Katharina Pistor: Digitalplattformen machen den Nationalstaaten die Macht streitig

21. 02. 2021 | Digitalisierung schafft vielschichtige Machtverhältnisse jenseits nationaler Grenzen. Daraus könnte sich eine neue Form der Staatlichkeit entwickeln, mit Kunden statt Bürgern, analysiert Columbia-Rechtsprofessorin Katharina Pistor in diesem Gastbeitrag.

Katharina Pistor. Prozesse grundlegender Transformation werden oft erst im Nachhinein als solche erkannt. Die Entstehung einer Welt souveräner, territorial gebundener Staaten wird heute allgemein auf den Abschluss der Westfälischen Verträge von 1648 datiert.

Die Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts allerdings haben inmitten der dramatischen politischen Veränderungen die Bedeutung dieses Datums für die künftig Entwicklung der Staatenwelt in Europa kaum erkannt. Die Konturen des territorialen Nationalstaats waren nur schablonenhaft in der Gemengelage von Machtbefugnissen der Kleinfürsten, Monarchen und kirchlicher Gewalt zu erkennen.

400 Jahre später tun wir uns nicht minder schwer, die Bedeutung der vielschichtigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformation durch die technologische Entwicklung zu begreifen, die sich vor unseren Augen abspielt. Eine zentrale Frage ist, ob auch sie zur Entstehung eines neuen Typus der Souveränität führen könnte, der Daten-Souveränität.

Digitale Staatlichkeit hat ihre Wurzeln nicht in der Gewalt über ein Territorium und seine Bewohner, sondern in der Gewalt über Daten. Die digitale Erfassung des Verhaltens Einzelner kann doppelt genutzt werden: als Quelle materiellen Reichtums, die Steuern und Abgaben überflüssig macht, und als Überwachungssystem für politische und soziale Steuerung.
Die Datenerfassung wird derzeit noch durch konventionelle Ordnungssysteme wie vertragliche Vereinbarungen oder staatliche Verbote, etwa von Datenerhebung ohne Einwilligung, gesteuert. Doch hat die Zustimmung per Mausklick zu Verträgen, die niemand zu lesen die Zeit hat, mit einer wirklichen Willenserklärung nicht mehr viel zu tun.

Allianz zwischen Altstaaten und Big Tech

Anders als die staatliche erstreckt sich digitale Herrschaft global auf alle, die eine bestimmte digitale Plattform betreten oder von Kameras und Sensoren erfasst werden, die in Telefone, Computer, Autos und Haushaltsgeräte eingebaut werden. Über die Zwecke, für die die Daten genutzt werden, entscheiden die Datenerfasser und deren Kunden.

Eine Verantwortlichkeit gegenüber den Datenproduzenten gibt es nicht. In dieser Letztentscheidungsgewalt, die keiner effektiven Kontrolle unterliegt, findet sich der Kern einer neuen Souveränität.

Allerdings sind die digitalen Machthaber nicht ganz unabhängig von territorialer Gewalt, denn ihr großer Energiebedarf muss gedeckt werden, und Datenfarmen müssen irgendwo auf der Welt ihren Platz haben. Die Frage ist nur, ob diese Abhängigkeit sie gegenüber Territorialstaaten rechenschaftspflichtig macht oder ob sie stattdessen Altstaaten zu Vasallen ihrer Interessen machen.

Denkbar wäre auch eine Allianz zwischen Altstaaten und Big Tech. Letzteres würde Einzelpersonen wenig Spielraum lassen, sich einer vollständigen Überwachung zu widersetzen. Wenn sich die Staatlichkeit im digitalen Zeitalter dieser Hypothese zumindest annähert, wird sie eine andere Art von Staat und einen neuen Typus von Souverän repräsentieren: den Daten-Souverän.

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