Der Great Reset der Bertelsmann Stiftung

22. 11. 2020 | Ich hatte gefragt, wo die sonst so aktiven Stiftungen bleiben, mit Vorschlägen, wie wir uns langfristig mit Corona arrangieren können. Stattdessen hat die Bertelsmann Stiftung nun sechs Szenarien für Deutschland im Jahr 2040 herausgebracht. Dahinter verbirgt sich ein Programm für den neoliberalen Post-Pandemie-Neustart der Gesellschaft. Eine Frage ist: Was tun Gewerkschafter bei so einem Projekt?

„Die Coronakrise setzt Deutschlands Wirtschaft unter Druck: Exporte brechen ein, Betriebe schließen, Geschäftsmodelle sind in Frage gestellt. Corona beherrscht die öffentliche Debatte und bestimmt das Handeln von Politik und Wirtschaft“, schreibt die Bertelsmann Stiftung in Ihrer Publikation „Sechs Szenarien für den Wirtschaftsstandort Deutschland„, die sie am 16.11. veröffentlichte, um gleich hinzuzufügen: „Gerade in einer Krise ist es aber auch wichtig, über die aktuelle Lage hinaus zu schauen.“

Deshalb hat die Stiftung „28 junge Verantwortungsträger:innen aus ganz Deutschland“ auf das Jahr 2040 blicken lassen. In der Begrifflichkeit steckt einige künstlerische Freiheit. „Jung“ reicht für die Stiftung offenbar bis nah ans Rentenalter heran. Und manche von diesen 28 tragen so viel Verantwortung, dass der Stiftung zu ihrer Vorstellung außer dem Namen nichts einfällt.

Das Projekt erinnert von der Machart an die Post-Pandemie-Szenarien der Rockefeller Stiftung und hat den gleichen Wir-steuern-auf-die-Katastrophe-zu-aber-Corona-bietet-die-Chance-zu-einem-Neustart-Pathos wie die „Great-Reset“-Kampagne des Weltwirtschaftsforums.

Der Macher des Gleichschritt-Szenarios der Rockefeller Stiftung wirbt nun offen für Totalüberwachung

Great Reset: Das Weltwirtschaftsforum plant den Großen Neustart, um ihn zu verhindern

Man ist in Gütersloh allerdings bescheidener als bei Rockefellers. Statt in den Positivszenarien gleich die totalüberwachte, von wohlmeinenden Technokraten diktatorisch regierte Welt zu propagieren, ist man schon zufrieden mit einem Schub für die Digitalisierung und Roboterisierung der Bildung, des Gesundheitswesens, sowie der übrigen Gesellschaft und Wirtschaft.

Es gibt, wie der Titel schon sagt, sechs Szenarien, davon drei positive und drei negative. An den aufgeführten Gründen für die positiven und negativen Entwicklungen lässt sich leicht ablesen, welche Sichtweisen und Vorgehensweisen hier propagiert werden sollen. Die expliziten Handlungsvorschläge der Gruppe sind dagegen so wischiwaschi und allgemeingültig, das sie fast ohne Aussage sind.

Innovation für eine bessere Welt – Technologie als Lösung

  • Abschaffung der Schuldenbremse und europäische Fiskalpolitik als Voraussetzungen
  • Coronakrise als Auslöser von massiven Investitionen in die Wirtschaftstransformation, die Medizinforschung und das Gesundheitssystem
  • Die Klimakrise ist technologisch lösbar
  • Routineaufgaben der Pflegekräfte und Ärzt/innen können und sollen durch maschinelle Arbeit ersetzt werden, Einsatz von Robotern im Bereich der Pflege
  • Künstliche Intelligenz kann den Viren den Garaus machen
  • Ein bedingungsloses Grundeinkommen, „das auch von digitalen Großkonzernen als notwendig und sogar vorteilhaft erachtet und unterstützt wird“

Local Rules – ökologisch-sozialer Umbau

  • Coronakrisen-Investitionspaket der Bundesregierung seit dem Jahr 2020 finanziert analog zum Apolloprogramm einen „Wettlauf zum Schutz des Klimas“
  • Technische Lösungen für den Klimawandel (wie oben)

Vereinigte Staaten von Europa – gemeinsam stark

  • Bundesstaat EU
  • integrierter Energiemarkt sichert das Vorankommen im Klimapakt
  • Etablierung einer „europäischen Alternative für Google“
  • Energiemix aus erneuerbare Energien und Kernkraftwerken der nächsten Generation
  • Mehr Migration (Zuwanderung) von Arbeitskräften
  • Bedingungsloses Grundeinkommen (wegen zu wenig Arbeit dank KI)

Der Widerspruch zwischen der Prognose fehlender Arbeit wegen Digitalisierung und Roboterisierung und dem Plädoyer für Einwanderung zur Sicherung des Arbeitskräftenachschubs und zur Verhinderung der Überalterung zieht sich durch das ganze Werk.

Träges Deutschland, träge Welt – Investitionsstau und KI-Winter

Zu vermeiden sind:

  • Sozial- und Rentenausgaben statt Infrastrukturinvestitionen
  • Populismus und EU-Zerfall
  • Begrenzung der Einwanderung
  • Verzicht auf Nutzung der „disruptiven Potentiale künstlicher Intelligenz“

Von außen getrieben – Digitale Konzerne dominieren

Zu vermeiden sind:

  • Vernachlässigung von KI
  • Regulierung der digitalen Märkte
  • mangelnde Technikakzeptanz
  • ethische Bedenken (gegen KI und Digitalisierung)
  • Begrenzung der Einwanderung (Fachkräftemangel)

Klimakrise – technologischer Wettbewerb auf Kosten der Umwelt

Zu vermeiden ist:

  • Unzureichende Bemühungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen

Zusammenfassung: Was zu tun ist laut Bertelsmann Stiftung

  • Abschaffung der Schuldenbremse
  • Europäische Fiskalpolitik einführen und europäischen Bundesstaat schaffen
  • Massive Investitionen in die Infrastruktur, die Medizinforschung und das Gesundheitssystem
  • Sozial- und Rentenausgaben zugunsten der Infrastrukturinvestitionen gering halten
  • Klimakrise technologisch lösen, u.a. mit Atomenergie
  • Europäisch integrierten Energiemarkt schaffen um Klimakrise zu lösen
  • Medizin und Pflege roboterisieren und digitalisieren
  • Europäisches Google etablieren, KI fördern
  • Digitale Märkte nicht regulieren, ethische Bedenken zurückstellen
  • Einwanderung zulassen und fördern

Was tun die Gewerkschaften bei so einem Projekt?

Schaut man auf die Liste der Mitglieder der Arbeitsgruppe, die diese neoliberalen Neustart-Szenarien entworfen hat, so wundert man sich über viele nicht, über manche aber schon. Man erwartet Vertreter der Bertelsmann Stiftung, von Wirtschaftsberatungsgesellschaften und PR-Agenturen bei so einem neoliberalen PR-Projekt, ebenso Journalisten der FAZ und der taz, nicht ganz so sehr vielleicht von Makronom. Kein Wunder auch, dass aus der Politik gleich zwei Grünen-VertreterInnen dabei sind, der Sprecher für Digitalisierung der NRW-Landtagsgrünen und die Landesvorsitzende der Baden-Württemberger Grünen. Noch weniger verwunderlich ist, dass Facebook und Bosch, sowie das Institut der deutschen Wirtschaft dabei sind.

Dabei sind aber auch VertreterInnen der Bundesministerien für Arbeit und für Bildung und Forschung, sowie für Wirtschaft und Energie und der brandenburgischen Staatskanzlei, sowie der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder).

Und was machen die Büroleiterin des DGB-Vorsitzenden, ein Referatsleiter des gewerkschaftlichen Forschungsinstituts IMK und ein Hochschulprofessor aus dem Gewerkschaftsumfeld bei so einer Veranstaltung?

Offenbar reicht es den Gewerkschaftern, dabei sein und die Abschaffung der Schuldenbremse und mehr Investitionen fordern zu dürfen, um sich für diese Propagandaveranstaltung für den neoliberalen Neustart einer Stiftung herzugeben, die auch schon bei der PR-mäßigen Vorbereitung und Begleitung der Hartz-Reformen eine wichtige Rolle gespielt hat.

Stellungnahme des IMK

IMK-Chef Sebeastian Dullien sieht das deutlich anders. Das IMK habe ähnlich wie das Institut der deutschen Wirtschaft das Projekt wissenschaftlich begleitet und beispielsweise bei der Erstellung des gesamtwirtschaftlichen Rahmentableaus zugearbeitet. Weder das IMK noch die Personen, die an dem Prozess beteiligt waren, machten sich die Ergebnisse zu eigen (was auch auf der Website des Projekts mit der Formulierung betont wird: „Das Ergebnis ist ein Gemeinschaftswerk der Teilnehmer:innen was bedeutet, dass sich nicht jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer alle Aussagen zu eigen machen würde.“)

Für Dullien sind solche Dialog-Formate wichtig, um auch über die Lager hinweg ins Gespräch zu kommen. „Wie sonst sollen Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik ins Gespräch kommen, wenn nicht im Dialog?“

Die Handlungsempfehlungen, die sich nach meiner Lesart aus den Szenarien ergeben, liest Dullien in vielen Teilen nicht daraus heraus, etwa „Sozial- und Rentenausgaben zugunsten der Infrastrukturinvestitionen gering [zu] halten“, Unterstützung der Atomkraft, digitale Märkte nicht zu regulieren und „ethische Bedenken zurückzustellen“.  Aus seiner Sicht muss man methodisch  die Szenarien von den Handlungsempfehlungen trennen – was in den Szenarien steht, habe keinen Empfehlungscharakter.

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