungen oder Nutzungseinschränkungen unterschiedlichen Ausmaßes sanktioniert werden können, lassen sich die Sanktionen ohne weitere Ankündigung und ohne Notstand direkt umsetzen, als Teil des normalen Programms zur Durchsetzung der Regeln. Der Staat, bzw. die Zentralbank als Teil des Staates, haben ja als Kontenverwalter die dafür nötigen Informationen schon selbst. Wahrscheinlich wird es auch kaum nötig sein, denn wer würde sich unter solchen Bedingungen schon an für illegal erklärten Protestaktionen beteiligen oder diese unterstützen.

Die Anfänge sind auch in Deutschland schon sichtbar. Einer ganzen Reihe von Betreibern kritischer Medien wurde von Banken begründungslos die Konten gekündigt. Man darf vermuten, auf Einflüsterung staatlicher Stellen. Der führende online-Bezahldienst Paypal wird zunehmend berüchtigt dafür, ohne Begründung Guthaben einzufrieren, die man dann erst nach langwierigen und kostspieligen Prozessen, wenn überhaupt, wiederbekommt. Es kann reichen, eine Zahlung aus China zu erhalten.

4. Vorreiter China – Von der Kreditwürdigkeit zum Sozialkredit

Das Sozialkreditsystem hat nicht von ungefähr den „Kredit“ im Namen. Es ist eine Fortentwicklung und Erweiterung der Kreditwürdigkeitsprüfung aus dem Finanzwesen. Es geht um Kredit, um einen Vertrauensvorschuss. Bevor die Banken jemand Kredit geben, wollen sie sicher sein, dass sie Zins und Tilgung zuverlässig bekommen.

Kreditauskunfteien sammeln zu diesem Zweck alles, was sie an Informationen über eine Person sammeln dürfen,  und ermitteln daraus einen Punktewert für die Kreditwürdigkeit. In Europa ist das wegen der Datenschutzregeln weitgehend auf Finanzinformationen begrenzt. Hat man schon Kredite aufgenommen und brav abbezahlt, wie viel Geld hat man auf dem Konto, usw.

In anderen Ländern, wo die Regeln weniger streng oder inexistent sind, nutzen Kreditgeber oder Kreditauskunfteien alles was sich sammeln lässt. Vom Agieren der Person in den sozialen Medien bis zu ihren Konsumgewohnheiten, ob sie etwa zu viel Zeit mit Computerspielen verbringt.

China hat das in Pilotprojekten zu Sozialkreditsystemen ins Extrem getrieben und in einen schlechten Ruf gebracht, zumindest in den Ländern der US-Einflusssphäre, wo sehr kritisch darüber berichtet wurde. In der Bevölkerung Chinas selbst scheint das Sozialkreditsystem dagegen beliebt zu sein.

Ein privates Projekt mit öffentlichem Segen war Sesame Credit, ein zum Sozialkreditsystem erweitertes Kreditwürdigkeitsranking der Alibaba Group, einem Konzern, der das Bezahlsystem Alipay und führende Online-Handelsplattformen betreibt. Auch andere Internetgiganten wie Tencent betreiben solche Systeme. Für ein gutes Ranking waren Berichten zufolge neben vielen privatwirtschaftlichen und gesellschaftlichen auch staatliche und halbstaatliche Privilegien zu bekommen.

Allerdings entschied sich die Regierung 2019 gegen ein solches mit Punkten versehenes System. Die möglichen Interessenkonflikte und Manipulationsmöglichkeiten für die Betreiber wurden offenbar für zu groß erachtet.

Aufgrund der engen Kooperation von Regierung und privaten Konzernen allgemein und insbesondere in Bezug auf das Sozialkreditsystem ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Regierung die heikleren Aspekte der Verhaltenssteuerung der Bevölkerung einfach den unter ihrem Einfluss stehenden Konzernen überlässt. So waren Alibaba und Tencent an der Entwicklung des Corona-Gesundheitscodes beteiligt. In vielen Städten bekamen Bewohner auf ihr Smartphone QR-Codes, die ihren Status anzeigten. Diesen mussten sie an Kontrollstellen vorzeigen, um sich in der Stadt bewegen zu dürfen. In manchen Städten wie Hangzhou wird das System über Corona hinaus fortgeführt. Aus Gesundheitsinformationen und Lebensstil wird dabei ein persönlicher Gesundheitsindex ermittelt.

Der Fokus der chinesischen Regierung liegt derzeit auf einem recht groben Sozialkreditsystem für Unternehmen. Diese werden auf öffentlichen roten (gut) und schwarzen (schlecht) Listen geführt, wenn sie brav und korrekt ihre Steuern zahlen und die Regeln für den Arbeitsschutz und alles andere einhalten, oder eben nicht.

Für Privatpersonen gibt es vor allem eine schwarze Liste für Personen, die wichtige Verbindlichkeiten nicht beglichen haben, insbesondere gegenüber Gerichten. Sie werden an den Pranger gestellt und an Fernreisen gehindert. Regierungskritiker trifft das offenbar überproportional oft. Da sie viel mit Gerichten zu tun bekommen, lässt es sich relativ leicht einrichten, dass eine von deren Rechnungen zu lange offen bleibt. Neuerdings werden in manchen Städten auch Menschen, die falsche Angaben zu Corona-Kontakten gemacht oder eine Infektion nicht gemeldet haben, auf die schwarze Liste gesetzt.

5. Von China lernen

Trotz des schlechten Rufs der chinesischen Sozialkredit-Experimente im sogenannten Westen sprechen sich Organisationen wie der Weltwährungsfonds und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich für eine Ausweitung der Kreditwürdigkeitsratings in Richtung Sozialkredit aus. Als Argument wird vorgebracht, so könnten Menschen, die keine Kredithistorie haben auch ihre Kreditwürdigkeit beweisen und an Kredit kommen.

Trotz dieses schlechten Rufs sprießen in Europa Sozialkredit-Pilotprojekte überall aus dem Boden und lassen staatliche Stellen untersuchen, was man in Sachen Sozialkredit von China lernen kann. So lässt das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation ein Forschungsteam das Thema untersuchen: „Vom ‚Vorreiter‘ lernen? Eine multidisziplinäre Analyse des chinesischen Sozialkreditsystems und seiner Auswirkungen auf Deutschland“ , immerhin mit Fragezeichen und stellenweise durchaus kritischem Tenor.

Mit deutlich weniger kritischem Tenor wird an der Universität Wien mit knapp zwei Millionen Euro von der EU-Kommission untersucht, wie man mit einem Sozialkreditsystem ein vertrauenswürdige Gesellschaft errichten kann: „Engineering a Trustworthy Society: The Evolution, Perception and Impact of China’s Social Credit System“. Projektleiter Christoph Steinhardt schreibt:

„Das Social Credit System (SCS) ist ein ehrgeiziges Social-Engineering-Projekt des chinesischen Staates mit dem Ziel, eine vertrauenswürdigere Gesellschaft zu schaffen. Es sammelt Informationen von allen Bürgern, Unternehmen und Organisationen und versucht, das Verhalten durch Anreize und Strafen zu steuern. Das SCS stellt langjährige wissenschaftliche Annahmen über die Rolle des Staates bei der Steuerung des sozialen und wirtschaftlichen Austauschs in Frage. Sie ist zu einem zentralen Bestandteil des Regierungssystems geworden, das die chinesische Regierung als praktikable Alternative zur liberalen Demokratie propagiert.“

(Ein ebensogut ausgestattetes Schwesterprojekt untersucht, wie die kommunistische Einparteienregierung es auch ohne Demokratie schafft, den Bürgerwillen aufzunehmen und Aufstände zu verhindern.)

Sowohl die Stadt Wien, als auch die Bayerische Staatsregierung arbeiten an Pilotprojekten zu einfachen Sozialpunktesystemen zur Erziehung der Bürger zu tugendhaftem Verhalten. Man scheint tatsächlich anwenden zu wollen, was sich vom Vorreiter lernen lässt.

6. Die technokratische Weltsicht

Die meisten, die an diesem und ähnlichen technokratischen Programmen zur Lenkung und Manipulation der Bevölkerung arbeiten, zumindest unterhalb der obersten Entscheidungsebene, tun dies in bester Absicht, die Welt besser zu machen. Hält man ihnen das totalitäre Potential ihrer Projekte vor, fühlen sie sich böswillig missverstanden, denn sie sind ja die Guten, die nur Gutes wollen. Dass sie nicht die Definitionsmacht haben, für alle festzulegen, was gut ist, sehen sie nicht. Bei ihnen sind solche Instrumente in guten Händen und ihre Ziele sind so über jeden Zweifel erhaben, dass sie nicht erst diskutiert werden müssen, auch nicht in einem Parlament oder einem anderen öffentlichen Forum. Denn wer diese nicht teilt, stellt sich ohnehin außerhalb des vermeintlichen gesellschaftlichen Konsenses.

Die Technokraten, die sich solche Programme ausdenken und sie verwalten, sehen die Welt und Gesellschaften als gigantische Maschine, zusammengesetzt aus einzelnen Teilen aus belebter und unbelebter Materie. Den Gesetzen der Mechanik folgend erzeugen sie in ihrem Zusammenspiel ein bestimmtes Wirken der Maschine. Der Mensch wird auf seine Funktion als Maschinenteil reduziert.

Besonders deutlich war die Wirkungsweise im alten Ägypten zu sehen, wo die Aufgabe und das Ergebnis der sozialen Megamaschine die Errichtung riesiger Bauwerke war, die dem Pharao Unsterblichkeit verschaffen sollten. Auf dieses Produkt hin wurde die Maschine eingestellt, in die alle verfügbaren Menschen eingepasst wurden, als Planer, Arbeiter, Bauern, Handwerker, Soldaten oder Priester.

Den Priestern kam dabei die Rolle zu, der Maschine einen spirituellen Zweck im Interesse aller anzudichten, etwa in die Richtung, dass man so dem Pharao zum ewigen, göttlichen Leben im Jenseits verhalf, von wo aus er sich um sein Volk kümmern und Unheil von ihm abwenden würde.

Damit die Maschine gut funktioniert muss dafür gesorgt werden, dass alle nur genau das machen, was sie sollen. Defekte Maschinenteile, die schlecht arbeiten oder gar sabotieren, die angebotene Heilslehre ablehnen und zur Revolution aufrufen, müssen möglichst schnell erkannt, repariert oder ausgesondert werden, im wohlverstandenen – von oben definierten – Interesse der Allgemeinheit.

Heute ist das etwas komplexer als damals, die Anreize und Restriktionen sind weicher, die Aufgabe des Sinnstiftens, damit die Mensch-Maschinenteile freiwillig mitmachen, ist auf deutlich mehr Institutionen verteilt. Die Handlungsspielräume der Maschinenteile sind größer, ihr Zusammenspiel flexibler. Aber die Idee und Herangehensweise der Technokraten ist dieselbe. Es geht darum, eine soziale Maschine zu optimieren. Dass deren Bestandteile mitbestimmen, wie die Maschine arbeitet und was sie produziert ist nicht vorgesehen. Es wäre mit einer effizienten Wirkungsweise der Maschine nicht vereinbar.

Daten und Informationen über alles und jeden sind das A und O des Sozialingenieurs. Man sieht durchaus das Missbrauchspotential. Deshalb sollen wir den wohlmeinenden Technokraten um so dankbarer sein, dass sie es auf sich nehmen die Schalthebel zu bedienen, ohne die eine effiziente Steuerung der sozialen Mega-Maschine nun einmal nicht möglich ist. Denn für sie wäre die Alternative nur, dass böse, machthungrige Menschen an diesen mächtigen Schalthebeln sitzen, und nicht etwa, dass es statt der sozialen Maschine einen lebendigen gesellschaftlichen Organismus ohne derart mächtige Schalthebel gibt.

Das erklärte Ziel ist die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Auf dieses Ziel hin wird per Feinsteuerung der Gesellschaft hingearbeitet. Das genaue Maß für diese Wohlfahrt, das die wohlmeinenden und klugen Eliten, die mit den Daten und Instrumenten arbeiten, ausgewählt haben, bleibt im Dunkeln und wird nicht diskutiert.

Die problematische Grundannahme: Alle Wirkungsbeziehungen in der sozialen Maschine sind bekannt oder können objektiv ermittelt werden. Sie verändern sich nicht. Alles Wichtige kann gemessen und gesteuert werden.

Die ebenso problematischen Zusatzannahmen: Die Elite ist uneigennützig, und sie ist in der Lage, eine soziale Wohlfahrtsfunktion zu berechnen, also zu bestimmen, was den – wie auch immer gemessenen – Nutzen aller Gesellschaftsmitglieder in Summe maximiert.

Die Uneigennützigkeit der Machtelite wird wohl nur in Einzelfällen gegeben sein. Macht korrumpiert, heißt es nicht von ungefähr. Und dass es eine soziale Wohlfahrtsfunktion nicht gibt und nicht geben kann, sollte jedem schnell klar werden, wenn er versucht, ein Maß für diese Wohlfahrt zu finden, das es erlaubt, das Glück, die Zufriedenheit, oder was auch immer, von ganz verschiedenen Menschen mit ganz verschiedenen Präferenzen, Einstellungen und Zielen aufzusummieren. Um so leichter fällt es den technokratischen Eliten, einfach irgendwelche schön klingenden Ziele als Leitschnüre ihres Herrschens zu behaupten. Wer soll ihnen schon nachweisen, dass sie mit dem angeblich so geleiteten Handeln die Wohlfahrt der Gesellschaft nicht maximieren.

Mit Demokratie hat das alles natürlich nichts zu tun. Es ist bestenfalls wohlmeinende Diktatur, schlimmstenfalls verbrämte Despotie.

Ein Musterbeispiel für die Weltsicht des technokratischen Paternalisten liefert mit seinen Büchern und Interviews Bill Gates, megareich geworden mit Microsoft und nun Co-Chef der Bill & Melinda Gates Stiftung, der reichsten und vielleicht mächtigsten Stiftung der Welt. Er veröffentlicht Bücher mit Titeln wie „Wie wir die nächste Pandemie verhindern“ oder „Wie wir die Klima-Katastrophe verhindern“. Wir, das sind nicht etwa er mit uns zusammen, sondern er und seine ähnlich einflussreichen Freunde in der Global Governance, also im Weltwirtschaftsforum, bei der UN, in der Rockefeller Stiftung, in der US-Regierung usw. Im Fall des Klimawandels verhindern sie die Katastrophe mit neuen Technologien, die sie entwickeln und finanzieren. Im Fall der Pandemie sind die Retter in einer globalen Expertenkommission vereinigt, die als Schnelle Eingreiftruppe Krankheitsausbrüche identifiziert und alle Kompetenzen hat, um sie vor Ort sofort mit drastischen Maßnahmen zu bekämpfen. „Wir“ eben.

Die Welt schreibt dazu in einer Buchrezension (für Abonnenten):

„Demokratische Institutionen kommen in Gates Plan nicht vor, das Wort „Parlament“ taucht im ganzen Buch genau ein Mal in einer Fußnote auf, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Begriff „Demokratie“ ebenfalls genau einmal auftaucht – am Ende einer Liste von Faktoren, die für das „Problem der Verhinderung von Pandemien“ offenbar nicht unmittelbar relevant sind.“

7. Die Alternative: Soziale Bindung statt Verhaltensmanipulation von oben

Der Erfolg der chinesischen Einparteienregierung beim Social Engineering und ihre Beliebtheit im Volk, üben eine Faszination auf die Technokraten der Global Governance aus, die demokratische Institutionen als lästige Stolpersteine auf dem Weg zur Verbesserung der Welt betrachten. Kein Wunder daher, dass Internationaler Währungsfonds, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Weltwirtschaftsforum und die mächtigen Stiftungen digitales Zentralbankgeld, Sozialkreditsysteme, globales Grundeinkommen und andere Instrumente des Social Engineering propagieren.

Dass in China nicht nur bei der Regierung sondern auch in der Bevölkerung ein solcher Bedarf an zentraler Bewertung der Vertrauenswürdigkeit herrscht, lässt sich mit der ausgesprochen stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung erklären. Diese hat im Rekordtempo traditionelle soziale Bindungen aufgelöst, mit dem Ergebnis eines Vertauensvakuums. Dieses Vakuum von oben zu füllen sind die kommunistische Regierung und mit ihr assoziierte private Konzerne angetreten, per Social Engineering.

Es gibt eine Alternative. Doch die ist für technokratische Herrscher denkbar unattraktiv. Sie besteht darin, soziale Bindungen zu stärken, auch zu Lasten des freien aber anonymen Marktes. Zu denken ist etwa an Vereine, Gewerkschaften, Betriebsräte, Genossenschaften, Sozialverbände, die nicht nur erlaubt sind, sondern auch wichtige Aufgaben haben, von der Interessenvertretung für Arbeitnehmer über die Versorgung mit Wohnraum, bis zur sozialen Sicherung. und Gesundheitsversorgung.

Aber derartige Gruppierungen zu fördern und zu ermächtigen, läuft dem Interesse technokratischer Herrscher an Abwesenheit von Opposition und an Abwesenheit jeder Diskussion über die vorgegebenen Ziele diametral entgegen. Denn es würde die Menschen dazu animieren, sich für gemeinsame Interessen zusammenzuschließen und zu engagieren, und das kann leicht auch gegen die Regierung gehen. Aus den gleichen Gründen ist das Social Engineering auch bei den Regierenden in unseren Breiten beliebt. Wer regiert nicht lieber ohne Opposition, und ohne seine Absichten und Ziele rechtfertigen und gegen konkurrierende Ziele und Interessen verteidigen zu müssen.

Der Widerstand gegen die Technokratenherrschaft, auf die wir mit schnellen Schritten zusteuern, leidet unterdessen an blinden Flecken und Fehlwahrnehmungen in den vorherrschenden politischen Lagern.

Konservative, Libertäre und viele Liberale sind zwar vergleichsweise schnell in der Lage und bereit, das Übergriffige des Staates in Sozialkreditsystemen und programmierbarem digitalen Zentralbankgeld zu sehen und zu kritisieren. Weil sie irrtümlich den „freien Markt“ als Gegengewicht zum übergriffigen Staat sehen, tun sie sich allerdings um so schwerer, die Alternative in der Bindung der Individuen an und in vielfältigen regionalen, familiären und sachorientierten Gemeinschaften zu sehen. Sie vertrauen „dem Markt“ zu sehr, als dass sie weite Bereiche des Lebens der Zuteilung nach Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit entziehen wollen würden.

Sie hängen vielmehr der Illusion an, dass die Dinge besser würden, wenn der Staat weniger Macht hätte und „der Markt“ mehr regeln würde. Sie setzen irrtümlich Kapitalismus mit wettbewerblicher Marktwirtschaft gleich und ignorieren die Vermachtung des Marktes, die in den letzten Jahrzehnten ein extremes Maß erreicht hat, was es den großen Konzernen ermöglicht hat, den Staat voll für ihre Zwecke einzuspannen. Doch nichts wäre in Sachen Handlungsfreiheit der Menschen besser, wenn in China nicht die kommunistische Partei, sondern Tencent oder Alibaba das dominierende Sozialkreditsystem betrieben und ein programmierbares digitales Geld entwickelten. Oder auf unser politisches System bezogen: Wenn ein Kartell der sozialen Mediengiganten Zensur betreibt, ist das genauso freiheitsfeindlich wie wenn es der Staat tut.

Die Linken haben zwar mehr für die Stärkung vielfältiger Gemeinschaften übrig und wollen im Prinzip auch Lebensbereiche dem Markt entziehen. Aber auch sie missverstehen – mit umgekehrtem Vorzeichen – den Staat als Gegenspieler „des Marktes“, also der großen Konzerne, der deshalb eigentlich gar nicht mächtig genug sein kann. Sie halten es irrtümlich für die Ausnahme, nicht für die Regel, dass sich Konzerne der staatlichen Gewalt für ihre Zwecke bemächtigen. Und wenn dann bevorzugt „linke“ Regierungen den Einflüsterungen der Bertelsmann-Stiftung und der sonstigen Konzernlobbys folgen und Wohnungen und Wohnungsbau ebenso privatisieren wie die Bahn, Gesundheitswesen, Energie-  und Wasserversorger, dann bleibt Widerstand aus, weil die Rechten das eh gut finden und die Linken die eigene Regierung nicht schwächen wollen.

Das Wegschrumpfen von Bereichen und Beziehungen der Gesellschaft, die über Geben und Nehmen auf der Basis von Fairness, Fürsorge und langfristiger gegenseitiger Abhängigkeit funktionieren, sorgt dafür, dass sich moderne Gesellschaften über das Geldwesen so gut steuern lassen, etwa über programmierbares Geld. Je schwächer die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen werden, desto stärker werden Staatsmacht und Geldmacht.

Das Problem ist nicht zu viel individuelle Freiheit oder zu wenig davon, wie unter anderem der Publizist Charles Eisenstein nicht müde wird zu betonen. Das Problem ist, dass die für eine gesunde Gesellschaft notwendigen Begrenzungen der individuellen Freiheit von der falschen, der zentralistisch orientierten Seite kommen. Die reziproken gesellschaftlichen Bindungen und Austauschbeziehungen wurden zu sehr geschwächt. Wir stecken nicht mehr in vielfältigen dezentralen Strukturen, die dafür sorgen, dass alle die Konsequenzen ihres Handelns für andere zu spüren bekommen und sich dafür verantworten müssen. Dadurch entsteht ein Mangel an Kontrolle und Vertrauen, den technokratisch orientierte Regierende nur zu gern mit zentralen Systemen der individuellen Verhaltenssteuerung beheben.

Eine Machtbegrenzung für diejenigen, die besonders viel Geld und die Kontrolle über das Geldsystem haben, erreichen wir im persönlichen Bereich am Besten dadurch, dass wir uns durch vielfältige soziale Bindungen mit der Aussicht auf gegenseitige Unterstützung im Bedarfsfall ein Sicherheitsnetz aufbauen. Das ist mehr wert als ein Hort von Bitcoin, Gold, Nahrungsmitteln und sonstigen Prepper-Utensilien. Wenn uns dann das Konto gesperrt wird, sind wir nicht gleich hilflos und ausgeliefert. Als Gesellschaft erreichen wir es am Besten, indem wir wichtige Lebensbereiche dem monetären Bereich entziehen. Dazu zählen zum Beispiel Bildung, Gesundheit und Wohnen.

Wenn wir beides umsetzten, käme niemand mehr auf die Idee, wir könnten ein Sozialkreditsystem brauchen.

Nachtrag (18.5): Facebook-Zensur

Schon am frühen Morgen war der Beitrag bei Facebook gesperrt. Ein Leser schreibt mir:

„Wenn ich Ihre Seite posten möchte, öffnet sich sofort ein Fenster in dem die Annahme verweigert wird mit der Begründung, dass der Inhalt von der „Community“ als „abusive“ gemeldet wurde. Ich komme damit gar nicht mehr auf meine Seite.“

 

Englische Version

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