Es gibt etwas zu lernen für mich aus Härings Text: z.B., dass ich an manchen Stellen besser von „voreiliger“ anstatt von „sachwidriger“ Moralisierung einer Angelegenheit sprechen sollte, weil, wie er treffend ausführt, auch bei banalen Beispielen wie dem Streit um den Wocheneinkauf oder ein Lebensmitteletikett unterschiedliche Werte der beteiligten Parteien die letztlich entscheidende Rolle spielen können. Insbesondere wenn jede Einigungsbemühung verweigert werde, könne die moralische Konfrontation dieser Wertedifferenz der richtige, vielleicht einzig mögliche Weg sein, die Debatte fortzusetzen. Das stimmt, und ich habe das übersehen.
Bemerkenswert an der Rezension sind aber leider nicht solche scharfsinnigen Einwendungen, sondern dass Herr Häring sehr klar gesteht, ab welchem Punkt er keine „Bereitschaft“ mehr aufbringen kann, mir zu folgen.
„Mein Widerspruch bezieht sich darauf, dass Andrick – erkennbar bewusst – darauf verzichtet, Aspekte wie Propaganda und bewusste psychologische Manipulation der Massen mit zu beleuchten. Er konzentriert sich ausschließlich auf den gegenseitigen Umgang der Gestressten und gegeneinander in Stellung gebrachten Gruppen. Er ruft die Insassen des Moralgefängnisses zu guter Führung auf, damit sie – allesamt – vorzeitig daraus entlassen werden. Wer sie für welches Vergehen in dieses Gefängnis gesteckt hat, bleibt dabei außen vor.“
Offenbar endete die Bereitschaft des Rezensenten, mir zu folgen, bereits beim Inhaltsverzeichnis; denn daraus ist ersichtlich, dass ich „Propaganda“ und „bewusste psychologische Manipulation der Massen“ z.B. im Kapitel „Volkserziehung im Moralgefängnis“ und im Abschnitt „Die Möglichkeit eines totalitären Staates“ in mehreren ihrer aktuellen Ausprägungen behandle; nur eben nicht in einer auf die letzten vier oder fünf Jahre und die Corona-Krise allein geeichten Form. Mein Buch ist ab Kapitel 3 lange gar nichts anderes als eine Strukturanalyse spalterischer Praktiken und Institutionen, die uns alle betreffen und an denen wir manchmal vielleicht selbst teilnehmen.
In der Folge des Zitats geht Herr Häring überführungslustig und geradezu textdetektivisch vor, um mir nachzuweisen, dass ich mich um die klare Beantwortung der Frage, wer die Hauptlast der Schuld am vergifteten Sozialklima trägt, herumdrücke und meine Positionierung dazu in Fußnoten unterbringe, die, wie er meint, „in den Haupttext“ gehört hätten. Und das, obwohl doch jeder „schon aus dem Inhaltsverzeichnis“ (das er also doch wohl angesehen haben muss) wisse, wie ich etwa die Corona-Politik selbst beurteile und wie ich dort die Verantwortungsverteilung für die Missstände sehe, die mein Buch motivieren.
Indessen möchte ich in meinem Buch nicht der Frage „entkommen“, die Herr Häring gern von mir beantwortet hätte (und die ich, mit Verlaub, in meinen Kolumnen, Essays und Interviews 2020-2023 so schonungslos und frühzeitig in verschiedenen Medien beantwortet habe wie gar nicht so viele andere Autoren in Deutschland) – sondern ich möchte meine eigene aktuelle Frage beantworten: Was verursacht unser Diskurselend, unser angstbesetztes und geradezu paranoisches Diskussionsklima? Und wie können wir selbst und alle anderen – denn es geht mir um prinzipielle Einsichten – etwas zu seiner Besserung beitragen?
Ich bin Philosoph; die Dinge interessieren mich im unbestimmten Artikel: eine Krise zu erklären ist begrifflich wertvoller als diese (eine) Krise zu sezieren, wobei letzteres für die Einflussnahme auf die Tagespolitik wichtig und ein gutes Betätigungsfeld kritischer Journalisten ist.
Im Buch erkläre ich mein philosophisches Anliegen so:
„Machen genügend Menschen bei spalterischen Praktiken mit, so verformt sich die private und die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft derart, dass ein zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert. Wir sitzen dann in einer selbsterbauten Zwingburg, die ich das Moralgefängnis nenne … Der längste Teil dieses Essays ist deshalb der Darstellung und Analyse zentraler Aspekte unserer bundesrepublikanischen Kultur gewidmet. Die Details des Geschehens der letzten Jahre, die Feinheiten der Corona-, Ukraine- oder sonst einer Debatte beschäftigen mich dabei nicht. Mich interessiert als Philosoph hier nur, was sich an diesem Geschehen offenbart hat – wie es zu verstehen ist oder wovon es zeugt. Welche Verhaltensweisen und welche psychologischen Mechanismen spielen eine Rolle? Was für eine soziale Dynamik erzeugen diese Faktoren? … Gibt es typische gedankliche und sprachliche Operationen, die das ungedeihliche Diskussionsklima in Deutschland erklären (und die wir vielleicht auch selbst praktizieren)?“
Es hätte Herrn Härings Rezension von „Im Moralgefängnis“ gut getan, die darin vorgestellte begriffliche Ordnungsarbeit zum Thema Spaltung, Moral, Moralisierung und Demagogie sachgerecht zu würdigen, anstatt eine von seiner eigenen abweichende publizistische und politische Absicht zu einer Schwäche der präsentierten Theorie umzudeuten.
Die von mir angebotene Theorie hat Häring, ich muss es leider sagen, gar nicht in Gänze zur Kenntnis genommen. Sonst könnte er nicht schreiben:
„Wenn es stimmen würde, dass die Wiederverständigung nach der Spaltung unabhängig von der spalterischen Rolle der Mächtigen stattfinden kann, könnte man ihm als Autor problemlos zubilligen, dass er entscheidet, worauf er sich mit seinem Buch konzentrieren will. Weil es aber nicht stimmt, ist diese Selbstbeschneidung aus meiner Sicht ein grober Fehler, der erhebliche Schwächen in der Argumentation nach sich zieht.“
Ich erkläre Spaltung als Handlungsweise und beschreibe in ganzen Abschnitten exakt, wie sie m.E. funktioniert. Es ist unangemessen, meine Kernthese, Spaltung müsse als Tätigkeit und nicht als Zustand analysiert werden, als „haarspalterisch“ zu bezeichnen. Die Argumentation des Buchs beruht zu einem guten Teil auf dieser These. Es ist also für eine Rezension ungenügend, sie geschmäcklerisch abzuqualifizieren, sondern sie müsste stichhaltig widerlegt werden, so man sie denn bezweifelt. Und ich halte in meinem Text ausdrücklich mehrfach fest, dass die Reichweite und die Machtbefugnisse eines Menschen, der spalterisch handelt, sein Maß an Verantwortlichkeit für die Vergiftung des sozialen Klimas festlegen.
Herrn Häring erwidere ich also, dass selbstverständlich die Rolle der Mächtigen im Spaltungsgeschehen verstanden werden muss – dass es aber zugleich für die Heilungsarbeit in unserem sozialen Nahfeld wohl fast noch wichtiger ist, die Prinzipien spalterischen Handelns und seine Wirkungen zu begreifen. Denn diesen Prinzipien unterliegt das spalterische Handeln des Bundeskanzlers und seiner Putzkraft gleichermaßen, ebenso wie meines.
Mir eine „wirklichkeitsfremde Gleichgewichtung der Rolle der beiden Fraktionen bei der Durchseuchung der Gesellschaft mit dem Moralin-Virus“ vorzuwerfen bedeutet einfach, Fraktionismus in ein Buch tragen zu wollen, dass gerade begrifflich über Fraktionismus hinauskommen und Beschreibungen ermöglichen will, die allen Streitparteien prinzipiell jedes Konflikts neue Einsichten ermöglichen sollen.
Die Philosophie kann das Allgemeine, also das potentiell Verbindende, klarstellen und damit die Grundlage für Verständigung schaffen. „Spaltung verstehen und überwinden“, das Projekt aus dem Untertitel meines Buchs, verweist auf die Möglichkeit einer solchen Begrifflichkeit, die ich dann auch liefere. Ob sie völlig überzeugen kann, das bleibt zu untersuchen und ich freue mich auf die weitere Diskussion mit meinen Kritikern.
Der von mir angebotene Begriffsapparat ermöglicht aber schon in seiner jetzigen Form ganz reale Verständigung über die Lagergrenzen der Corona-Jahre hinweg. Meine These „Spaltung lebt vom Mitmachen“ und ihre Begründung waren der wesentliche Einladungsgrund zu Interviews im RBB Inforadio, im Fernsehen des Bayerischen Rundfunks, im Redaktionsnetzwerk Deutschland sowie zu Online-Gesprächsformaten wie Jasmin Kosubek.
Härings in der Rezension geäußerte Vermutung, dass diejenigen, die in den Corona-Jahren konformistisch mitmachten, mein Buch nicht lesen würden, ist also von der Wirklichkeit widerlegt. Der RBB, der BR und das RND sind gerade solche „einflussreiche Medien“ mit „kultureller Lufthoheit und finanzieller und ideeller Unterstützung der Mächtigen“, die seines Erachtens mein Buch links liegen lassen werden.
In seiner Rezension unterläuft Herrn Häring meines Erachtens eine logische Ebenenverwechslung von Überlegungen zu systematischen Zusammenhängen, die allgemeiner Natur sein müssen, mit Beurteilungen der einen oder anderen empirischen oder politischen Sachlage („Was ist genau passiert? Und wer ist schuld?“, sei es im Falle Ukraine, Corona oder betreffs sonsteiner Thematik).
Wer diese Unterscheidung von Betrachtungsebenen nicht einhält oder sie – vielleicht aus normativem Engagement in der einen oder anderen politischen Sache der Gegenwart – nicht anwenden mag, der kann keine Philosophie treiben, sondern nur Partei in den Streitigkeiten der Gegenwart ergreifen.
Und er kann auch kein philosophisches Buch anders denn als missglücktes Kampfpamphlet für die gerechte Sache rezensieren – wobei anhand irgendwelcher Geschehnisse der Gegenwart vom Rezensenten festgelegt wird, was die gerechte Sache ist, für die der rezensierte Autor sich gefälligst zu engagieren hat.
Eine kurze Antwort
Ich danke Michael Andrick für die prägnante und offenherzige Replik. Ein Hinweis ist mir wichtig: Meine Feststellung, dass Moralisieren auch angemessen sein kann, welche er zu Beginn seiner Replik freundlich würdigt – ist kein Hinweis auf eine nebensächliche Ungenauigkeit seinerseits. Sie ist vielmehr das Fundament meiner Kritik am Konzept seines Buches.
Herr Andrick befasst sich ganz überwiegend nur mit unangemessenem „Moralisieren“, an einem Anwendungsfall, bei dem meiner Meinung nach unterschiedliche Wertvorstellungen eine sehr wichtige Rolle spielen. Diese müssen für eine konstruktive Aufarbeitung angesprochen und diskutiert werden, Dazu gehören Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung, Ehrlichkeit, Gesundheit, Toleranz, Autorität und Solidarität, die unterschiedlich verstanden und gewichtet werden. Insbesondere wenn jede Einigungsbemühung verweigert wird, kann die moralische Konfrontation dieser Wertedifferenzen der richtige, vielleicht einzig mögliche Weg sein, die Debatte fortzusetzen. Das gilt eben nicht nur beim Konflikt darüber, wer in der Familie wann welche Arbeiten leisten sollte, sondern auch bei gesellschaftlichen Konflikten, wie sie während Corona eskaliert sind.