Mit Schnelltests droht die deutsche Corona-Politik vollends in den Wahnsinn abzugleiten

5. 03. 2021 | Ausgerechnet der Trotzallemimmernochminister Andreas Scheuer soll mit Jens Spahn eine offenbar völlig undurchdachte Schnellteststrategie als Lockdown-Ventil umsetzen. In Kauf zu nehmen, dass Wirtschaft und Gesellschaft noch tiefer ins Desaster gestürzt werden, nur um einen an seinem Stuhl festgeklebten CSU-Minister loszuwerden, ist unverantwortlich.

Schnelltests sollen es nun bringen, hat die Runde der Ministerpräsidentinnen mit der Kanzlerin beschlossen. Die Zwangsschließungen von Einrichtungen und Kontaktverbote sollen nach und nach gelockert werden und zwar abhängig ausschließlich von den Inzidenzzahlen, also den positiv Getesteten pro Woche je 100.000 Einwohner – und zwar unabhängig davon, wie viel und wie getestet wird.

Dass das völlig unsachgemäß ist, ist seit vielen Monaten bekannt und diskutiert. Denn die Anzahl der Tests beeinflusst stark die Inzidenz. Testet man mehr, findet man mehr, auch wenn sich am Infektionsgeschehen nichts geändert hat.

Jetzt steigert man die bisherige Verrücktheit der Inzidenzanbetung noch, indem man alles von diesen manipulierbaren oder zumindest für sich allein wenig aussagekräftigen Inzidenzwerten abhängig macht und gleichzeitig eine massive Ausweitung des Testens beschließt. Es ist im Vorhinein nicht abschätzbar, welche Wirkung letzteres auf die Inzidenz haben wird. Trotzdem werden Entscheidungen, die über die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen bestimmen, quasi-automatisch davon abhängig gemacht.

Nichts gegen das Testen an sich, wenn es vernünftig gemacht und interpretiert wird, und die richtigen Maßnahmen darauf aufsetzen. Aber die Kombination aus Testausweitung und Politikausrichtung an Inzidenzen, unabhängig von der Testanzahl, ist so verrückt, dass es mir immer schwerer fällt, an schiere Inkompetenz zu glauben.

Im Deutschen Ärzteblatt erschien im November ein Artikel von Wissenschaftlerinnen des Robert-Koch-Instituts und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zur richtigen Einordnung der Ergebnisse von Schnelltests mit dem Hinweis:

„Um die Testergebnisse richtig einordnen zu können, müssen zwei Fragen beantwortet werden können: Zum einen: Wenn der Test positiv ist, wie wahrscheinlich ist es, dass der oder die Getestete tatsächlich akut infiziert ist? Und zum anderen: Wenn der Test negativ ist, wie wahrscheinlich ist es, dass der oder die Getestete tatsächlich nicht akut infiziert ist?“

Diese Wahrscheinlichkeiten hängen stark davon ab, wie hoch der Anteil der Infizierten in der getesteten Bevölkerung ist. Wird anlasslos getestet, wie die Regierenden das nun wollen, also ohne dass Indizien für eine Infektion vorliegen, ist der Anteil der Infizierten, die theoretisch gefunden werden können, eher klein. Ist 1 Prozent der Bevölkerung infiziert ist mit 100 echten Infizierten je 10.000 zu Testenden zu rechnen.

Jetzt kommt noch die Zuverlässigkeit der Tests ins Spiel. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass 80% der Infizierten durch die Schnelltests korrekt identifiziert werden. Wenn also von 10.000 Getesteten 100 das Virus haben, werden 80 gefunden. In dem Aufsatz wird außerdem mit einer Falsch-positiv-Rate von 2% gerechnet, mit dem Hinweis, dass der Wert eher höher sein dürfte. Dann werden von 10.000 Getesteten  200  positiv getestet, obwohl sie nicht infiziert sind. Von den 280 insgesamt positiv Getesteten sind nur 80 tatsächlich infiziert, also weniger als 30%. Mehr als 70% sind falsche Alarme.

In dem Aufsatz im Ärzteblatt wird die Mathematik des Testens an einem Beispiel dargestellt, bei dem nur 5 von 10.000 tatsächlich infiziert sind. Dann sind 98 Prozent der Positivtests falsche Alarme. Aber eine Infiziertenrate (Prävalenz) von nur 0,05% ist für derzeitige Verhältnisse zu niedrig. Ich habe sie daher in meinem obigen Rechenbeispiel mit 20 multipliziert und auf 1% gesetzt. Nimmt man 2% an, so sind immer noch mehr als die Hälfte aller Positivtests falsche Alarme, möglicherweise auch deutlich mehr, wenn die Tests im realen Leben weniger gut sind als nach Herstellerangaben unter Laborbedingungen.

In den Worten der RKI-Wissenschaftlerinnen:

„Bei Massentestungen oder Screenings, also bei niedriger Prävalenz, werden viele falsch-positive Testergebnisse erzeugt.“

Das ist unvermeidlich, aber nicht schlimm, wenn man es berücksichtigt und richtig damit umgeht. Eine Schlussfolgerung des RKI:

„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass zur Bestätigung ein PCR-Test durchgeführt werden sollte.“

Was die Regierenden beschlossen haben, ist nicht von vorne herein unvereinbar mit einer vernünftigen Teststrategie. Aber die gewählten Formulierungen und das Beharren auf den alleinigen Fokus auf Inzidenzwerte in dem Beschlusspapier machen wenig Hoffnung, dass etwas Vernünftiges dabei herauskommen wird.

Vernünftig wäre es, an jedes Schnelltest-Testzentrum vor großen Betrieben, Schulen und in Einkaufsstraßen Leute abzustellen, die bei den positiv Getesteten sofort PCR-Tests machen können, und dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse spätestens am nächsten Tag vorliegen. Dann müssen die vielen durch Schnelltests falsch-positiv Getesteten nur einen Tag in Absonderung, können nur einen Tag nicht arbeiten oder ihren sonstigen Geschäften nachgehen, nicht drei Tage, wie man ohne besonderes Augenmerk hierauf erwarten muss.

Im Beschlusspapier ist die Organisation der PCR-Tests nicht erwähnt. Lediglich dass positive Schnelltests durch einen PCR-Test bestätigt werden müssen, wird erwähnt und, immerhin, dass die PCR-Tests kostenlos sein sollen. Die Taskforce der Minister Spahn und Scheuer jedoch wird nur mit der Logistik (möglichst vieler) Schnelltests betraut. PCR-Tests gehören nicht zu ihrem Aufgabengebiet.

Wie viel Koordination von Schnelltestungen und PCR-Testungen darf man da erwarten? Wer wird freiwillig die Schnelltests machen, wenn man damit rechnen muss, drei Tage lang sinnlos außer Gefecht gesetzt zu werden? Welches Unternehmen wird das betreiben und seine Belegschaften anlasslos durchtesten, wenn das drei Tage falschen Krankenstand für viele bedeutet?

Es gelten die Empfehlungen des RKI

Es gelten die Empfehlungen des RKI, heißt es im Beschluss lapidar. Nach der Erfahrung eines meiner Kinder bedeutet das derzeit unter anderem, dass ein negativer PCR-Test nicht davon entbindet, eine zweiwöchige Quarantäne komplett auszusitzen, wenn man Kontakt mit einer Infizierten hatte. „Wegen der Mutanten“, heißt es vom Gesundheitsamt. Denkt jemand rechtzeitig daran, solche Absurditäten bald abzustellen? Oder muss man vielleicht zur Sicherheit, oder wegen der Mutanten, „abgesondert“ bleiben, wenn der Schnelltest positiv war und das Gesundheitsamt Wind davon bekommt, auch wenn der PCR-Test negativ ist? Man befürchtet aus Erfahrung so einiges.

Meine Prognose: Die Inzidenzzahlen werden demnächst aufgrund von massiven Mehrtestungen nach oben gehen und die Bundeskanzlerin, der Gesundheitsminister und der bayrische Ministerpräsident werden uns sagen, dass sie als gute Hirten leider wieder ein strengeres Regiment einführen müssen, weil ihre Schäfchen nicht brav genug waren. Wir werden der Revolte zumindest nahekommen.

Ceterum censeo (außerdem meine ich): Dass weiterhin keine nennenswerten spezifischen Maßnahmen zum Schutz der besonders anfälligen Bevölkerungsgruppen getroffen werden, und dass fast nichts getan wird, mehr Pflegepersonal in die Krankenhäuser und Altenheime zu bringen, ist unverzeihlich. All das wäre mit kleinen Bruchteilen der Lockdown-Kosten machbar. Wahnsinn ist natürlich auch die primitive Ausrichtung des Lockdowns an Branchen, anstatt danach, wie sich Anforderungen an Hygienekonzepte umsetzen lassen, oder eben nicht.

(Der Beitrag wurde kurz nach Erscheinen geringfügig ergänzt.)

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