Buchempfehlung und Leseprobe: Das Geld gehört uns allen

15. 11. 2020 | Ich möchte das gerade erschienene Buch „Das Geld gehört uns allen! Statt PayPal, »Libra«, AliPay: Alternativen zur digitalen Überwachung und Kontrolle“ allen empfehlen, die einen kritischen, unideologischen Blick auf das Finanzsystem schätzen, um zu verstehen, was dort vor sich geht. Autoren sind der langjährige Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank, Johannes Priesemann, und der Spezialist von Attac für Finanzen und Steuern, Alfred Eibl.

Als Leserprobe präsentiere ich mit freundlicher Genehmigung der Autoren Kapital 8.5, das überschrieben ist: „Demokratisch über unsere Währung, Banken, Kredite und unser Wachstum entscheiden“:

Gutes Leben und sichere Versorgung für alle

Das in den EU-Verträgen festgelegte Ziel der Wirtschaft sollte angesichts seiner sich abzeichnenden negativen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und auch gesundheitlichen Folgen diskutiert werden. Die bisherige Zielsetzung war und ist nicht tragbar. Wir halten eine Diskussion über eine Neuorientierung für ein Gebot der Stunde.

Das Wirtschaften sollte eine sichere und umweltverträgliche Versorgung aller Menschen in der Union auf der Grundlage einer in hohem Maße die Kooperation und Solidarität fördernden sozialen Marktwirtschaft zum Ziel haben. Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt sollte im Dienst der Menschen und der Erhaltung der Vielfalt allen Lebens stehen.

»Nachhaltiges Wachstum« ist nicht möglich und muss daher als Ziel unseres Wirtschaftens ersetzt werden. Die Idee, nur bei einem »wachsenden Kuchen« seien alle zufriedenzustellen, hat dazu geführt, dass nicht nur der Kuchen, sondern wir alle langsam gebacken werden. Daher ist das Ziel des Wirtschaftens mit der ökologischen Tragfähigkeit der Erde in Einklang zu bringen. Die Aufgaben des sozial-ökologischen Umbaus können nicht nur im Rahmen einer Wettbewerbswirtschaft gelöst werden.

Eine gezielte Entwicklung durch entsprechende Rahmensetzungen des Staates und klare Aufgabenteilungen zwischen nicht profitorientierter Daseinsvorsorge und öffentlichen Dienstleistungen sowie gewinnorientierter Wettbewerbswirtschaft sind notwendig. Der Kreditlenkung kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu.

Finanzierungsziele für ein sozial-ökologisches Wirtschaften

Der Großteil der Geldschöpfung und -allokation liegt heute in den Händen privater Entscheider, deren nahezu einziges Kriterium die Gewinnmaximierung ist. Zugleich ist Wachstum als oberstes Ziel festgeschrieben. Doch dieses System stellt selbst das Risiko dar, und zwar für das uns alle tragende und nährende Ökosystem Erde. Über Rentabilität und Wachstum hinausgehende Kriterien sollten demokratisch unter wissenschaftlicher Beratung erarbeitet werden. Neu zu definierende Oberziele des Wirtschaftens sollten gesetzt und durch Kreditlenkung der Zentralbank und Förderbanken verwirklicht werden. Die allgemeine Wirtschaftspolitik in parlamentarischer Verantwortung sollte prinzipiell Vorrang vor der Geldpolitik haben. Daher sollten die Parlamente die wirtschaftlichen Zielsetzungen und Grundsätze der Finanzierung bestimmen. Es ist sinnvoll, dass Steuer- und Geldpolitik aufeinander abgestimmt sind.

Das sollte ein institutionalisierter Dialog zwischen Parlament, Öffentlichkeit und Zentralbank auf nationaler und europäischer Ebene leisten. Die nationalen Parlamente und das Europaparlament müssten dazu Geld- und Währungsausschüsse schaffen beziehungsweise mandatieren, die die kreditpolitischen Vorgaben entsprechend den Erfordernissen eines sozial-ökologischen Gemeinwesens definieren. Diese Vorgaben würden anschließend mit den kreditpolitischen Expertinnen der Zentralbanken im Einvernehmen regelmäßig abgestimmt.

Das Instrumentarium der Zentralbank wird um Kreditlenkungsinstrumente erweitert, die an den neu zu formulierenden wirtschaftlichen Zielen der Union orientiert sind und diese umsetzen. Die derzeit von der EZB mit dem TLTRO (Langfrist-Kreditprogramm) verfolgten kreditpolitischen Ziele sind mit großer Wahrscheinlichkeit sozialökologisch schädlich, da sie allein darauf zielen, die Wirtschaft auf den letztlich todbringenden Wachstumspfad zurückzuführen. Zudem sollte dem Rat der EZB ein wissenschaftlicher Beirat sowie ein durch Los zu bestimmendes Bürgergremium beigeordnet werden. Diese sind anzuhören und haben Zugang zu allen Dokumenten und Erwägungsgründen.

Unabhängigkeit der Zentralbank

Die massiven Eingriffe der Zentralbank in das Wirtschaftsgeschehen erfolgen in autonomer Entscheidung der Zentralbank-Vorstandsmitglieder. Die Interventionen dienen angeblich dem Ziel der »Preisstabilität«, hinter dem sich konkret ein Inflationsziel von knapp 2% verbirgt, das seit Jahren nicht mehr erreicht wird. Es ist offensichtlich, dass es vor allem um Systemstabilität geht. Diese weder von der Öffentlichkeit diskutierte noch diskutable Zielsetzung ist demokratisch nicht mehr zu akzeptieren.

Das Eurosystem bewältigte die bisherigen Krisen im Finanzsystem und bewahrte das System vor seinem Zusammenbruch. Dies zeigt, wieviel Macht und Verantwortung die Zentralbank inzwischen gewonnen hat. Sie beruht auf der ihr von der Gesamtgesellschaft eingeräumten Verfügung über das von dieser Gesellschaft getragene Geld.

Die Zentralbank ist nicht nur Geldgeber letzter Instanz, sondern mit ihren Entscheidungen oft auch die Exekutive erster und letzter Instanz. Ihre Entscheidungen beeinflussen alle gesellschaftlichen Bereiche. Deshalb sollte die gesamte Gesellschaft in den Entscheidungsgremien repräsentiert sein. Das Besetzungsverfahren für die Spitzenposten sollte die Unabhängigkeit der Zentralbankpolitik und die unparteiische Orientierung auf die vorgegebenen Ziele gewährleisten. Dies ist gegenwärtig nicht zufriedenstellend gelöst.

Der EZB-Rat, das oberste Beschlussorgan der EZB, besteht aus sechs Direktoriumsmitgliedern und den 19 Präsidentinnen der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten des Eurogebiets. Bisher werden die 19 Präsidentinnen nach nationalen Regeln berufen, wobei Mindeststandards an ihre Unabhängigkeit und Sachkunde gestellt werden. Die sechs Direktoriumsmitglieder werden nach Artikel 283 Absatz 2 Unterabsatz 2 des AEUV vom Europäischen Rat auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament und den EZB-Rat anhört, aus dem Kreis der in Währungs- oder Bankfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten mit qualifizierter Mehrheit ernannt.

Das Parlament hat kein Entscheidungs- oder Vetorecht. Dies muss sich ändern. Die mittlerweile über 20-jährige Erfahrung hat gezeigt, dass sich nahezu alle Mitglieder des Rates aus der politischen und Finanzelite rekrutieren, oft mit langjährigen Spitzenpositionen in Finanzmarkt-Unternehmen. Während man sich von der politischen Sphäre mit der Berufung auf Unabhängigkeit abkoppelt, besteht auf informeller Ebene ein enges Netzwerk mit der Finanzbranche. Unsere Zentralbank sollte aber nicht nur von der Politik, sondern auch von den Interessen der Finanzbranche unabhängig sein.

Dies ist umso wichtiger, da sie auch mit der Bankenaufsicht betraut ist. Für sämtliche Posten sollten daher öffentliche Ausschreibungen mit demokratisch festgelegten Mindestanforderungen an die persönliche und fachliche Eignung stattfinden. Ein parlamentarisches Gremium wählt aus den Bewerberinnen die drei Besten aus, die sich einem Auswahlverfahren einschließlich einer Anhörung des gesamten nationalen (Gouverneurinnen) und Europäischen Parlaments (Direktoriumsmitglieder) unterziehen.

Keine Kandidatin erhält ein Briefing durch die EZB, eine nationale Zentralbank oder eine sonstige öffentliche Stelle. Sie sind mit einer 2/3-Mehrheit im Parlament in geheimer Abstimmung ohne Fraktionszwang zu wählen.

Unsere Währungsverfassung sieht die Unabhängigkeit der Zentralbank von staatlicher Einflussnahme vor. Dies ist sinnvoll, um zu verhindern, dass die Zentralbank zur Erfüllung kurzfristiger Geschenke und Versprechungen politischer Kräfte missbraucht wird, die langfristig die Währung ruinieren.

Nicht nur hinsichtlich der Berufung, auch hinsichtlich ihrer weiteren Tätigkeit sollten für die Ratsmitglieder bestimmte Regeln gelten. Es sollte in Zukunft verboten sein, dass Top-Manager der Zentralbank nach ihrem Ausscheiden in den privaten Finanzsektor wechseln. Zudem gehören alle Arbeiten der Zentralbank in die Hände der unabhängigen Zentralbanker. Es geht nicht an, dass Arbeiten der Zentralbank, wie im Eurosystem geschehen, an Firmen wie BlackRock oder Oliver Wyman (Beratung bei Bankenstresstests) vergeben werden, die durch die Betrauung mit öffentlichen Aufgaben in massivem Umfang Kenntnisse und Einfluss für ihre privatwirtschaftlichen Interessen gewinnen.

Es mögen noch so viele Erklärungen unterzeichnet werden – die Aufgaben einer unabhängigen Zentralbank gehören in die Hände unabhängigen Personals. Zur Unabhängigkeit gehört ein Status, der Beschäftigungssicherheit und rechtliche Gebundenheit gewährleistet – ein Beamtenstatus. Dieser ist bei vielen Zentralbanken, und insbesondere bei der EZB, nicht gegeben.

Im AEUV wurde dem Rat der EZB volle Flexibilität bei der Gestaltung ihres Dienstrechts gegeben. Der Rat hat sich für hausgemachte Regeln eigener Art entschieden, die keinerlei Mitbestimmung des Personals und nur minimale Konsultationsrechte vorsehen. Es gelten weder das Recht des europäischen öffentlichen Dienstes noch deutsches Recht. Zudem setzt die EZB auf befristete Verträge und behält sich Kündigungsrechte ohne Anhörung eines Personalrats vor.

Fazit

Die Ziele des Wirtschaftens sollten den Interessen der Bürgerinnen an einer sozialen, ökologischen und demokratischen EU besser gerecht zu werden. Wir brauchen eine enkeltaugliche EU: das beinhaltet eine sozial-ökologische Kreditschöpfung, die Unabhängigigkeit des Eurosystems vom Finanzsektor und eine demokratisch kontrollierte Bestenauslese der Ratsmitglieder.

Johannes Priesemann / Alfred Eibl: Das Geld gehört uns allen! Statt PayPal, »Libra«, AliPay: Alternativen zur digitalen Überwachung und Kontrolle. AttacBasisTexte 58. VSA-Verlag, 128 Seiten | 2020 | EUR 9.00, ISBN 978-3-96488-049-9

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