Chat-Verlauf von AP-Reportern vor Russenraketen-Falschmeldung wirft brisante Fragen auf

26. 11. 2022 | Von der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) ging eine Meldung um die Welt, wonach zwei von Russland abgefeuerte Raketen in Polen eingeschlagen seien und dort zwei Menschen getötet hätten. Es handelte sich aber um von der Ukraine abgeschossene Raketen. Der angeblich verantwortliche Redakteur wurde von AP gefeuert. Der Chatverlauf zwischen AP Journalisten lässt es jedoch so aussehen, als träfe den gefeuerten Journalisten die geringste Schuld. Hochrangige Geheimdienstler und AP-Verantwortliche werden gedeckt.

Am 15. November schlugen zwei Raketen in Polen, unmittelbar an der Grenze zur Ukraine, ein und töteten zwei Menschen. Die führende internationale Nachrichtenagentur AP berichtete unter Berufung auf einen hochrangigen US-Geheimdienstler, es habe sich um russische Raketen gehandelt. Die Meldung wurde von tausenden Zeitungen und Webseiten auf der ganzen Welt weiterverbreitet. Weil Polen Nato-Mitglied ist, brach sofort eine Diskussion um die Aktivierung des gegenseitigen Beistandspakts und ein Eingreifen der Nato in den Konflikt los.

Erst als am nächsten Morgen die US-Regierung klarstellte, dass sie davon ausgehe, dass es sich um von der Ukraine abgefeuerte Flugabwehrraketen gehandelt habe, beruhigte sich die Lage. AP setzte am 21. November, nach kurzer Untersuchung den Reporter James LaPorta vor die Tür, der mit dem Geheimdienstmenschen gesprochen und die Information intern weitergegeben hatte. Weitere personelle Konsequenzen plant AP nach eigenen Angaben gegenüber der Presse nicht.

Chatnachrichten entlasten entlassenen Reporter

Aus unbekannter Quelle ist der neunminütige Verlauf von Kurznachrichten über den Messengerdienst Slack zwischen LaPorta und Redakteuren von AP bekannt geworden, der der Veröffentlichung der Falschmeldung vorausging. Als Quelle in Frage kommen wohl vor allem Menschen aus dem Umfeld von LaPorta, der ein Interesse haben könnte, nicht als (alleiniger) Verantwortlicher für das Desaster dazustehen, sowie Geiheimdienste.

Unter anderem die US-Webseite Semafor und die Washington Post berichteten, wobei nur Semafor den Chatverlauf im vermeintlichen Wortlaut wiedergab. Ein deutschsprachiger Bericht, der vor allem die Semafor-Berichterstattung widergibt, findet sich beim Tagesspiegel.

Hier der (übersetzte) Chatverlauf wie von Semafor berichtet.

James LaPorta (13:32): Von einem hochrangigen amerikanischen Geheimdienstbeamten (von Ron Nixon geprüft) Ja, russische Raketen sind über die polnische Grenze geflogen. Mindestens zwei Personen sind nach ersten Berichten gestorben. Auch nach Moldawien sind Raketen geflogen – bisher keine Opfer.

Lisa Leff (13:33): Können wir das melden oder brauchen wir Bestätigung von einer anderen Quelle und/oder Polen?

James LaPorta (13:34): Das ist über meiner Gehaltsklasse

LaPorta hat weitergegeben, was ihm seine Quelle gesagt hat, und dass diese Quelle vom AP-Vizepräsidenten für Nachrichten und Investigation, Ron Nixon, geprüft ist. Auf die Zweideutigkeit dieses kurzen Hinweises stützt sich die Schuldzuweisung von AP, wonach LaPorta den Eindruck vermittelt habe, Nixon habe im konkrten Fall die Story geprüft, was nicht der Fall war.

Das ist eine mögliche aber nicht allzu plausible Interpretation. Es wäre sehr ungewöhnlich gewesen, wenn der Vizechef für Nachrichten LaPorta gegenüber zwar involviert gewesen wäre, aber sich dann bei einer solchen extrem wichtigen Nachricht völlig herausgezogen und es dem Reporter und Redakteuren überlassen hätte, zu entscheiden, ob man die Nachricht so bringt. Trotzdem fragte niemand wegen seiner Rolle bezüglich der aktuellen Nachricht und seiner Meinung dazu nach.

Tatsächlich – und mindestens für mich auch erkennbar – war gemeint, dass Nixon die Quelle kannte und ihr vertraute.

Sehr bemerkenswert ist auch, dass LaPorta es ausdrücklich ablehnte, sich an der Entscheidung über eine Veröffentlichung ohne die nach den AP-Regeln normalerweise nötige zweite Quelle zu beteiligen, weil das auf höherer Ebene entschieden werden müsse.

Die Unterhaltung ging weiter mit:

Vanessa Gera (13:35): Da der polnische Regierungssprecher zugibt, dass es eine Krisenlage gibt, wäre ich dafür, das zu melden: Warschau, Polen – hochrangiger US-Geheimdiensbeamter sagt, eine russische Rakete habe die Grenze zu NATO-Mitglied Polen überflogen und zwei Menschen getötet.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein US-Geheimdienstler da falsch liegt.
Polnische Medien sprechen von zwei Toten

Lisa Leff (13:36) @zkaram Ist das so recht?
@tberman Was sagst du?
@jlaporta Kannst du eine Eilmeldung machen?

James LaPorta (13:38):  Nein, ich bin gerade bei einem Arzttermin. Was ich geschickt habe, ist alles, was ich zurzeit weiß

Zeina Karam (13:38):  Ja sollte ok sein ich sehe Quelle von rnixon geprüft (vetted; N.H.)

LaPorta hatte auch keine Zeit die Meldung zu schreiben und Zeina Karam, stellvertretende Nachrichtenchefin für Europa, scheint verstanden zu haben, das der Vizepräsident für Nachrichten nur der Quelle vertraute, nicht unbedingt der Nachricht. Sie ist es offenbar, die die Entscheidung trifft, die Falschmeldung trotz fehlender zweiter Quelle zu senden.

Vanessa Gera (13:39) Ja, los

James LaPorta (13:40) Frage mich, ob das Artikel 5 auslöst

Lisa Leff (13:40) Schicke Meldung los, wenn keine Einwände

Monika Scislowska (13:40) Lokalradio Lublin sagt, zwei Leute durch Explosionen getötet. Provinzgouverneur Lech Sprawka geht zum Ort des Geschehens, sagt Radio Lublin.

Lisa Leff (13:41): Meldung gesendet, @csundheim

Verdächtiges Bauernopfer

Innerhalb von neun Minuten wurde entschieden, unter Missachtung der nach außen von AP betonten Regeln, eine Meldung mit erkennbar extrem hoher Relevanz auf Basis nur einer anonymen Quelle zu senden, die offenbar von sich aus, einen AP-Reporter angerufen hatte. Und die einzige Konsequenz, die die Nachrichtenagentur daraus zieht, ist den Reporter auf der untersten Ebene zu feuern, der lediglich – offenbar korrekt – weitergegeben hat, was eine Geheimdienstquelle ihm gesagt hat.

Diejenigen über ihm, die die Entscheidung getroffen haben, die Regeln von AP nicht anzuwenden, bis hinauf zur stellvertretenden Nachrichtenchefin Europa, blieben unbehelligt. Auch die Quelle, die einem AP-Reporter gegenüber etwas behauptete, was sie nicht sicher wissen konnte, oder- wahrscheinlicher – von dem sie wusste, dass es falsch war, wurde nicht etwa von AP und den US-Medien im Rahmen des Möglichen kritisch hinterfragt. Nein, die Quelle der Falschmeldung wurde in Schutz genommen. Während die Washington Post dazu gänzlich stumm bleibt, heißt es bei Semafor ausdrücklich:

„Quellen bei AP glauben nicht, dass der ursprünglche Tipp eine absichtliche Falschinformation war, sagten sie Semafor.“

Resümee

Die wohl nicht zu klärende Frage ist, mit welcher Motivation ein hochrangiger US-Geheimdienstler AP nutzt, um eine derart brisante und gefährliche Falschmeldung schnell auf der ganzen Welt zu verbreiten. Der öffentlich gewordene Chat-Verlauf, wenn er echt ist, deutet darauf hin, dass AP daran nicht wissentlich beteiligt war. Das ist auch sehr plausibel. Geheimdienste müssen Medien nicht in ihre Absichten einweihen, um deren Verbreitungswirkung zu nutzen. Diese machen leider nur allzu gern mit.

Wer etwa ntv.de oder t-online liest, der bekommt alle paar Tage eine Geschichte zu lesen, in der die britische Regierung unter Berufung auf Geheimdienstkreise berichtet, wie schlecht der russische Angriff auf die Ukraine läuft. Dabei ist offenkundig, wie interessengeleitet diese Meldungen einer Fast-Kriegspartei über den Gegner sind. Die Russen müssten längst gänzlich aus der Ukraine vertrieben sein, wenn mehr als die Hälfte der Inhalts dieser Meldungen stimmen würde, beziehungsweise wenn sie das Wesentliche der Vorgänge dort abdecken würden.

Aber auch die vermeintlich seriöseren Medien bringen immer wieder Meldungen „aus Geheimdienstkreisen“, deren Wahrheitsgehalt sie nicht überprüfen können. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein US-Geheimdienstler da falsch liegt.“, schreibt die AP-Redakteurin in Chat und macht damit deutlich, wie wenig in den Redaktionsstuben die alte Binsenweisheit angekommen ist, dass im Krieg die Wahrheit immer das erste Opfer ist, trotz spektakulärer Kriegslügen, wie der irakischen Massenvernichtungswaffen und der Babys, die aus kuwaitischen Brutkästen gerissen worden seien. Sie verlassen sich wahrscheinlich darauf, dass Quellen ihre Glaubwürdigkeit bewahren wollen. Das funktioniert vielleicht bei Unternehmensvorständen ganz leidlich. Doch was schert einen Geheimdienstoffizier schon seine Glaubwürdigkeit. Man ist ja anonym. Ist die Glaubwürdigkeit gegenüber einem Medium verbraucht, platziert er, sie oder ein Kollege die nächste Nachricht einfach über ein anderes Medium.

Und so bleibt es üblich, dass Geheimdienste ihre Informationen – gefälschte, wie ausgewählte richtige -Journalisten stecken, bevorzugt solchen von US-Zeitungen mit globalem Renommee wie New York Times oder Washington Post, die das dann drucken, was wiederum die Basis für Meldungen anderer Medien auf der ganzen Welt bietet, auch der deutschen Qualitätszeitungen.

Das sollte nach diesem Desaster mit der AP-Raketenfalschmeldung unbedingt aufhören, wird es aber wahrscheinlich nicht. Denn die Meldungen lesen und klicken sich meistens sehr gut, die Konkurrenz zwischen den Medien ist hoch und ihre Geschäftslage schlecht. Wer will es sich da schon leisten, anderen den Vortritt zu lassen.

Bleibt nur den Konsumenten dieser Medien, derartigen Berichten mit dem allergrößten Misstrauen zu begegnen und deren Verantwortlichen gegenüber deutlich zu machen, dass sie diese unzuverlässigen Berichte nicht schätzen.

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