Wissenschaft geht anders. Zwar ist weder im offiziellen Namen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung noch im Spitznamen Wirtschaftsweise das Wort Wissenschaft enthalten. Aber gedacht ist laut Gesetzt schon daran, hervorragende Wissenschaftler in diesem Gremium zu haben, und nicht Sachverständige im Tricksen, Tarnen und Täuschen. Wie gut die fünf Weisen sich
hierauf verstehen, will ich anhand ihres heute vorgestellten Jahresgutachtens 2014/15 in einer Artikelfolge zeigen. Vor dem Durchgang durch die einzelnen Themengebiete, hier eine Übersicht.
Teil 1: Einführung und Übersicht
Es wird sich herausstellen, dass das Wort Wirtschaft in Wirtschaftsweise so zu verstehen ist wie die Nachrichtenagenturen Wirtschaft in ihren Berichten über das Gutachten 2014/15 verwenden: als Synonym für die Seite der Arbeitgeber und sonstige Kapitaleinkommensbezieher. So wie in „Von der Wirtschaft ernteten die Ökonomen breite Zustimmung. Der Bankenverband sprach von einem ‚Weckruf‘ an die Politik. Der DIHK und die Arbeitgeber betonten, das Wachstum zu stärken müsse Vorrang haben vor Umverteilung.“
Dagegen hat der SPD Finanzexperte (nicht etwa Wirtschaftsexperte, er spricht ja nicht für die Arbeitgeberseite) Joachim Poß gepoltert, das Gutachten zeige erneut, „dass die Mehrheit der Sachverständigen nicht willens ist, sich von ihrer marktradikalen Ideologie zu lösen„.
Die Techniken, mit denen die Sachverständigen etwa ihre Rechtfertigungen der starken Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen und das gleichzeitige Leugnen derselben hinter dem Anschein wissenschaftlicher Neutralität verstecken, sind vielfältig.
Die Länge des Elaborats ist ein wichtiges Strategieelement– 400 Seiten plus Anhänge. Da kam man hinten – zum Beispiel in Sachen Einkommens- und Vermögensverteilung – relativ nüchtern und fast objektiv die Zahlen referieren. Das liest keiner, aber man kann immer darauf verweisen, dass man irgendwo alles geschrieben hat. Dann kann man getrennt davon, im Mittelteil, ohne konkrete Zahlen zu nennen eine selektive Auswahl qualitativer Aussagen treffen, die den Eindruck vermitteln, als würden die Daten die gewählte These stützen. In diesem Fall ist das die These dass das mit der Ungleichheit gar nicht so wild ist, sie im Wesentlichen durch irgendwelche statistischen Sondereffekte erklärt wird, und dass der nicht näher quantifizierte aber als sehr klein intonierte Rest unvermeidlich oder gar erwünscht ist, und außerdem im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich.
In der Kurzfassung vorne für den eiligen Leser – also alle und insbesondere die gesamte Presse – kann man das dann noch weiter verkürzen und zuspitzen. Da liefert dann die zunehmende Ungleichverteilung keinerlei Rechtfertigung mehr für wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen wie den Mindestlohn, sie beruht nur noch („nicht zuletzt“) darauf, dass zuvor arbeitslose Geringqualifizierte, Frauen und Alte jetzt zu niedrigen Löhnen arbeiten – und im internationalen Vergleich ist ohnehin alles „unauffällig“.
(Wie sehr sich alle darauf verlassen, dass niemand das Elaborat liest, demonstrierte der Grünen-Politiker Gerhard Schick, der das Gutachten pflichtgemäß in der Tagesschau als Armutszeugnis für die Regierung bezeichnete, nur um zu fordern, dass sie jetzt endlich mehr investiere müsse, genau das Gegenteil dessen, was der Sachverständigenrat will.)
Auch in Verbalakrobatik sind die fünf Weisen äußerst versiert, wobei Orwell’sches Neusprech reichlich eingesetzt wird, also das Aufladen von Wörtern mit anderen Bedeutungen und das dabei nicht explizit Aussprechen des Gemeinten. So heißt es etwa zur Abwehr des Ansinnens eines staatlichen Investitionsprogramms, in der Zusammenfassung: „Für eine pathologische Schwäche bei den privaten Investitionen („Investitionslücke“), die es wirtschaftspolitisch zu kurieren gilt, gibt es derzeit keine Anhaltspunkte. Die Schwäche wird also verneint, aber nur mit der Ergänzung von „pathologisch“ und „derzeit“ und „die es wirtschaftspolitisch zu bekämpfen gilt“. Obwohl hier nichts da ist, was wirtschaftspolitisch zu bekämpfen wäre, folgt sofort die Empfehlung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Förderung der Investitionen, sogar „Therapie“ genannt, in Form von Deregulierung des Arbeitsmarktes, „effiziente Finanzierung sozialer Sicherungssysteme“ (Neusprech für Kürzungen) und eine geänderte Energiepolitik. Wer darin einen Widerspruch zu erblicken glaubt, ist mit Neusprech nicht vertraut. Denn im Ausdruck „die es wirtschaftspolitisch zu bekämpfen gilt“ ist „wirtschaftspolitisch“ Neusprech für „Investitionsprogramm“. Das will man so nicht aussprechen, denn das würde ja jedem deutlich machen, dass man hier in einer politischen Diskussion Position bezieht und nicht der objektiven ökonomischen Vernunft bescheiden seine Stimme leiht. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die danach empfohlen werden, werden wiederum nicht so genannt, denn Wirtschaftspolitik klingt nach Eingriff des Staates in den Markt. Da klingt doch „Therapie“ (einer nicht vorhandenen Pathologie) und „Verbesserung der Rahmenbedingungen“ erheblich besser.
Eine weitere Technik der Verbalakrobatik besteht darin, eine störende Kritik in trockener, neutraler Sprache neu zu formulieren, und so zu tun, als habe man damit eine harmlose Erklärung für das Kritisierte jenseits von Gut und Böse gefunden. Diese Technik nutzen die Weisen zum Beispiel beim Leistungsbilanzdefizit. „So diagnostiziert die Europäische Kommission für Deutschland ein makroökonomisches Ungleichgewicht, das als Hindernis für die Erholung im Euro-Raum angesehen wird. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Binnennachfrage zu stimulieren, um den Leistungsbilanzüberschuss abzubauen. Der Sachverständigenrat kann sich dieser Kritik nicht anschließen“, schreiben sie und erklären den Grund „von der Finanzierungsseite“ so: „Die Ausweitung des deutschen Leistungsbilanzsaldos ist vor allem auf eine Konsolidierung des privaten Sektors zurückzuführen. Die Haushalte haben ihre Nettoinvestitionen bei gleichzeitig konstanter Sparquote eingeschränkt. Die Unternehmen haben ihre Eigenkapitalquote erhöht und zudem ihre im Ausland erwirtschafteten Gewinne überwiegend dort reinvestiert, nicht zuletzt aufgrund steuerlicher Faktoren. Auch der Staat hat durch die Reduzierung seiner Defizite zum Leistungsbilanzüberschuss beigetragen.“
Auf deutsch heißt das nichts Anderes als: Die Unternehmen und die privaten Haushalte sowie der Staat haben weniger ausgegeben = schwache Binnennachfrage. Deshalb haben die deutschen Unternehmen sich eben auf den Export verlegt und dort ihre Gewinne gemacht. Im Inland haben sie nicht investiert, sondern im Ausland, wo die Nachfrage besser ist. Das ist genau die Argumentation der Kritiker, aber es kommt daher wie eine alterative Erklärung. Zur Sicherheit folgt auch noch eine „realwirtschaftliche“ Erklärung, die genau nach dem gleichen Prinzip funktioniert und dann ist der Leser sturmreif geschossen für die apodiktische Feststellung: Man sollte nichts zur Senkung der extrem hohen Handelsüberschüsse unternehmen. Natürlich ohne Begründung, denn die steckt ja vermeintlich schon im Vorgesagten.
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Dem Versteckspiel dient es auch vortrefflich, aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur sehr selektiv auszuwählen und so zu zitieren, dass nicht auffällt, wenn man windige Studienergebnisse der Arbeitgeberseite kritiklos übernimmt (Institut der Deutschen Wirtschaft), um darzulegen, dass die Lohnbezieher ruhig noch ein bisschen „Lohnspreizung“ (Neusprech) vertragen können, ohne sich über zu viel Ungleichheit beschweren zu dürfen, oder wenn man seine Erkenntnisse aus Publikationen zieht, mit Titeln wie: „Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet.“
In besonders heiklen Fällen, wie beim Mindestlohn, wo man aus wiederholter, schmerzhafter Erfahrung weiß, dass mindestens ein Journalist sehr genau darauf achtet, ob die Literaturlage diesmal wenigstens korrekt dargestellt wird, verzichtet man lieber gleich ganz darauf, sich zur wissenschaftlichen Basis der eigenen Aussagen zu äußern und behauptet einfach wild drauf los, garniert nur mit einzelnen stützenden Aufsätzen, die unauffällig in das Literaturverzeichnis eingestreut werden.
Diese Liste der Manipulationstechniken lässt sich verlängern, wie wir beim Durchgang durch die einzelnen Themen noch sehen werden.
Teil 2: Eingebildete Ungleichheit
Ungleichheit, so sie denn ein größeres Problem wäre, stünde folgender Aufforderung des Sachverständigenrats an die Regierung im Wege, die dem Jahresgutachten 2014/15 den Titel gab: „sollte sie … mehr Vertrauen in Marktprozesse zeigen, statt zunehmend Marktergebnisse festlegen zu wollen, um Verteilungsziele zu erreichen.“ Der Teil dieser Aufforderung, der die Verteilung betrifft, wird im Gutachten mit vier
Argumentationssträngen unterfüttert:
1 .Die Einkommens-Ungleichheit ist gar nicht so hoch
2. Sie ist zuletzt nicht gestiegen, zumindest nicht seit Umsetzung der Agenda 2010.
3. Dass die Vermögen ungleich verteilt sind, ist normal und muss nicht stören.
4. Die Einkommensungleichheit wird von der Bevölkerung grob falsch eingeschätzt. Nur deshalb ist sie für (mehr?) Umverteilung, auch durch Eingriffe wie den Mindestlohn. Implizite Folgerung: Der Regierung sollte also auf die nur durch Fehlinformation hervorgerufene Vorliebe der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen.
Fangen wir mit dem Beleg für These 4 an, weil er besonders krass und entlarvend ist:
In dem quellen-, zahlen- und belegarmen Kapitel zur Ungleichheit gibt es hierzu eine interessante Quelle: Niehues 2014. Diese wird nicht nur genannt, ihre These wird kritiklos übernommen, ausgebaut und durch Grafiken prominent präsentiert. Was ist Niehues 2014. Im Literaturverzeichnis findet man: Niehues, J. (2014), Subjektive Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen – Ein internationaler Vergleich, IW-Trends 41, 75-91.
Kann es denn wahr sein? Der Sachverständigenrat stützt sich für eine zentrale These in seinem Gutachten, die den Titel rechtfertigen soll, auf das, was das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zur Angemessenheit der Verteilungsdiskussion herausgefunden zu haben glaubt. Nämlich, dass die Deutschen nur deshalb für Umverteilung sind, weil sie die Ungleichheit maßlos überschätzen, Und das, ohne dass der Leser eine faire Chance hätte, diese Quellenlage zu durchschauen und ohne dass die Befangenheit der Quelle oder die Verlässlichkeit der These in irgend einer Weise kritisch hinterfragt würde. Für eine Diplomarbeit an einer anständigen Uni wäre so ein Vorgehen, wenn es auffiele, wahrscheinlich ein Killer.
Und inhaltlich: „Dass in Umfragen regelmäßig ein Großteil der deutschen Gesellschaft am unteren Rand der Wohlstandsverteilung verortet wird, widerspricht … der tatsächlichen Verteilung der Haushaltsnettoeinkommen, die den Großteil der Bevölkerung im mittleren Einkommenssegment ausweist“, übernimmt der Rat die These der arbeitgeberfinanzierten Studie.
Die Deutschen hielten laut der Umfrage mehrheitlich die Gesellschaftsform einer Pyramide für einschlägig, die in der Umfrage so beschrieben wurde, heißt es dort: „Eine Gesellschaft, mit einer kleinen Elite oben, mehr Menschen in der Mitte und den meisten Menschen unten.“ Tatsächlich, so stellt das Institut fest, wäre richtig: „Eine Gesellschaft, in der sich die meisten Menschen in der Mitte befinden.“
Da die Umfrageteilnehmer aber nicht zu konkreten Einkommensbändern gefragt wurden und auch nicht wussten ob vor oder nach Umverteilung gemeint war, ja nicht einmal überhaupt nach Einkommen gefragt wurden, sondern nach Status, hatte das IW ziemlich große Freiheit bei der Übertragung der Umfrageergebnisse in eine wahrgenommen Einkommensverteilung. Wer weiß, an welchen Betrag die Leute gedacht haben, als sie gefragt wurden, welcher Anteil der Bevölkerung „unten“ ist.
Trotzdem kommt das gewünschte Ergebnis nicht wirklich heraus, dass die Bevölkerung falsch liege. Deutlich mehr als 30 Prozent der Bevölkerung sind in einer Einkommenskategorie bis 80 Prozent des Medianeinkommens, deutlich unter 30 Prozent sind in der mittleren Schicht von 80 bis 110 Prozent des Median. Danach werden die Besetzungen der Schichten immer kleiner, so wie die Bevölkerung sich das vorstellt.
Stilisiert sieht das so aus:
Einkommenspyramide in der Wahrnehmung
X
X X X
X X X X X
X X X X X X X
Tatsächliche Verteilung:
X
X X X
X X X X X
X X X X X X
Hoppla!
Aber wer ein Ergebnis herauskriegen soll, und sich solche Freiräume sich geschaffen hat wie Niehues, bekommt es natürlich heraus. Das geht einfach. Sie unterteilt die unterste Gruppe, die ich willkürlich von 0 bis 80% des Medianeinkommens gehen ließ in eine unter 60% und eine von 60 bis 80% und schwupps kommt folgende stilisierte Verteilung heraus:
X
X X X
X X X X X
X X X X
X X
… und schon liegt die Bevölkerung angeblich mit ihrer Einschätzung ganz daneben. Allerdings nur wenn bei knapp 1000 Euro Nettoeinkommen für einen Alleinstehenden die untere Mittelschicht anfängt. Ob die Umfrageteilnehmer das so sahen ist zweifelhaft. Das IW mag meinen, dass jemand der tausend Euro netto verdient, zur Mittelschicht gehört. Ist der Maßstab, dass ein Mittelschichtler eine Familie gründen und vor Armut bewahren können sollte, ist die Antwort wohl nein.
Dem Sachverständigenrat waren die schon ziemlich intensiv massierten Zahlen in der IW-Studie offenbar noch nicht deutlich genug. In einer groß herausgestellten Grafik stellt er die wahrgenommene Gesellschaftsform nach dem IW-Papier einer tatsächlichen gegenüber, bei der er die Einkommensschichten am unteren Ende nochmal kleinteiliger einteilt als das IW, nämlich. „Unten“ sind alle, die weniger als 40% des Mediankommens haben, darüber 40 bis 60% und 60 bis 80% und als am stärksten besetzte mittlere Gruppe diejenige von 80 bis 120% des Medianeinkommens.
Die Grafik der Bevölkerungsschichtung des Rats weicht dadurch tatsächlich noch eindrucksvoller von der angeblichen Vorstellung der Bevölkerung ab als in dem IW-Papier. Die untere Bevölkerungsschicht ist sehr klein, die mittlere sehr groß. Einen Hinweis auf die Umgruppierung gibt der Sachverständigenrat nicht. Man kann die absurden Schichtgrenzen, die er setzt auch nur einer Fußnote der Grafik entnehmen und stellt erst durch lesen der IW-Studie fest, dass sich die Einkommensschichten unterscheiden.
Ob es zulässig ist, der von Niehues „berechneten“ wahrgenommenen Bevölkerungspyramide einfach eine ganz anders als bei Nihues eingeteilte „tatsächliche“ Schichtung nach eigenen Berechnung gegenüberzustellen ist äußerst zweifelhaft. Weil aber das ganze Unterfangen bis hierher schon indiskutabel und völlig unwissenschaftlich ist, erlauben Sie mir bitte, diesen Nachweis nicht noch zu führen. Ein Professor, der eine einfache Diplomarbeit zu beurteilen hätte, würde sich die Mühe auch nicht mehr machen. Wenn die Arbeit, die die Sache mit dem Vernebeln und Ignorieren des offenkundigen Interessenkonflikts der Quelle gerade noch überstanden hätte, wäre jetzt endgültig Schluss. Setzen 6!
Exkurs: Wirtschaftsweise beschuldigen sich selbst des Plagiarismus
In seinem Jahresgutachten 214/15, Kapitel 7, übernahm der Sachverständigenrat die These des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft, wonach die Diskussion über die zunehmende Ungleichheit in Deutschland vor allem auf einem Wahrnehmungsproblem beruhe, weil die Menschen die Ungleichheit viel größer einschätzen als sie ist. Handelsblatt-Redakteur Norbert Häring hatte in einer Bitte um Stellungnahme darauf hingewiesen, dass für den normalen Leser die Autorenschaft der These nicht erkennbar wird und die Weisen gefragt:
„Frage 1: Ist es mit wissenschaftlichen Standards vereinbar, die These einer Studie, bei der man aufgrund der Autorenschaft interessengeleitete Ergebnisse nicht ausschließen kann oder gar vermuten muss, ohne kritische Würdigung zu übernehmen und die Leser über die sensible Autorenschaft nicht ausdrücklich aufzuklären?“
Mit seiner Antwort reitet sich der Sachverständigenrat nur noch tiefer in den Schlamassel. Er habe die Ergebnisse nicht übernommen, sondern mit anderen Daten repliziert, also nachvollzogen. „Einzig der letzte Satz der Ziffer 514 verweist direkt auf ein Ergebnis aus Niehues (2014)“ schreibt er. Niehues (2014) steht für die angesprochene IW-Studie. Der Nordamerikaner empfiehlt in solchen Situationen stattdessen:
If foot in mouth, do not wiggle toes!
Wie peinlich. Der Sachverständigenrat hat also den Studienaufbau des Arbeitgeberinstituts kopiert, ohne an irgendeiner Stelle darauf hinzuweisen. Er habe, so schreibt er, Niehues (2014) nur an einer Stelle mit einem Spezialergebnis zitiert. Der einschlägige Begriff zur Charakterisierung eins solchen Vorgehens ist meines Wissens das hässliche Wort Plagiat.
Aus Wikipedia: „Ein Plagiat (über frz. plagiaire „Dieb geistigen Eigentums“ aus lat. plagiārius „Seelenverkäufer, Menschenräuber“) ist die Anmaßung fremder geistiger Leistungen. Dies kann sich auf die Übernahme fremder Texte oder anderer Darstellungen, fremder Ideen (z. B. Erfindungen, Design, Wissenschaftliche Erkenntnisse, Melodien) oder beides gleichzeitig (z. B. Wissenschaftliche Veröffentlichungen) beziehen. Plagiate können, müssen aber nicht, gegen das Gesetz verstoßen.“(Link zum Wikipedia-Eintrag)
„Nur in Ziffer 514“ stimmt allerdings nicht ganz, was nicht nur die Antwort falsch, sondern auch den Plagiarismus noch schlimmer macht. Denn im Kasten auf Seite 274 lässt eine Fußnote wissen, dass die linke der abgebildeten Grafiken, diejenige zum wahrgenommenen Gesellschaftsbild, von Niehues (2014) übernommen wurde.
Es wird noch schlimmer: Nun stellt sich heraus, dass der verschämte Quellenverweis auf Niehues auch noch falsch ist. Jedenfalls sieht das die Autorin der ansonsten ohne Verweis kopierten Studie so. „Der Kontrast zwischen der tatsächlichen Verteilung und deren Wahrnehmung fällt in Deutschland besonders stark aus (Niehues, 2014)“, schreibt der Sachverständigenrat und will damit deutlich machen, dass die Deutschen vor allem wegen ihrer verzerrten Wahrnehmung der Ungleichheit auf Umverteilung stünden. Autorin Niehues erklärt auf Nachfrage, dass „die Formulierung ‚besonders stark‘ eine Relation nahelegt, die dem internationalen Vergleich nicht standhält“ und erläutert: „die Verzerrung in Deutschland ist ausgeprägt … aber nicht so extrem wie in den osteuropäischen Ländern, die immerhin ein Drittel der Länderstichprobe ausmachen.“
Auf die konkrete Frage nach spezifischen Interessen des Arbeitgeberinstituts IW beim Thema Verteilung geht der SVR nur sehr ausweichend ein, indem er schreibt: „Warum eine Studie des IW generell unwissenschaftlich sein sollte, erschließt sich nicht.“ Das war aber nicht die Frage oder die Behauptung. Die Frage war, ob nicht ein mögliches Eigeninteresse zu vermuten ist, das problematisiert werden oder zumindest über die klare Nennung der Quelle des Studiendesigns offengelegt werden müsste. Dieser Frage weicht der SVR aus.
Um nicht nur zu mäkeln, hier ein Vorschlag, wie ich mir eine korrekte Vorgehensweise vorstellen würde, unter der mutigen Annahme, dass das kopierte Studiendesign irgend etwas Seriöses zur Beantwortung der Leitfrage beitragen kann.
„Gemäß einer als Arbeitspapier des Instituts der deutschen Wirtschaft veröffentlichten Studie (Niehues 2014) rührt die öffentliche Debatte um die Ungleichheit vor alle von einem Wahrnehmungsproblem in der Bevölkerung her, die die Ungleichheit überschätzt. Niehues belegt das auf folgende Weise … Der Sachverständigenrat findet diese Vorgehensweise auch im Lichte eines möglichen Interesses des Instituts der deutschen Wirtschaft an Ergebnissen, die die Ungleichheit als geringes Problem darstellen, überzeugend. Der SVR hat die Studie mit neuen Daten zur tatsächlichen Einkommensverteilung repliziert. Dabei hat er eine etwas andere Aufteilung der Bevölkerung in Einkommensschichten gewählt. Insbesondere hat er die mittlere der sieben Einkommensklassen breiter gemacht und die Spannen der Einkommensklassen darunter enger gemacht, indem er unten eine zusätzliche Klasse hinzufügte. Im Ergebnis ergibt sich ein noch ausgeprägter Mittelstandsbauch in der Verteilung nach Einkommen als bei Niehues. Dieses Vorgehen sieht der Sachverständigenrat dadurch begründet, dass … (hier fehlt mir die Fantasie eine legitime Begründung vorzuschlagen.)“
Es ist nicht schwer zu sehen, warum die Wirtschaftsweisen statt einer solchen transparenten und korrekten Darstellung, die zu allerlei unbequemen Fragen einlädt, den Weg des Plagiarismus und der Verdunkelung wählten, um zu dem gewünschten „Ergebnis“ zu kommen, dass die Ungleichheit vor allem ein Problem der Wahrnehmungsverzerrung sei.
Teil 3: Weg mit der Ungleichheit!
Die Wirtschaftsweisen laufen zu Hochform auf, wenn es darum geht, durch kreative Datenanalyse und -Interpretation die Zunahme der Einkommensungleichheit klein zu reden und unschuldige Gründe dafür zu finden. Sie lassen sich dazu ein besonders raffiniert eingefädeltes Täuschungsmanöver einfallen.
In der Kurzfassung für den eiligen Leser (fast alle) vorne heißt es:
„Eine verteilungspolitische Begründung für die jüngst umgesetzten und noch diskutierten Maßnahmen lässt sich nicht aus der Entwicklung der Einkommensverteilung ableiten. Im Vergleich zu den 1990er-Jahren ist die Einkommensungleichheit zwar gestiegen, dies ist nicht zuletzt Ergebnis der höheren Erwerbstätigkeit von Geringqualifizierten, Älteren und Frauen.“
Hat er sich durch Kapitel 7 im Hauptteil gelesen und von dort auf die Analyse der Einkommensverteilung im Anhang verweisen lassen, so findet der bis dahin sicher recht einsame Leser die erstaunliche Mitteilung:
„Die nachfolgenden Analysen haben zum Ziel, ein detailliertes Bild der Einkommensverteilung in Deutschland zu zeichnen. Dabei wird nicht nach den zahlreichen und zum Teil schwer zu ermittelnden Bestimmungsgründen für das Ausmaß der Ungleichheit zu einem Zeitpunkt und für die Entwicklungen der Ungleichheit im Zeitverlauf gesucht.“
Der Rat hat also nicht nach den Gründen für die gestiegene Einkommensungleichheit gesucht, kann aber ganz prominent vorne sagen, dass diese „nicht zuletzt Ergebnis der höheren Erwerbstätigkeit von Geringqualifizierten, Älteren und Frauen“ ist. Wie geht das? Wenig plausibel ist es ohnehin. Alles das, was wir seit Monaten ständig in der Zeitung und überall sonst lesen, dass die Einkommen der Reichen weit stärker steigen als die der Normalverbraucher und die Einkommen der Superreichen stärker als die der bloß Reichen, und die Einkommen der Milliardäre am allerstärksten, all das soll „nicht zuletzt“ daran liegen, dass mehr Ältere und Frauen arbeiten.
Wie der Sachverständigenrat zu dem äußerst erstaunlichen Befund kommt, lässt sich mit einiger detektivische Mühe nachvollziehen, indem man nochmal ganz genau Kapitel 7 liest.
Der Schlüssel zum Rätsel liegt in Ziffer 520, in der ganz nebenher das Ungleichheitsproblem auf die Lohnungleichheit eingeengt wird. Die richtig großen Einkommen, bei denen bekanntermaßen in Sachen Ungleichheit die Musik spielt, sind damit außen vor. Die Millioneneinkommen der Spitzenmanager auch, wie wir noch sehen werden, ja selbst die Einkommen in den unteren Hundertausenden.
„Für eine breite Wohlstandsverteilung ist vor allem der Arbeitsmarkt wichtig, da die Erwerbstätigkeit die Haupteinkommensquelle für die meisten Haushalte ist.“
Es folgen kurz dargestellte, offenbar nicht publizierte Rechnungen zur Lohnungleichheit und Beschäftigtenstruktur. Danach lasse sich ein Viertel der Zunahme der Lohnungleichheit (nicht der Einkommensungleichheit!) seit Mitte der 90erJahre auf eine Veränderte Zusammensetzung der Beschäftigten nach Alter und Ausbildungsstand erklären. Das rechtfertigt keinesfalls die auf Einkommensungleichheit bezogene Behauptung des Sachverständigenrats: „ist die Einkommensungleichheit zwar gestiegen, dies ist nicht zuletzt Ergebnis der höheren Erwerbstätigkeit von Geringqualifizierten, Älteren und Frauen.“
Die Durchschnittslöhne der verschiedenen Gruppen bewegen sich allesamt im Bereich von zehn bis 20 Euro. Der Sachverständigenrat will uns allen Ernstes weiß machen, dass ein großer Teil dessen, was die Ungleichheitsdiskussion in der Öffentlichkeit befeuert allein daher rührt, dass es unter den Lohnempfängern mit bescheidenen Löhnen wie diesen Gewichtsverschiebungen gegeben hat. Nein. Sie resultiert daher, dass die Löhne der normalen Lohneinkommensbezieher seit über einem Jahrzehnt stagniert haben, wie auch der Sachverständigenrat feststellt, während die Einkommen der Reichen kräftig gestiegen sind, was er gänzlich – und in einem Kapital mit diesem Erkenntnisgegenstand grob unzulässig – verschweigt.
Zur Darlegung des Ausmaßes der Verdunkelung, die der Sachverständigenrat durch Verteilung seiner widersprüchlichen Aussagen an drei weit auseinanderliegende Stellen im Gutachten betreibt, sei erwähnt, dass es mich mindestens zwei Stunden mühsamer Recherche gekostet hat, um diese (Nicht-)Zusammenhänge klar zu bekommen.
Selbst wenn man wollte, könnte man nichts tun?
Durch Verknüpfung von nicht zusammen passenden Aussagen hat der Sachverständigenrat also dargelegt, dass man nichts gegen die Einkommensungleichheit tun muss. Zur Sicherheit stellt er noch klar – in einem einzigen apodiktischen Satz -, dass man außer eventuell hinterher umzuverteilen (aber Umverteilung haben wir eh schon zu viel) nichts unternehmen darf, damit die Markteinkommen gleicher verteilt werden:
„Aufgrund des komplexen Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage auf den Absatz- und Faktormärkten ist es allerdings in der Regel unmöglich, direkt und ohne nicht beabsichtigte Nebenwirkungen ein gleicheres‘ Marktergebnis durch staatliche Regulierung herbeizuführen.“`
Diese Behauptung klingt erst mal überzeugend, ist aber zum einen ohne Quellenangabe und zum anderen eine Trivialität ohne Aussagegehalt. Es stimmt, dass Veränderungen der Rahmenbedingungen immer Nebenwirkungen haben. Wenn das ein Grund wäre, etwas nicht zu tun, wäre die Politik am Ende und die Anarchie würde regieren. Das Kriterium kann nur sein, dass störende Nebenwirkungen erheblich sind, in Relation zur Zielerreichung. Mit dieser Frage beschäftigt sich der Sachverständigenrat gar nicht erst. Die OECD aber tut es in einer Studie zur Ungleichheit mit dem Titel „Divided we stand: Why inequality keeps rising“, die der Sachverständigenrat in diesem Kapital andernorts zitiert. Die Industrieländerorganisation kommt in einer ökonometrischen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sich Veränderungen in der Ungleichheit der Einkommen vor allem mit Änderungen in den Institutionen am Arbeitsmarkt (Gewerkschaftseinfluss, Kündigunsschutz etc) und der Arbeitsmarktpolitik erklären lassen. Was der Sachverständigenrat so apodiktisch ohne Quelle behauptet, ist also keinesfalls akzeptierte Ökonomenweisheit. Es steht in Widerspruch zu einer respektablen Quelle, welche die Sachverständigen ausweislich der Zitierung auch zur Kenntnis genommen haben.
Die Kenntnis der OECD-Studie mit gegenteiligem Ergebnis hat sie auch nicht gehindert, gezielt den Eindruck zu erwecken, als seien Gewichtsverschiebungen unter Arbeitnehmergruppen der Hauptgrund für steigende Ungleichheit. Beides ist in hohem Grade manipulativ und mit der üblichen wissenschaftlichen Ethik, wie sie die Professoren von jedem Schreiber einer Seminararbeit erwarten, nicht vereinbar.
Kreative Dateninterpretation
Mein Dank geht an Paul Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, der mir für die folgenden Passagen wertvolle Orientierungshilfe im Dschungel der Statistiken geleistet hat.
Der Sachverständigenrat schreibt:
„Der Bevölkerungsanteil von armutsgefährdeten Personen, die über weniger als 60 % des Medianeinkommens verfügen, liegt seit Mitte der 2000er-Jahre bei etwa 15 % (BMAS, 2013).“
Das ist zwar nicht wirklich falsch aber tendenziös. Man hätte auch schreiben können: „ .. lag seit Mitte der 2000er-Jahre bei rund 14,5% und stieg in den letzten beiden Jahren auf 15,1 und zuletzt 15,2 Prozent.“ (Nachtrag vom 21.11.: Im Jahr 20113 stieg die Quote nach Angaben des Statistischen Bundesamts vom 19.11. auf 15,5 Prozent. Der Sachverständigenrat residiert übrigens beim StatistischenBundesamt.)
Die Sachverständigen schreiben weiter:
„Ein geeigneteres Maß der Armutsgefährdung ist der Anteil der Empfänger von Mindestsicherungsleistungen an der Gesamtbevölkerung (Bauer et al., 2014). Diese Mindestsicherungsquote ist seit dem Jahr 2006 tendenziell rückläufig und lag im Jahr 2012 bei lediglich 8,8 %.“
Der Sachverständigenrat beruft sich hier auf ein populärwissenschaftliches Buch („Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet“). Das erscheint für eine starke Aussage wie diese, bei der unter anderem Eurostat und Statistisches Bundesamt eine andere Meinung vertreten, nicht ausreichend um die Behandlung des Themas wissenschaftlich seriös erscheinen zu lassen. Gegen die Mindestsicherungsquote als „besseren Indikator“ spricht etwa die Tatsache, dass einige Leistungen für Menschen mit zu geringem Einkommen dabei nicht berücksichtigt sind, wie zum Beispiel Wohngeld. Wer wegen sehr geringen Einkommens Anspruch auf Wohngeld hat, den würden zumindest viele als armutsgefährdet betrachten.
Die Weisen haben noch mehr starke Aussagen zu bieten:
„Das Auftreten absoluter Armut ist in Deutschland durch das staatliche Grundsicherungssystem so gut wie ausgeschlossen.“
Sie liefern keine Quelle für diese apodiktische, und für jeden, der mit offenen Augen durch die Welt geht, falsche Behauptung. Eurostat zufolge lag der Anteil von Haushalten in Deutschland, die in erheblicher materieller Deprivation leben (vulgo: absolut arm sind) 2012 bei 5,4% und damit nur ganz knapp unter dem bisherigen Maximum von 2008. Im Jahr 2005 war der Anteil noch um 0,8 Prozentpunkte niedriger. Das lässt sich schwer unter „so gut wie ausgeschlossen“ subsumieren. Vielleicht weiß der Sachverständigenrat ja mehr als Eurostat. Dann hätte er es uns aber nach allen Regeln der Wissenschaft mitteilen müssen.
Wenn ich mich nicht täusche ist die einzige Erwähnung der Einkommen der Reichen in Ziffer 686, wo erwähnt wird, dass diese nicht so gern an Haushaltsbefragungen zu Einkommen und Vermögen teilnehmen, wie dem vom Sachverständigenrat verwendeten sozioökonomischen Panel. Die Milliardenvermögen und Multimillioneneinkommen sind also nicht enthalten. Die Topmanager mit Millioneneinkommen auch nicht. Macht aber angeblich nichts, denn:
„Seit dem Jahr 2002 werden deshalb im SOEP mittels einer gesonderten Stichprobe Hocheinkommensbezieher separat erfasst. Auf diese Weise gelingt es, eine entsprechende Verzerrung am oberen Rand der Verteilung zu reduzieren (Frick et al., 2007).“
Danach kommt die beruhigende Feststellung, das Panel gebe ein repräsentatives Bild ab. Liest man bei Frick et al. nach, so stellt man fest, dass die Panel-Organisatoren um die Einkommen der Befragten nicht schon bei 40000 Euro aufhören zu lassen, besondere Anstrengungen unternommen haben, um auch eine vernünftige Anzahl von Befragungsteilnehmern mit – halten Sie sich fest – Einkommen von 40.000 bis 60.000 Euro einzubeziehen. Wenn das Resultat ein repräsentatives Abbild sein soll, ist es kein Wunder, dass die „Sachverständigen“ Einkommensungleichheit für ein geringes Problem halten.
Vermögensungleichheit ist auch kein Problem
Bei der Analyse der Vermögensverteilung kommen zunächst lange Ausführungen darüber, wie schwierig die genaue Erfassung ist, unter anderem weil die Hochvermögenden nicht gerne in Befragungen Auskunft über ihre Milliarden geben. Dann kommt schon die fragwürdige Behauptung:
„Andere Datenquellen für detaillierte Vermögensanalysen … sind für Deutschland nicht vorhanden.“
Die Behauptung ist sehr fragwürdig, weil sich im Literaturverzeichnis des Kapitels die Studie findet:
Der EZB-Ökonom Philip Vermeulen hat anhand der öffentlich zugänglichen Daten über die Vermögen der Superreichen, von denen es in Deutschland besonders viele mit besonders hohen Vermögen gibt, die Informationen aus den Haushaltsbefragungen ergänzt und daraus korrigierte Daten über die Vermögensverteilung berechnet. Danach ist die Vermögensverteilung in Deutschland erheblich ungleicher als in den meisten anderen europäischen Staaten und fast so ungleich wie in den USA, wo das oberste Hundertstel sich anschickt die „unteren“ 90 Prozent vermögensmäßig zu überholen. Das reichste Prozent hält danach in Deutschland rund ein Drittel des Vermögens, in Frankreich und Italien ist es nur rund ein Fünftel. Die reichsten fünf Prozent halten über die Hälfte des Vermögens. Solche Zahlen fehlen völlig in der Analyse der Sachverständigen im Hauptteil ihres Gutachtens. Aber die Professoren brauchen eh keine Zahlen, um zu ihrer wichtigsten und abschließenden Botschaft zu kommen, welche die Reichen dafür entschädigt, dass sie in diesem Kapitel zur Ungleichheit kaum erwähnt wurden:
„Neiddebatten und Maßnahmen, welche die Renditechancen schmälern, wie etwa Vermögensteuern, können die Investitionsbereitschaft hemmen und die wirtschaftliche Dynamik schwächen.“
Da ist es gut, dass wir an anderer Stelle im Gutachten schon gesehen haben: eine Investitionsschwäche gibt es trotz niedriger Investitionen nicht. Soll also niemand einwenden: wenn schon die kräftig sprudelnden Gewinne und Vermögenseinkommen der letzten zehn Jahre keine Investitionen hervorgebracht haben, müssen wir dann wirklich die Vermögensbesitzer noch reicher werden lassen, in der unsterblichen Hoffnung, dass sie dann vielleicht doch irgendwann wieder in Produktivvermögen investieren?
Teil 4: Unsere Leistungsbilanzüberschüsse sind gut und die Investitionsschwäche gibt es nicht
Mit fast jeder überprüften Quelle, welche die Wirtschaftsweisen anführen, erhärtet sich der Eindruck, dass „tricksen und täuschen“ milde Ausdrücke sind für das, was die Professoren tun. Allzu oft steht in den zitierten Quellen nicht das Behauptete, manchmal sogar das Gegenteil, etwa wenn behauptet wird, Investitionen im Ausland erhöhten die Investitionen daheim.
Die Verbalakrobatik, mit der die Weisen so tun als widerlegten sie die Kritik am dauerhaft extrem hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss, während sie diese tatsächlich bestätigen, war schon Thema der einleitenden Folge dieser Reihe. Es sei trotzdem noch ein Satz aus Ziffer 412 zitiert: „Die Ausweitung des deutschen Leistungsbilanzsaldos ist zu einem überwiegenden Teil auf den Unternehmenssektor zurückzuführen, der bei steigenden Gewinnen die Nettoinvestitionen reduziert hat.“ Denn dieser Satz steht im Widerspruch zur Stoßrichtung des gesamten Gutachtens, nämlich, dass man die Gewinne der Unternehmen ungehemmt sprudeln lassen muss, dann wird oder bleibt alles gut, weil dann viel investiert wird. Es stimmte in der Vergangenheit nicht und wird auch in Zukunft nicht stimmen, weil es im Gegensatz zur einäugig-angebotsorientierten Ideologie der Weisen auch noch eine Nachfrageseite gibt.
Ansonsten will ich mich in diesem Teil aber auf die Fehler oder Tricksereien der Weisen bei der Unterlegung ihrer Behauptungen mit Literaturverweisen beschränken.
Ziffer 430 „Zudem besteht für Industrieländer ein komplementärer Zusammenhang zwischen Inlands- und Auslandsinvestitionen (Desai et al 2005). Somit verstärkt der Aufbau von Produktions- und Vertriebsstätten im Ausland die Investitionstätigkeit im Inland.“
Das ist ziemlich frech, jedenfalls soweit die Quelle Desai et al. 2005: „Foreign Direct Investment and the Domestic Capital Stock” betroffen ist. Diese betonen, dass sich ihr Ergebnis allein auf die USA bezieht und in Gegensatz zu Ergebnissen für einen Querschnitt von Industrieländern steht. Zitat:
„Why are the implications of the time series evidence on investment by American multinational firms so contradictory to the implications of the cross sectional evidence examined by Feldstein and updated to the 1980s and 1990s? . It is possible that foreign and domestic investment are complements in the American economy, whereas they are substitutes in other OECD economies. Given the relatively limited available evidence of the behavior of non-U.S. based multinational firms, it is difficult to dismiss or accept this explanation.”
Zu Deutsch: Die Ergebnisse aus Studien für viele Industrieländer sind gegensätzlich zu denen für die USA, auch in der Untersuchung der Autoren selbst. Das könnte daran liegen, dass die USA speziell sind, was ja nicht ausgeschlossen ist, da sie als einzige die Weltleitwährung haben.
Eine weitere Erklärung, die die zitierten Ökonomen bieten ist, dass sie allein die Investitionen von multinationalen US-Firmen betrachten, nicht aber die Unternehmens-Investitionen in den USA insgesamt. Es kann ohne weiteres sein, dass zwar Multis, die mehr im Ausland investieren und dort billiger produzieren, auch im Inland mehr investieren, weil sie stark wachsen und inländische Konkurrenten verdrängen. Das kann mit insgesamt sinkenden Investitionen im Inland einhergehen.
Setzen 6, wegen täuschender Zitierung!, würde der Begutachter einer Seminararbeit wohl sagen.
Ziffer 436 „Seitens der realen Ausrüstungsinvestitionen liegen bisher kaum Anzeichen für eine strukturelle Fehlentwicklung vor. Umfragen des Ifo Investitionstests für das deutsche Verarbeitende Gewerbe zeigen, dass Investitionstätigkeit der Firmen in den Jahren 2012 und 2013 nicht von der Wirtschaftspolitik behindert wurde. Vielmehr haben gedämpfte Ertrags- und Nachfrageerwartungen, etwas aufgrund der schwächeren Konjunktur im Ausland, zu einer schwächeren Investitionstätigkeit geführt. (Wechselberger 2014).“
In der zitierten Quelle konnte ich dergleichen nicht finden. Hier wird die Investitionsneigung für 2014 untersucht, nicht für 2012 und 2013. Es gibt ein bisschen was über die Investitionen 2013, aber nicht das, was die Weisen schreiben, und nichts über 2012.
Und selbst wenn es so wäre, dass die Investitionsschwäche auf mangelnde Nachfrage zurückgeht, dann wäre das ja genau die Bestätigung der Kritik an den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen. Man hat durch übermäßiges Lohndrücken die Inlandsnachfrage ruiniert und gleichzeitig die Konkurrenten im Ausland in Nachteil gesetzt. Wenn das keine „strukturelle Fehlentwicklung“ ist, weiß ich nicht, was die Weisen mit dem Ausdruck meinen.
Ziffer 445: „Es zeigt sich, dass die aufgrund der guten Gewinnlage stark gestiegene Ersparnis der Unternehmen mit der guten Exportkonjunktur korrespondiert, während die Lohnmoderation bis 2007 eher dämpfend auf die Konsumnachfrage und darüber auf die Importe wirkte.“
Das wird noch wichtig werden. Und gleich nochmal:
Ziffer 449. „Drittens dürfte die moderate Lohnentwicklung über Einkommenseffekte die Binnennachfrage und darüber die Importnachfrage gedämpft haben.“
Wenig danach wird jedoch in einer farbig unterlegten Box eine Studie von Gadatsch et al. (2014) herausgestellt. Sie quantifiziert die makroökonomischen Auswirkungen der fiskalpolitischen Reformen und Arbeitsmarktreformen der Jahre 1999 bis 2008. Dem Leser wird dabei die Information vorenthalten, dass es sich um ein Arbeitspapier des Sachverständigenrats handelt, erstellt von zwei Stabsmitgliedern und einem Bundesbankökonomen, offenkundig nur entstanden um im Gutachten zitiert zu werden.
Im Gegensatz zu dem was der Sachverständigenrat in Ziffern 445 und 449 selbst schreibt kommt dieses Arbeitspapier zu dem Ergebnis, dass die Hartz-Reformen zwar die Löhne gedrückt, aber trotzdem die Importnachfrage nicht gedämpft sondern sogar leicht erhöht hätten. Die Auftragsschreiber haben ihre Sache wohl zu gut gemacht. Diese steile These war den Professoren dann doch zu gewagt und unglaubwürdig, um sie öffentlich vorzutragen. Aber, wenn man sich prominent (wenn auch nicht mit offenem Visier) auf ein Arbeitspapier des eigenen Stabs beruft, sollte man dieser Analyse auch vertrauen, oder die Abweichung erklären. Doch fern davon: das Ergebnis wird in der Box wohlmeinend referiert, eine Studie mit gegenteiligem Ergebnis kurz genannt und dann schnell abqualifiziert und noch eine andere Studie mit angeblich gleichem Ergebnis angeführt (Felbermayr et al 2013) .
Ein Grund, warum der Stab in seinem Modell keine Nachfragedämpfung findet, könnte darin liegen, dass das Modell keine Rolle für die Nachfrage kennt. Alle Kapazitäten sind in diesen sogenannten DSGE-Modellen voll ausgelastet. Es gibt dort nur „friktionale“ Arbeitslosigkeit, keine konjunkturelle. Das meiste an realweltlicher Arbeitslosigkeit gibt es darin gar nicht, weil einfach angenommen wird, dass das “repräsentative“ Durchschnitts-Wirtschaftssubjekt nicht mehr arbeiten will als es arbeitet. Ein bisschen Arbeitslosigkeit gibt es aber schon, weil es dauert, bis man einen neuen Arbeitsplatz gefunden und eine offene Stelle besetzt hat. Das alles muss man aber schon vorher wissen, um die Genese der steilen These zu durchschauen. Die Autoren stellen es so dar, als hätte ihr Modell ernsthaft etwas mit der Realität zu tun und würde tatsächliche Entwicklungen von Nachfrage und Arbeitslosigkeit abbilden. Es ist schlimm genug, dass solche Modelle als State-of-the-art gelten. Aber wie die Autoren – und durch zustimmende Widergabe die Wirtschaftsweisen – sie interpretieren, ist ziemlich manipulativ.
Schon ein Blick auf den Abstract von Felbermayr et al zeigt dass auch mit dieser Zitation getäuscht wird. Die Quellenangabe steht an einem Absatz, der nochmals durch Gadatsch et al. belegt werden könnte, aber nicht durch Felbermayr et al. Letztere schreiben zum einen, dass ihre Ergebnisse „contrary to the literature“ sind, also eine Minderheitsmeinung darstellen. Nichts davon erfährt der Leser des Sachverständigenratsgutachtens. Außerdem handelt es sich um eine Panel-Analyse für 20 Industrieländer, keine Untersuchung der deutschen Reformen, wie der Absatz impliziert, der mit dieser Quelle geschmückt wird.
Mit derart widersprüchlichen Schlussfolgerungen und wiederholt fehlerhafter bis täuschender Zitation würden die Professoren wohl kaum eine Seminararbeit ihrer Studenten passieren lassen.
Fortsetzung
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Schlagwörter: Sachverständigenrat, Wirtschaftsweise, Jahresgutachten, Ideologie