Vorläufige Anwendung von CETA – EU-Kommission blamiert das Bundesverfassungsgericht

14. 02. 2017 | Wilfried Pürsten. Am 15. 2. wird das Europaparlament über CETA entscheiden. Gleich anschließend wird der Ministerrat über den Beginn der vorläufigen Anwendung befinden. Endgültig in Kraft treten soll CETA, wie es heißt, erst mit Abschluss der Ratifizierungen in allen Mitgliedsstaaten. Die sogenannte“ vorläufige“ Anwendung wird eine endgültige Anwendung sein: Sie wird nur beendet werden können, wenn die Ratifizierung in den Mitgliedsstaaten scheitert.

Die Kommission hat stets betont, dass es eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch einzelne Mitgliedsstaaten nicht geben wird („CETA: Österreich kann vorläufige Anwendung nicht allein beenden.“ Standard vom 23. 12. 16). Die rechtlichen Argumente dazu finden sich in einem vertraulichen Gutachten des Juristischen Dienstes des Europäischen Parlaments von Ende November 2016. Ein versteckter Hinweis darauf war bereits im Bericht des Brüsseler Büros des Bundestages vom 12. 12 2016 zu finden.

Die Entscheidung über die Beendigung wird nach der überzeugenden Argumentation des Gutachtens analog zur Entscheidung über die vorläufige Anwendung zu treffen sein, das heißt durch eine Entscheidung des Ministerrates entsprechend Art. 218 Abs. 5 des Lissabon-Vertrages. Das Gutachten hält es für vertretbar, hier nicht nur eine qualifizierte Mehrheit, sondern Einstimmigkeit zu verlangen. Voraussetzung der Entscheidung ist in jedem Fall ein entsprechender Vorschlag der Kommission (Gutachten SJ-0728/16, Rdn. 49).

BVG urteilte auf Basis der Rechtsmeinung der Regierung

Das Bundesverfassungsgericht hatte das in seinen beiden Entscheidungen vom 13. 10. und 5.12. 2016 ganz anders entschieden. Es folgte damit kritiklos der fragwürdigen Version des Wirtschaftsministeriums.

Im Verfahren zu den Verfassungsbeschwerden gegen CETA hat das Verfassungsgericht seine Folgenabwägung im Wesentlichen deshalb zugunsten der Bundesregierung ausfallen lassen, weil es der Bundesrepublik jederzeit möglich sei, die vorläufige Anwendung einseitig „durch schriftliche Notifikation“ zu beenden. Vor allem deshalb seien schädliche Folgen durch die zunächst für den 18. 10. 2016 vorgesehene Entscheidung des Ministerrats nicht zu befürchten.

Zwar sei die Interpretation des Art. 30.7 Abs. 3 c CETA-E im Sinne einer einseitigen Beendigungsmöglichkeit, wie sie von der Bundesregierung vorgetragen worden wird, „nicht zwingend.“ Sie sei jedoch so von der Bundesregierung als zutreffend vorgetragen worden (Urteil vom 13. 10., Rdn. 72). Bemerkenswert ist, dass das Gericht auf jede Bewertung der juristisch eigentlich haltlosen Argumentation der Bundesregierung verzichtet  und die Kritik der Kläger sowie der Kommentarliteratur dazu mit keinem Wort erwähnt. Die Auflage des Gerichts beschränkte sich darauf, die Bundesregierung zu verpflichten „dieses (vom Gericht nicht geteilte) Verständnis … in völkerrechtlich erheblicher Weise zu erklären und ihren Vertragspartnern zu notifizieren.“ (Urteil vom 13. 10. 2016, Rdn. 72). Zweifel an der Interpretation wären schon deshalb angebracht gewesen, da Art. 30.7 CETA-E von einer Notifikation „gegenüber der anderen Vertragspartei“ spricht, also von nicht mehr als zwei Vertragsparteien, also Kanada und EU, ausgeht. (Die Formulierung des CETA-Vertragstextes beruht wohl darauf, dass hier wegen einer redaktionellen Nachlässigkeit ein Textbaustein aus einem Verhandlungsstand stehen geblieben ist, zu der CETA als reines EU-only-Abkommen abgeschlossen werden sollte.)

Auflage wurde nicht erfüllt

Zur Erfüllung der gerichtlichen Auflage zur vorläufigen Anwendung hat Deutschland (gemeinsam mit Österreich) eine im Wesentlichen den Vertragstext wiederholende Erklärung notifiziert, in der sie darauf hinweist, dass Deutschland als Vertragspartei ihre Rechte aufgrund Art. 30.7 Abs. 3 c CETA ausüben könne (Nr. 21 der Erklärungen für das Ratsprotokoll vom 27. 10. 2016). Zum Verfahren der Beendigung wird dort angeführt: „ Die erforderlichen Schritte werden gem. den EU-Verfahren unternommen werden.“ Das EU-Verfahren zur vorläufigen Anwendung ist im Art. 218 Abs. 5 AEUV als Beschluss des Ministerrats und nicht einer einzelnen Regierung geregelt.

Die Umsetzung der Auflagen des Gerichts wurde in Eilanträgen vom 28. und 29. 10. 2016 (u.a. von der Linksfraktion und von Mehr Demokratie) beanstandet mit dem Ziel, der Bundesregierung die Beteiligung an dem nunmehr für den 28. 10. 2016 vorgesehenen Beschluss zur v. A. zu untersagen. Es wurde insbesondere beanstandet, dass das vom Gericht auferlegte einseitige Beendigungsrecht keineswegs sichergestellt sei. In der erwähnten Ratserklärung Nr. 21 sei das Recht zur Beendigung in ein Recht umgewandelt worden, darüber eine Entscheidung des Ministerrats herbeizuführen.

In seinem wenig beachteten Beschluss vom 5. 12. 2016/12. 1. 2017 hat das Gericht dazu nur einen nichtssagenden Kommentar übrig: „Es ist aber nicht ersichtlich, dass durch diese Bezugnahme (auf die Verfahrensweisen nach dem Lissabon-Vertrag, s. o.) das Recht aus Art. 30.7 Abs. 3 c CETA zur einseitigen Beendigung der vorläufigen Anwendung eingeschränkt würde“ (Beschluss vom 5. 12. 1026, Rdn. 31). Die von den Klägern ausdrücklich vorgetragenen rechtlichen Konsequenzen dieser Bezugnahme, wonach hier das Beendigungsrecht den Regeln der EU untersteht und somit nicht mehr autonom einem Mitgliedsstaat, werden nicht einmal erwähnt (vgl. Eilantrag der Linksfraktion vom 28. 10. 2016, S. 14, 15 ). Gleiches gilt für die Erklärung des Rates (Nr. 20 der Erklärungen für das Ratsprotokoll vom 27. 10. 2016), die eine Beendigung der vorläufigen Anwendung nur für den Fall erwähnt, dass CETA „auf Dauer und endgültig scheitert.“

Juristischer Dienst des EP von Erklärung unbeeindruckt

Die Bedeutungslosigkeit der Erklärung der Bundesregierung für das Ratsprotokoll zur vorläufigen Anwendung (Nr. 21 der Erklärungen für das Ratsprotokoll vom 27. 10. 2016) wird auch im Gutachten des Juristischen Dienstes hervorgehoben: Es erwähnt die Erklärung nur als „Information über die innerstaatliche Implementierung von CETA“(Rdn. 22 des Gutachtens). Die Auflage im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. 10., das eine Erklärung und Notifizierung der keineswegs naheliegenden Interpretation der Bundesregierung „in völkerrechtlich erheblicher Weise“ verlangt hatte, ist danach eindeutig verfehlt worden.

Der Beschluss des BVerfG vom 5. 12. 2016 endet mit der salvatorischen Klausel, dass etwaige „Zweifel an der Bedeutung dieser Erklärung jedenfalls dadurch ausgeräumt worden seien, dass die Schreiben des ständigen Vertreters der BRD bei der EU auf das Urteil vom 13. 10. 2016 verweisen, das hinsichtlich der Erforderlichkeit, die vorläufige Anwendung beenden zu können, eindeutig sei.“ (Rdn. 32). Auch das Bundesverfassungsgericht kennt also rechtliche Zweifel, hält es aber aus geheimnisvollen Gründen nicht für opportun, diese in ihrer Entscheidung, das heißt öffentlich zu diskutieren.

Nach Eintritt der vorläufigen Anwendung von CETA ist die Meinung des BVerfG für das weitere Verfahren rechtlich nicht weiter interessant.

Die vagen und nicht transparenten Begründungen des BVerfG in seinen Entscheidungen vom 13. 10. und 5. 12. 2016 scheinen einen Satz zu bestätigen, den Paul Magnette in seiner Rede vom 15. 10. 2016 vor dem Parlament von Wallonien vorgetragen hat: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ (I. Kant, Vom Ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe Band VIII, S. 381).

Hoffnung auf eine baldige Beendigung des CETA-Vertrages besteht allerdings noch. Zwar wird die vorläufige Anwendung nach einem langwierigen Verfahren nur bei Einstimmigkeit oder qualifizierter Mehrheit im Ministerrat zu beenden sein. Durch eine überraschende Regelung im CETA-Vertrag (eine der vielen Ungereimtheiten des Vertrages, vgl. dazu die Zusammenfassung von CETA durch die Unterabteilung PE des Deutschen Bundestages von September 2016, Seite 30) kann die Beendigung des Vertrages insgesamt als kurzer Prozess gestaltet werden: Art. 30.9 Abs. 1 CETA-E sieht tatsächlich ein vorbehaltloses Austrittsrecht für jeden einzelnen Mitgliedsstaates vor mit der Folge, dass CETA durch einseitige Erklärung eines Mitgliedsstaates 180 Tage nach Notifikation außer Kraft tritt.

Die Regelung in Art. 30.9 steht in offenkundigem Wertungswiderspruch zu Art. 30.7 Das Ergebnis der Beendigung der vorläufigen Anwendung nach Art. 30.7., das nach Ansicht von  Kommission und Rat ja einer Beendigung von CETA gleichkommt (vgl. Nr. 20 der Erklärungen für das  Ratsprotokoll), läßt sich über Art. 30.9 viel einfacher erreichen.  Es ist derzeit völlig unklar, wie dieser Widerspruch in der Praxis aufgelöst werden soll. Kann von der Ausstiegsklausel erst nach der Ratifikation von CETA Gebrauch gemacht werden? Was geschieht beim Scheitern der Ratifizierung in einem Land: Ist die Erklärung des Scheiterns durch die Regierung als Fall des Art. 30.9 zu werten? Ist der Ausstieg nach Art. 30.9 im Falle des Scheiterns der Ratifzierung in einem Land ausgeschlossen, weil hier Art. 30.7 als Spezialregel vorginge? Es handelt sich um eine der Ungereimtheiten, die sich  im Abkommen an verschiedenen Stellen finden, und von denen viele erst spät nach genauer Analyse des Vertragstextes zu Tage treten. (Dieser erläuternde Absatz wurde nachgetragen. N.H.)

[14.2.17]

Hinweis (N.H.): Warum Ceta gerade unter einem Präsidenten Trump für Europa schlimme Folgen haben kann, lesen Sie hier: Cem Özdemir will uns in Sachen Ceta zum Narren halten

Print Friendly, PDF & Email