Laut dem von Infratest für die ARD ermittelten Deutschlantrend vom 3. Juli sind nur 19% der Befragten mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden und über 80% unzufrieden. Dies ist jedoch keine neue Entwicklung, denn bereits in den Vorjahren gab es vergleichbare hohe Unzufriedensheitswerte: 80% im August 2023, 71% im Oktober 2022.
Die dauerhaft hohen Ablehnungswerte der Ampelregierung in Telefonumfragen wurden durch die Wahlen zum EU-Parlament bestätigt. In Frankreich und Großbritannien erkannte man angesichts niedriger Zustimmungswerte ein Legitimitätsproblem für die Regierung und hielt Neuwahlen ab. Doch die deutsche Regierung lässt sich von Legitimitätsfragen nicht irritieren, und scheint fest gewillt, auch gegen dauerhaft deutlichste Ablehnung bis zum Ende der Wahlperiode weiter zu regieren.
Kann man bei einem derartigen Widerspruch zwischen Volk und Regierenden noch von Demokratie sprechen? Wenn für Demokratie die Volkssouveränität als Maßstab gelten soll, muss die Frage mit Nein beantwortet werden. Ist ein Volk nach einer Wahl vier Jahre zum Zuschauen verurteilt, weil es über keinerlei Verfahren verfügt, die Regierenden auch vor Ablauf der Wahlperiode abzuwählen, ist es nicht souverän. Denn es befindet sich in sprichwörtlicher Ohnmacht gegenüber seinen selbst gewählten Regierungspolitikern. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Regierten und Regierenden ist auf den Kopf gestellt. In Deutschland können Neuwahlen nur nach einer im Bundestag gescheiterten Kanzler-Vertrauensfrage eingeleitet werden, denen der Bundespräsident zustimmen muss. Für das Volk als Souverän gibt es kein Initiativrecht für Neuwahlen.
Dabei existiert schon lange ein Vorbild: Die Bayrische Verfassung beinhaltet mit dem Recht zur Landtagsauflösung nach Artikel 18 ein verfasssungsrechtliches Verfahren, nach dem die Wähler per erfolgreichen Volksbegehren und Volksabstimmung den Landtage auflösen und Neuwahlen erzwingen können. Dieses Recht wurde im Oktober 2021 wegen der Corona-Politik durch ein Volksbegehren in Anspruch genommen. Mit entsprechendem Demokratieverständnis und Willen der Bundespolitiker hätte dieses Verfahren schon längst auch für die Bundesebene übernommen werden können. Doch am dafür nötigen Demokratieverständnis mangelt es deutschen Politikern seit Jahrzehnten notorisch und heute in geradezu desaströsem Ausmaß. Deren gebetsmühlenartige Behauptung, die in Deutschland beschworene ausschließlich „repräsentative Demokratie“ sei Demokratie, ignoriert, dass diese mit Volkssouveränität unvereinbar und mit ihrem Ausschluss direkter Mitbestimmung ein Widerspruch in sich ist. Und zwar so lange, bis dem Volk jederzeit auch eine von Wahlen unabhängige direkte Machtausübung durch Volksabstimmungen möglich ist.
Regierende, die den Verfassungschutz einen neuen „Phänomenbereich Delegitimierung des Staates“ erfinden und verfolgen lassen, regieren selbst seit über zwei Jahren ohne Legitimität. Legitimität und Demokratie wird nur statisch an einen Wahlakt gebunden gedacht, und von diesem für die gesamte Wahlperiode abgeleitet. Demokratie ist aber kein fixer Zustand, sondern ein Prozess, weshalb auch demokratisch erworbene (Regierungs-)Legitimität sich zu jedem Zeitpunkt neu erweisen muss. Denn das Volk übereignet keine Macht an seine Gewählten, sondern leiht sie diesen nur zeitweise für ein stellvertretendes Regieren. Deshalb muss sie jederzeit rückholbar bleiben.
Der Widerstand der Politik gegen Volksabstimmungen ist erklärbar. Denn diese könnten nicht nur einen parteienunabhängigen Weg für Neuwahlen und direkte Entscheidungen wichtiger Sachfragen durch das Volk eröffnen, sondern das als Quasi-Verfassung fungierende Grundgesetz unter einen Abstimmungsvorbehalt stellen: Keine Grundgesetzänderung mehr ohne bestätigende Volksabstimmung. Erst nach diesen Konsequenzen kann man überhaupt beginnen, von Demokratie zu sprechen. Ein Volk, dass über keine direkte Macht über seinen Gesellschaftsvertrag verfügt, ist nicht souverän, sondern zum Anhängsel seiner Vertreter degradiert. Und genau mit dieser auf den Kopf gestellten „Demokratie“-Sicht schauen viele Politiker in Deutschland auf ihre Wähler herab: Der selbstentlarvende Spruch von Außenministerin Baerbock drückt es aus: „Egal, was meine deutschen Wähler denken“ – ein einmal errungenes Abgeordnetenmandat oder Regierungsamt wird als vierjähriges Recht zur Volkserziehung aufgefasst. Deshalb müssen Grünen-Wähler, die dem Wahlversprechen „Keine Rüstungsexporte in Kriegsgebiete“ vertrauten, nun jahrelang ohnmächtig der Kriegstreiberei dieser Partei in der Regierung zuschauen.
Der ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl beginnende Ukrainekrieg zeigt überdeutlich, dass die Wählenden am Wahltag den Parteien stets einen Blankoscheck ausstellen müssen, ohne kommende politische Entwicklungen und das Verhalten der Parteien wirklich vorhersehen zu können. Nicht zufällig haben sich die Grünen im November von Volksabstimmungen auf Bundesebene verabschiedet, auch aufgrund eines emotionsreich die Fakten verdrehenden Robert Habeck.
„Demokratiefeste“ wie kürzlich anlässlich 75 Jahre Grundgesetz, millionenschwere Demokratieförderprogramme, lautstarke Reden und Demonstrationen zur Verteidigung der Demokratie usw., sind unwissendes oder verlogenes Schmierentheater, überwiegend initiiert von notorischen Demokratieverhinderern, die meinen, der bloße Gebrauch demokratischer Verfahren wie Wahlen sei schon Demokratie. Auch in Oligarchien und Autokratien finden Wahlen statt. Die entscheidende Frage ist, ob sich gleiche, politische Mitbestimmungsrechte auch in der tatsächlichen Regierungspolitik widerspiegeln. Untersuchungen in den USA und Deutschland legen nahe, dass „westliche Demokratien“ in Gegensatz zu allem inflationären Gerede von Demokratie in Wahrheit elitäre Oligarchien sind, in denen wenige Mächtige aus der Wirtschaft und Multimilliardäre mithilfe von Denkfabriken, Medien und Politik die politischen Entscheidungen zugunsten ihrer Interessen beeinflussen. Neuwahlen durch Volksabstimmung könnten da stören.