Ethikratsvorsitzende Buyx: Ich würde meine Kinder sofort impfen lassen (Teil2 mit Nachtrag)

20. 08. 2021 | Henry Mattheß | Die Politik will mit Nachdruck Kinder und Jugendliche impfen lassen. So sollen Schulschließungen infolge hoher Inzidenzen verhindert werden. Auf die Idee, den Schulbetrieb unabhängig von Inzidenzen zu garantieren, kommen die politischen Entscheider nicht. Auch nicht deren Berater wie Ethikratsvorsitzende Prof. Dr. med. Buyx

Stattdessen hat die angeblich unabhängige Ständige Impfkommission (STIKO) infolge massiven politischen Drucks jetzt doch eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren ausgesprochen, die aber weder eine neue medizinische Indikation, noch neue Erkenntnisse über mögliche Spätfolgen enthält. Seltsamerweise wird die wunderliche 180°-Wende allein mit einer mathematischen Infektionsmodellierung und der Abmilderung psychosozialer Folgeerscheinungen begründet:

„Diese Empfehlung zielt in erster Linie auf den direkten Schutz der geimpften Kinder und Jugendlichen vor COVID-19 und den damit assoziierten psychosozialen Folgeerscheinungen ab.“

Die Ethikratsvorsitzende Buyx unterstützte beide Aspekte schon vor Monaten im Interview mit der Zeit vom 27.5.2021:

„Aber auch für topfitte Jugendliche ist der Individualschutz aus meiner Sicht ein wichtiges Argument für die Impfung. Und da sind nun einmal Impfungen ein sehr effektives Mittel, um mehr Teilhabe [für Kinder und Jugendliche] zu ermöglichen.“

Eigenschutz und soziale Teilhabe werden hier als Argumente angeführt, deren nähere Betrachtung starke Nerven erfordert. Zumal diese Argumente Akademiker führen, denen das Kriterium der Widerspruchsfreiheit wissenschaftlichen Arbeitens bekannt ist, die jedoch bei gesellschaftspolitischen Bewertungen oft Widersprüche nicht erkennen und Zusammenhänge nicht herstellen können oder wollen.

Kinder und Jugendliche ohne relevante Vorerkrankungen zum Eigenschutz impfen zu wollen, obwohl sie in der Statistik schwerer Krankheitsverläufe und Todesfälle fast nicht auftauchen, ist ein Widerspruch, der auch Buyx auffällt. Auf den entsprechenden Hinweis hin sagt sie:

„Stimmt, aber es gibt sie eben, diese schweren Verläufe.“

Wie so oft wird der Maßstab zu extrem seltenen Einzelfällen verschoben, um eine klar widersinnige Maßnahme trotzdem sinnvoll erscheinen zu lassen.

Welche Gefahr aber droht den Kindern konkret in den Schulen? Dazu sagte sie vor kurzem im NDR-Podcast:

„Es ist natürlich so, dass wenn die Infektionszahlen durch die Decke gehen, dass dann – jedenfalls nicht unwahrscheinlich ist, dass gerade die jüngeren Gruppen und insbesondere die, die noch gar nicht geimpft werden konnten, besonders betroffen sind.“

Von was betroffen – hohen Infektionszahlen? Ja und? Buyx gibt an anderer Stelle selbst die einzig richtige Antwort, nämlich dass die Erkrankungsrisiken…

„…sicherlich deutlich niedriger sind als für andere Altersgruppen, das ist klar. (…) [Die jüngere Generation, die] durchaus natürlich insgesamt niedrigere Erkrankungsrisiken hat – aber die auch wieder ins Leben kommen und eine normale Bildungserfahrung haben möchte…“

Nach dem Eigenschutz wird hier der zweite Aspekt der Impfung, die Ermöglichung sozialer Teilhabe wie Bildung ins Feld geführt.

„Die Jungen haben bisher einen erheblichen Teil der Last dieser Pandemie getragen. Nun ist es nötig, ihnen etwas zurückzugeben – auch mit dem Angebot einer Impfung. In der Ethik nennen wir das Reziprozität.“
Buyx in Die Zeit

Kritischen Geistern wird bei solchen Aussagen von Buyx viel abverlangt: Eine Gesellschaft, die mit ihren „ethischen“ Maßstäben Kinderrechte über anderthalb Jahre an das Ende ihrer Prioritätenliste verbannt hat, will jetzt(!) einen Ausgleich schaffen – mit einer Impfung, die statt Nutzen nur neues Risiko birgt! Eine von der Politik den Kindern völlig unnötig aufgeladene Last wird als Argument für eine medizinisch nicht indizierte Impfung verwendet. Ob hier nicht von Zynismus statt von Ethik gesprochen werden muss, mag jeder selbst beurteilen.

Das ist allerdings noch nicht das Ende der argumentativen Stilblüten. Statt sich endlich zu entscheiden, den Schulbetrieb vom Meldeinzidenz-Regime zu befreien, fordert man gegen etwaige drohende Schulschließungen gesellschaftliche Solidarität durch alte und neue Maßnahmen zum Niederhalten der Inzidenz ein, weil Eltern die Sorge umtreibe…

„…dass wenn ganz ganz viele Infektionen stattfinden, dass dann ein geregelter Schulbetrieb überhaupt nicht möglich ist… Das ist aus meiner Sicht gesellschaftlich betrachtet, und tatsächlich mit Blick auf gesellschaftliche Solidarität, ein ganz starkes Argument zu sagen, dass wir alle gemeinsam für die jüngere Generation uns bemühen, dass die Infektionszahlen nicht so stark steigen. Also, dass man nicht alle Maßnahmen aufgibt…, damit wir noch halbwegs ordentliche Inzidenzen haben, und uns die Schule nicht um die Ohren fliegt.“
Buyx im NDR-podcast

Ein normaler Schulbetrieb wäre auch bei bundesweit hohen Meldeinzidenzen problemlos möglich – ohne Masken, ohne Abstand, wie es Schweden und andere Länder seit Monaten zeigen. Es bedürfte nur einer entsprechenden politischen Entscheidung und z.B endlich der Erkenntnis nur Schüler mit Krankheitsanzeichen nach Hause zu schicken, statt Kontaktpersonen, oder ganze Klassen oder Schulen infolge von Massentests.

Doch Buyx warnt lieber vor „Schwarz- oder Weißlösungen, weil die meistens nicht die Komplexität der Realität abbilden, und meistens dann tatsächlich Dinge außer Acht lassen.“ Das Wort Solidarität wird auf nicht zielführende Maßnahmen gepappt, um sie auch ohne überzeugende Argumente weiterhin verkaufen zu können, obwohl sie nachweisbar nicht hilfreich sind. Verfassungstreue Richter würden urteilen: Nicht geeignet, nicht erforderlich, nicht angemessen – aufgehoben!

Zahlreiche Studien wie z.B. Codaq Bericht Nr. 12 bestätigen: „Insgesamt ist das Ausbruchsgeschehen an Schulen damit im Vergleich zu anderen Infektionsumfeldern eher gering.“ Doch das reicht leider in Deutschland nicht, um Berater und Entscheider zum Umdenken zu bewegen:

„Bevor man darüber nachdenkt, an den Schulen entweder höhere Risiken in Kauf zu nehmen, oder gar Maßnahmen einzuziehen…, da kann ich schon verstehen, dass man dann eher darüber nachdenkt, an anderen Stellen [der Gesellschaft] noch mal nachzujustieren.“
Buyx im NDR-podcast

Welche höheren Risiken an Schulen? Das für Kinder vernachlässigbare Risiko erhöhter Infektionen? Buyx „kann schon verstehen“, was vermutlich viele Eltern nicht verstehen, dass an den Schulen keine öffnenden Schritte hin zu einem einschränkungsfreien Schulbetrieb gemacht werden. Stattdessen soll lt. Buyx der Schulbetrieb über Einschränkungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen sichergestellt werden, indem „man nicht alle Maßnahmen aufgibt…, damit wir noch halbwegs ordentliche Inzidenzen haben.“ Die Gesellschaft soll sich zum Schutz ihrer Schulen also weiter zur Geisel einer seit langem schon zum Kultobjekt erhobenen Meldeinzidenz machen, statt die Schulen nach 18 Monaten desaströsen Chaosbetriebs endlich im Sinne des Kindeswohls in einen von Corona-Maßnahmen befreiten Normalbetrieb zu entlassen.

Obwohl Buyx ausdrücklich darauf verweist, dass die Ethikkommission eine Abkehr von der Meldeinzidenz als alleinige Kenngröße des Coronageschehens empfiehlt, bezieht sie ihre Ausführungen insbesondere zum Schulbetrieb trotzdem allein auf diese, und zwar so, als wäre die Inzidenz kein Indikator sondern ein Ziel.

Prof. Dr. med. Buyx diente infolge ihrer exponierten Stellung als Vorsitzende des Deutschen Ethikrates in diesem Beitrag als Beispiel für Widersprüche und andere Fragwürdigkeiten in Denken und Handeln maßgeblicher Akteure der deutschen Corona-Politik. Es hätten auch beliebig andere Vertreter mit sinn- und logikfreien (Falsch-)Aussagen zitiert werden können. Das zeigt das eigentliche Problem: Akademisch gebildete Menschen oft mit Karriere im Wissenschaftsbereich und privilegiertem Einfluss auf den öffentlichen Diskurs, können einen erschreckenden Mangel an gesundem Menschenverstand und intellektueller Redlichkeit bei gesellschaftlichen Fragestellungen offenbaren. Das sollte Bedenken und Irritation auslösen, auch bei Befürwortern der Corona-Maßnahmen.

Gemeinsam ist solchen Wohlmeinenden oft ein Habitus im Sprachstil, der frei von Zweifel den besten Weg für sich reklamiert und im Duktus wortreicher Überredung, die als Aufklärung auftritt, daherkommt und paternalistisch übergriffig ist. (In Reinform auf welt.de ab Min. 2.20)

Buyx zeigt neben beredsamer Selbstgewissheit auch ein hohes Maß an Konsequenz:

„Angesichts der Daten und Erfahrungen würde ich meine Kinder sofort impfen lassen. … Leider [geht es] nicht. Die sind noch unter zwölf.“
Buyx in Die Zeit

 

Prof. Dr. Alena Buyx ist Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität München. Sie ist Ärztin mit zusätzlichen Abschlüssen in Philosophie und Soziologie. Als Studienleiterin hat Prof. Buyx in den letzten fünf Jahren über 3 Mio. Euro an Drittmitteln für engagierte Ethikforschung eingeworben.

Sie ist seit 2016 Mitglied und derzeit Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.

2019 wurde Prof. Dr. med. Alena Buyx auf Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums in den Beratenden Expertenausschuss der WHO zur Entwicklung globaler Standards für die Steuerung und Überwachung der Bearbeitung menschlicher Genome aufgenommen.

2021 erhielt sie den mit 30.000 Euro dotierten Deutschen Nationalpreis „für ihren Einsatz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt während der Coronakrise“. Der deutsche Nationalpreis soll die Deutsche Einheit fördern.
 

Nachtrag 22.8.2021

Am 18.8.2021, zwei Tage vor Verfassen dieses Beitrages, hatte sich Prof. Buyx bei RTL-direkt zur Impfempfehlung der STIKO wie folgt geäußert:

„Deswegen habe ich mich sehr gefreut, dass jetzt für die 12 bis 17-Jährigen diese umfassende Empfehlung der Ständigen Impfkommission gekommen ist. Aber für die Kinder unter 12 sieht das ja noch anders aus. (Min 12.30)
Frage: Frau Buyx, die Ständige Impfkommission empfiehlt die Impfung für Kinder von 12 bis 17 Jahren. Ist das in Ihrem Sinne?
Oh ja, sehr. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Das hatte sich abgezeichnet. Also die Datenbasis ist jetzt wirklich gut. Es sind über 9 Millionen Jugendliche in den USA untersucht worden, also, das ist jetzt wirklich niet- und nagelfest. Und es gab schon ja vorher eine gewisse Verunsicherung, auch bei Eltern, ganz nachvollziehbar. Es haben sich trotzdem fast 25 Prozent in dieser Gruppe bereits jetzt schon impfen lassen. Aber ich glaube, viel sind jetzt wirklich erleichtert, wenn unsere strenge STIKO hier sozusagen das O.K. gibt, dass dann auch noch mal Viele sich impfen lassen werden. Dann kann man sich nämlich jedenfalls für diese Altersgruppe einfach ein bisschen mehr entspannen. Also gerade für die Schulen glaub ich, ist das wirklich wichtig. Sorge, würde ich ganz offen sagen, macht mir natürlich die Situation insbesondere an den Grundschulen, wo es eben noch keine Rolle spielt.“ (Min 14.50)

Ethikratsvorsitzende Buyx: Deswegen muss man noch aus allen Rohren feuern, was das Impfen anbelangt (Teil1)

Teil 1 jetzt auch als Podcast

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