Leserbriefe und Antworten zum Pharisäertum (Text von Zafón)

P.B.: Nicht jeder, der sich Opfer nennt, ist Pharisäer

Hallo Herr Häring,

da Zafón nicht differenziert, ist laut seinem Text jeder, der sich Opfer nennt, ein Pharisäer („Wenn wir uns als Opfer fühlen, sind alle unsere Handlungen […] gerechtfertigt, so anfechtbar sie auch sein mögen“). Es gibt laut dem von Ihnen gelobten und verbreiteten Text also keine tatsächlichen Opfer und folglich auch keine Täter. Wem hilft ein solcher Text? Den Opfern, die keine Opfer mehr sein dürfen, oder den Tätern, die man nicht mehr Täter nennen darf, weil man sonst Pharisäer ist? Wird hier etwas anderes propagiert als ein sprachlicher Schutzbunker, aus dem heraus tatsächliche Täter aller Art ihr Verderben über ihre Opfer bringen können?

Manchmal muss ich mich schon etwas über das Reflexionsniveau der Guten wundern, wenn sie – vermutlich aus einem zwangsläufig immer naiven und dann meist auch noch unverdauten Positivismus heraus (Man kann ja schließlich nichts sicher wissen und alles irgendwie auch anders sehen!)- „gut“ und „böse“ oder „ethisch wertvoll“ und „ethisch verwerflich“ zum Wohle der Täter negieren. Sind die mehr als 10.000 getöteten Kinder, die im Gaza-Streifen auf einen Haufen zusammengetrieben wurden, auf den die Israelis dann Bomben geworfen haben und das gleiche jetzt mit ganz offizieller Ankündigung wieder tun, keine Opfer der Israelis?

Bin ich Pharisäer, wenn ich die Kinder als Opfer und die Israelis als Täter bezeichne? Bin ich links-, rechts-, oben-, unten-, vorne- oder hintenradikal wenn ich diesen geplanten und vorsätzlichen Massenmord nicht „Selbstverteidigung“ nenne, obwohl das gegenwärtige Unrechtsregime mir diese Bezeichnung quasi per Gesetz vorschreibt, und „die Wahrheit nur durch die Augen der Partei [hier: das Kapital] erkannt werden kann“ (Orwell, 1984)?

Gibt es noch einen anderen Grund dafür, dass die Israelis ihr Massaker jetzt erneut durchführen können, als den, dass man die Israelis nicht Täter nennen darf? Weil man sonst Pharisäer ist? Vielleicht gar antisemitischer Pharisäer?

Mit verwundertem Gruß

P. B.

Meine Antwort: Pharisäertum hängt nicht am Opferstatus

Sehr geehrter Herr B.,

die getöteten, verkrüppelten und verhungerten palästinensischen Kinder sind Opfer der Pharisäer auf beiden Seiten dieses entsetzlichen Konflikts. Dabei rechne ich Alliierte der Konfliktparteien ebenfalls zu den (mitschuldigen) Pharisäern.

Meiner Ansicht nach missverstehen Sie den Text von Zafòn. Pharisäer ist danach nicht, wer sich als Opfer fühlt, und nicht, wer einen Täter als solchen bezeichnet. Pharisäer ist, wer als tatsächliches oder vermeintliches Opfer oder als mit diesem solidarischer Mensch die Überzeugung ausbildet, dass das Opfer engelsgleich gut, der Täter ein Dämon ist, und daher jedes Mittel recht und gerecht ist, ihn zu bekämpfen.

Das zeigt sich doch gerade am von Ihnen angeführten Beispiel Israel und Palästina sehr deutlich. Israelis fühlen sich als Opfer palästinensischen Hasses und Terrors. Palästinenser fühlen sich als Opfer der (historischen) Vertreibung, Besetzung und ständigen Demütigung durch Israelis. Was, wenn nicht dieses gegenseitige sich als Opfer und den Gegenüber als dämonisch Stilisieren hat denn die beidseitigen Gewaltexzesse hervorgebracht?

Dass die Anzahl der Toten, Verwundeten, Verhungerten und durch zerstörte Gesundheitsversorgung gestorbenen Zivilisten aufgrund der israelischen Gewalt erheblich höher ist als umgekehrt, ist vor allem eine Folge davon, dass Israel militärisch dominant ist. Es taugt nicht als Indiz dafür, welche Seite moralisch wertvoller oder verwerflicher ist.

Die Einteilung der Menschen in Gut und Böse ist kein Gegenmittel gegen Krieg, Unrecht und Vertreibung, sondern deren Basis. Das scheint mir auf meinem. zugegeben bescheidenen Reflexionsniveau recht offenkundig.

Mit freundlichen Grüßen

Norbert Häring

Nachtrag (7.5).: In meiner Kontroverse mit Michael Andrick über sein Buch „Im Moralgefängnis“ argumentiere ich eher aus der Richtung von P.B. dagegen, dass Andrick verlangt, jedem Menschen gute Absichten zu unterstellen und Kritik an mutmaßlich unlauterem Verhalten anderer als spalterisch zu klassifizieren. Ich vertrete dabei die Meinung, dass es richtig und wichtig ist, Unrecht auch so zu nennen. Aber es ist eben ein Unterschied zwischen der Kritik am Handeln von Menschen und der Verurteilung von Menschen, ihrer Einstufung als Unmenschen, gegen die jedes Mittel recht ist. Ich ziehe das Resümee: „Meine Hoffnung, von dem Buch Führung beim menschenfreundlichen Kritisieren von Misständen und Missetaten zu bekommen wurde somit schwer enttäuscht. Meine Zielvorstellung bleibt daher erst einmal, Missetaten zu kritisieren, aber die Missetäter nicht moralisch zu verurteilen.“

P.B. Gegen die Flucht in die deutsche Staatsräson

Sehr geehrter Herr Häring,

Sie schreiben: „Es ist eben ein Unterschied zwischen der Kritik am
Handeln von Menschen und der Verurteilung von Menschen, ihrer Einstufung
als…“.

Die Bezeichnung von Menschen als Pharisäer ist keine Kritik an
deren Handeln sondern eine Einstufung von Menschen, die laut Zafón-Text
sich „als Opfer fühlen“, egal ob sie tatsächlich Opfer von eindeutig
benennbaren Tätern sind oder die Opferrolle nur strategisch annehmen.

Mir ging es in meiner Kritik an Ihrem Zafón-Lob eben genau darum, beim
ethischen Kalkül, dem sich kein Menschen entziehen kann, die
nachweisbaren Taten zu berücksichtigen und nicht den Opfern eine
„Einstufung als Pharisäer“ überzustülpen (was Zafón vielleicht gar nicht
machen wollte, in seinem Textausschnitt aber eben doch tut!), um sich
dann mit einem „die Pharisäer der Palästinenser sind doch genauso
schuld“ in die Deutsche Staatsräson flüchten und die Wahrheit mit den
Augen der Partei sehen zu können. Das Beispiel des Genozids an den
Palästinensern diente mir ja von Anfang an dazu, die bei Zafóns
Plattitüde nicht erfolgte aber dringend notwendige Differenzierung
einzuklagen.

Aktuell: Die palästinensischen „Pharisäer“ haben dem Feuerpausevorschlag
inkl. Geiselbefreiung zugestimmt. Einen Tag später (also heute) werfen
die Israelis wieder Bomben auf die zusammengetriebenen palästinensischen
Frauen und Kinder und sperren Grenzübergänge für Nahrungsmittel und
Hilfslieferungen. Und ich soll jetzt auf „Unentschieden“ zwischen zwei
Gruppen von Pharisäern urteilen? Das meinen Sie nicht wirklich, Herr Häring!

Wer sind denn überhaupt die Pharisäer der Palästinenser? Wer sind die
Pharisäer bei den Impfopfern? Sind diejenigen Pharisäer, die Gates,
Schwab und Co. für das Böse (copyright NICHT by Religionen) halten –
aufgrund von deren Taten wie die Zerstörung der Menschheit und das
Einbinden aller Natur und allen Lebens in das digitale Borg-System des
Kapitals? Waren diejenigen unserer Vorfahren Pharisäer, die jeden die
eigene Sippe angreifenden Säbelzahntiger als „böse“ betrachteten? Hat
sich seither etwas Grundlegendes geändert? In Palästina? In Davos? Im
Kanzleramt?

Gruß
Peter Bleicher

A. Storz: Die eigentlichen Täter sind schon tot

Sehr geehrter Herr Häring,

zu Ihrem Disput mit P.B. zum Text von Zafón:

sind nicht eigentlich die Täter die Briten und Zionisten die 1917 Jerusalem erobert haben und dort dann mit der Balfour-Deklaration den Grundstein für einen künstlichen Staat Israel implementiert haben der dann 1948 Realität wurde? Ist nicht dieses künstliche, von Anfang an nur unter Zwang und mit militärischen Mitteln aufrecht erhaltene Situation der Ursprung und Ursache des ganzen Elends? Gezielt wurde die Einwanderung von Juden gefördert in eine Gegend, die ja aber durchaus nicht etwa menschenleer war. Das Ziel war erklärtermaßen von Anfang an, dort eine jüdische Mehrheit zu etablieren um dann ein hebräisches Bildungs- und jüdisches Regierungssystem aufzubauen.

Wenn man an das damals schon große Interesse der Briten an den Ölvorkommen im Nahen und Mittleren Osten denkt, kann man sich die geopolitischen Hintergedanken bei einem künstlich geschaffenen und dafür dankbaren Staat dort, mit britischer Geburtshilfe und Schutzmacht, gut vorstellen.

Sind nicht viele der meist von Kolonialmächten künstlich gezogenen Grenzen und aufokroyierte Staatsgebilde bis heute Anlass für Unfriede fast in der ganzen Welt?

MfG

A. Storz

Meine Antwort auf P.B. und A. Storz

Sehr geehrter Herr B., sehr geehrter Herr Storz,

ich stimme Herrn Storz zu, dass diejenigen, die die vor langer Zeit Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben haben, um dort den Staat Israel zu errichten, die erste und Hauptverantwortung für das tragen, was in der Region heute und seit Jahrzehnten Schreckliches geschieht. Sie sind lange tot. Das Unrecht, das sie geschaffen haben lebt fort und wird perpetuiert dadurch, dass weder die Hamas und ihre Alliierten, noch die militanten Israelis und ihre Alliierten Frieden und Versöhnung wollen.

Die Israelis, die heute in Israel leben, sind keine Eroberer, die die Palästinenser vertrieben haben. Sie wurden in Israel geboren und sind dort aufgewachsen. Sehr viele Palästinenser haben nichts mit Gewalt und dem Terror am Hut, wie ihn zumindest der militärische Arm von Hamas vertritt und verbreitet.

Unabhängig von der Schuldfrage ist aber auch kaum zu bestreiten, dass es viele Palästinenser gibt, die allzu gern die Israelis aus Israel vertreiben würden, wenn sie könnten. Auf der anderen Seite ist kaum zu leugnen, dass es militante und rassistische Israelis gibt, auch in der Regierung, gerade in der derzeitigen, die Palästinenser bestenfalls als Menschen zweiter Klasse betrachten und behandeln.

Solange sich Palästinenser (insbesondere Hamas) und Israelis gegenseitig als Ausbund des Bösen bekämpfen und sich für die Guten halten, kann die Gewalt und Unterdrückung nicht aufhören. Nur wenn sie gegenseitig ihr Menschsein anerkennen und ihren Wunsch, in Frieden und Freiheit in ihrer Heimat zu leben, gegenseitig respektieren, kann es Frieden und Aussöhnung geben.

Wenn nur die Palästinenser das tun, und Israel das nicht durch Beendigung der Repression würdigt, geht die Gewalt weiter. Wenn nur die Israelis es versuchen und der Terror oder Befreiungskampf (egal wie man ihn nennt) der Hamas weitergeht, ist es ebenfalls zum Scheitern verurteilt.

Das funktioniert nicht, wenn Unrecht und Leid gegeneinander aufgerechnet wird, wenn man versucht festzustellen, wer mehr Leid verursacht hat (oder verursachen möchte, wenn er könnte), und deshalb der Böse ist, den man mit vollem Recht und allen Mitteln bekämpfen darf und muss. Je nachdem, auf welcher Seite der Grenze man fragt, wird man gegensätzliche Antworten bekommen. Das ist dann Pharisäertum, so wie ich Zafòn verstehe. Das heißt deswegen nicht, dass diejenigen, die so denken und fühlen, schlechte Menschen sind. Es beschreibt nur einen problematischen Aspekt in ihrem Denken und Fühlen, von dem es besser wäre, sie würden das sehen und überwinden.

Auch Bill Gates, Klaus Schwab un Co., gegen deren Tun ich mich, wie Sie wissen, mit großem Engagement wende, sind keine finsteren Bösewichte. Vermutlich sind sie nette und freundliche Menschen. Sie haben eine technokratische Weltsicht und arbeiten mit großem Eifer daran, die soziale Megamaschine, die sie für eine große Errungenschaft halten, zu optimieren. Daneben sind sie eitel und haben sicherlich noch andere Charakterschwächen, wie wir alle. Außerdem haben sie sehr viel Macht und Einfluss.

Aber das macht sie nicht zu bösen Menschen. Wenn der schon ziemlich betagte Klaus Schwab in vermutlich nicht allzu ferner Zukunft stirbt, wird die Welt dadurch kein bisschen besser werden. Dasselbe gilt für Bill Gates, der vermutlich noch länger am Werk der Globalisten arbeiten kann. Menschen zu finsteren Bösewichtern zu stilisieren, lenkt vom Wichtigen ab und schadet der guten Sache.

Es verleitet dazu, dass wir uns selbst für die Guten und die (reinen) Opfer halten und gar nicht mehr auf den Gedanken kommen zu fragen, was unsere Rolle in dieser Maschinerie ist, wie sehr sie von unserer Mitwirkung abhängt, und ob es vielleicht eine Möglichkeit gibt, der Maschinerie diese Mitwirkung teilweise oder ganz zu entziehen. Wenn das gelänge, bräuchten wir uns keine großen Gedanken um Schwab und Gates mehr zu machen.

Viele Grüße

Norbert Häring

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