Mindestlohn: Kein Lernen aus Fehlprognosen

26. 02. 2020 | Wissenschaftler der Mindestlohnkommission haben untersucht, warum einflussreiche Ökonomen mit ihren Warnungen vor großen Jobverlusten so falsch lagen. Die Gemeinten sehen das anders. Einer der übereifrigen Warner ist seit Kurzem selbst Mitglied der Kommission. …

Im Januar 2015 wurde in Deutschland trotz jahrelanger nachdrücklicher Warnungen von Ökonomen eine allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro eingeführt. Inzwischen liegt sie bei 9,35 Euro. Die Warnungen vor Beschäftigungsverlusten in der Größenordnung von bis zu einer Million Arbeitsplätzen stellten sich später als viel zu hoch heraus.

Die Mindestlohnkommission ist für die regelmäßige Anpassung der Lohnuntergrenze zuständig. Ihr Geschäftsstellenleiter, Oliver Bruttel, hat mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern in der Zeitschrift „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“ untersucht, was die eifrigsten Warner von damals in die Irre geführt hat.

Das ist mehr als Vergangenheitsbewältigung. Denn derzeit wird von Linken, Grünen und der SPD eine kräftige Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro gefordert. Eine Aufarbeitung von Fehlprognosen der Vergangenheit kann helfen, Ähnliches in der aktuellen Diskussion zu vermeiden oder zu erkennen.

Im Mittelpunkt der Analyse stehen die besonders einflussreichen und alarmistischen Prognosen von Andreas Knabe, Ronnie Schöb und Marcel Thum aus dem Umfeld des Ifo-Instituts sowie von einem Team um den damaligen Leiter des inzwischen zerschlagenen Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann. Erstere sagten Beschäftigungsverluste von bis zu 900.000 Stellen voraus. Das Zimmermann-Team prognostizierte 570 000 wegfallende Arbeitsplätze, bei einer gleichzeitigen Zunahme der Arbeitsplatzsuchenden um 200.000.

„Die Beschäftigungsentwicklung seit Einführung des Mindestlohns lässt keine erheblichen negativen Effekte erkennen.

Daneben werden die Stellungnahmen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kritisch analysiert. Die „Wirtschaftsweisen“ warnten jahrelang sehr eindringlich vor „deutlich negativen Beschäftigungswirkungen“ eines Mindestlohns. In Kontrast dazu fiel allerdings im Herbst 2014 ihre konkrete Prognose dieser Beschäftigungsverluste mit 100.000 Minijobs und 40.000 sozialversicherungspflichtigen Stellen moderat aus.

„Die Beschäftigungsentwicklung seit Einführung des Mindestlohns lässt keine erheblichen negativen Effekte erkennen“, fasst das Team um Bruttel den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zusammen. Die Zahlen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung seien nach Einführung des Mindestlohns deutlich gestiegen, und zwar speziell in Regionen und Branchen, in denen der Mindestlohn besonders stark griff. Ohne Mindestlohn wären sie nach unterschiedlichen wissenschaftlichen Auswertungen nur geringfügig stärker oder weniger stark gestiegen. Die Zahl der Minijobs scheint dagegen durch die Lohnuntergrenze um bis zu 100.000 Stellen gesunken zu sein.

Die drei Wissenschaftler machen vor allem drei Gründe für übertrieben negative Erwartungen aus: eine Festlegung auf ein einziges theoretisches Analysemodell unter Missachtung konkurrierender Modelle, eine „verzerrte Wahrnehmung der internationalen Evidenz“ und ideologische Voreingenommenheit.

Ausgerechnet Lars Feld zum Kommissionsmitglied berufen

Pikant: Mitte Dezember hat die Bundesregierung einen Ökonomen zum wissenschaftlichen Mitglied der Mindestlohnkommission berufen, der an den kritisch analysierten Einlassungen des Sachverständigenrats beteiligt war, den Wirtschaftsweisen Lars Feld.

Die Wissenschaftler der Mindestlohnkommission bemängeln, dass von den Prognostikern allein auf die neoklassische Arbeitsmarkttheorie zurückgegriffen wurde. Diese geht unrealistischerweise von einem vollkommenen Wettbewerb der Arbeitgeber um Arbeitskräfte aus, und davon, dass eine individuelle Produktivität jedes Arbeitnehmers die Höhe von dessen Lohn bestimmt. In diesem Analyserahmen fallen alle Arbeitsplätze weg, für die der Mindestlohn die Lohnkosten über die Produktivität treibt.

Sie zitieren den renommierten Arbeitsmarktexperten Alan Manning (Princeton) mit den Worten: „Es ist wichtig, den Arbeitsmarkt auf Planet Econ 101 nicht mit dem Arbeitsmarkt auf Planet Erde zu verwechseln.“ Econ 101 steht dabei für einen Ökonomie-Einführungskurs.

„Es ist wichtig, den Arbeitsmarkt auf Planet Econ 101 nicht mit dem Arbeitsmarkt auf Planet Erde zu verwechseln.

Ein konkurrierender Ansatz geht davon aus, dass Arbeitgeber gerade im Niedriglohnbereich Marktmacht haben, da Arbeitnehmer nicht leicht in Pendelentfernung einen geeigneten freien Arbeitsplatz zum Wechseln finden. Falls der Mindestlohn nur einen Ausgleich für durch Marktmacht gedrückte Löhne schafft, würde er keine Beschäftigungsverluste bewirken. Theoretisch sind sogar Beschäftigungsgewinne denkbar.

Der keynesianische Ansatz schließlich betont positive Nachfrage- und Beschäftigungswirkungen von höheren Löhnen. Diese könnten die negativen Folgen höherer Lohnkosten dämpfen oder aufwiegen.

Die Warner hätten auch versäumt, alternative Anpassungsmöglichkeiten wie geringere Arbeitszeit, Arbeitsverdichtung, geringere Gewinne und höhere Preise in Erwägung zu ziehen, identifiziert das Team eine weitere Fehlerursache.

Ideologie statt Empirie

Außerdem spreche einiges dafür, dass die Modellierung der Beschäftigungsreaktionen „stärker als wünschenswert normativ geprägt war“, stellen die Autoren in feinem Understatement fest. Das gelte auch für die Darstellung der damals schon verfügbaren internationalen Erfahrungen mit Mindestlöhnen.

So hätten die beiden Forschergruppen und der Sachverständigenrat den Eindruck vermittelt, die internationalen Forschungsergebnisse zu Mindestlöhnen würden negative Beschäftigungseffekte nahelegen.

Die Wirtschaftsweisen etwa stuften summarisch diejenigen internationalen Studien, die Beschäftigungsverluste ermittelten, als zuverlässiger und aussagekräftiger für Deutschland ein. Den deutschen Mindestlohn im internationalen Vergleich hätten sie zudem unzutreffend als besonders hoch dargestellt, stellt das Bruttel-Team fest.

Konjunktur als Ausflucht

Die Warner beriefen sich später darauf, dass eine unerwartet gute Konjunktur dafür gesorgt habe, dass die befürchteten Beschäftigungsverluste nicht eintraten. Das Team der Mindestlohnkommission betrachtet das als Ausflucht, denn: „Aufgrund der zugrunde gelegten neoklassischen Annahmen sollten die Wirkungen konjunkturunabhängig sein“, sodass die Konjunktur nicht nachträglich als Rechtfertigung für nicht eingetretene Prognosen verwendet werden könne.

Es wird sich zeigen müssen, ob Feld die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Kommission überzeugen kann – oder umgekehrt. Bis zu ihrer letzten Auseinandersetzung mit dem Thema im Jahresgutachten 2017 jedenfalls blieb die Sachverständigenratsmehrheit, der Feld angehört, bei ihrer sehr kritischen Haltung.

Basis dafür ist offenbar weiterhin die neoklassische Theorie. Unter anderem schreiben sie: „Wenngleich sich angesichts der guten konjunkturellen Lage bislang kaum ungünstige Konsequenzen des Mindestlohns gezeigt haben“, erschwere dieser „die Zugangsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt für Personen mit vergleichsweise niedriger Produktivität“.

Knabe, Schöb und Thum jedenfalls lassen die Kritik an ihren „Fehlprognosen“ nicht gelten. „Prognosen und tatsächliche Beschäftigungswirkungen des Mindestlohns unterscheiden sich gar nicht wesentlich“, argumentieren sie in einer Replik in den „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“. Statt einer Reduktion der Zahl der Arbeitsplätze habe sich die Zahl der Arbeitsstunden je Beschäftigten vermindert. Auch würden viele Arbeitnehmer den Mindestlohn gar nicht erhalten, sodass naturgemäß die Beschäftigungswirkung geringer ausfalle.

Abschließend sei noch angemerkt, dass das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in einer aktuellen Studie zu folgender Schlussfolgerung kommt:

„Bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 wechselte ein Teil der vom Mindestlohn betroffenen Beschäftigten in produktivere Betriebe. Das geht aus einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des University College London (UCL) hervor. Die Studie zeigt, welche Mechanismen dazu beitrugen, dass die Löhne der zum Mindestlohn Beschäftigten deutlich stiegen, ohne dass die Beschäftigung zurückging.

Diesr Mechanismus fand natürlich in keiner der Analysen der Warner Erwähnung.

[26.2.2020]

Siehe zur Mindestlohnevaluation auch:

Fast nichts spricht für einen deutlich höheren Mindestlohn

Stellungnahme von Andreas Knabe und Ronnie Schöb (zu einem Beitrag von mir über Interessenkonflikte)

Zum Mechanismus der Mindestlohnanhebung (und zur zugegebenen „Stimmungsmache“ von Ronnie Schöb):

Die mickrige Anhebung des Mindestlohns hat Methode

Zum Sachverständigenrat und dem Mindestlohn:

Täuschende Wirtschaftsweise 2016 (1): Mindestlohn – Mehr auf Arbeitgeberlinie als die Arbeitgeber selbst

Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen: Teil 6 – Gegen den Mindestlohn

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