Erwischt beim Tricksen und Täuschen suchen die Wirtschaftsweisen ihr Heil im Tricksen und Täuschen

 Frage 2 der Handelsblatt-Anfrage beim Sachverständigenrat lautete: „Ist es legitim zu behaupten: ‚Dass in Umfragen regelmäßig ein Großteil der deutschen Gesellschaft am unteren Rand der Wohlstandsverteilung verortet wird, widerspricht … der tatsächlichen Verteilung der Haushaltsnettoeinkommen, die den Großteil der Bevölkerung im mittleren Einkommenssegment ausweist‘, wenn sich durch Einteilung der

Einkommensklassen jede beliebige Gesellschaftsform grafisch darstellen lässt, auch die, die die die Einschätzung der Bevölkerung bestätigen würde?“

 Der Rat hatte in Kapitel 7 seines Jahresgutachtens einer pyramidenmäßigen Bevölkerungsschichtung die sich Umfragen zufolge die meisten Deutschen vorstellen, eine tatsächliche Einkommensverteilung gegenübergestellt, die in der Mitte bauchig ist und nach oben und unten immer schmaler wird. Das rechtfertigt er in seiner ausführlichen Antwort so:

 „- Das Piktogramm zur wahrgenommenen Verteilung gibt sieben gesellschaftliche Schichten vor (Panel links in Abb. 71).
− Als mittlere Einkommensklasse wird ein Bereich um den Median (per Definition das mittlere Einkommen) gewählt.
− Unter- und oberhalb müssen dann jeweils drei Einkommensklassen definiert werden.“

Klingt erst einmal ganz vernünftig. Bis man merkt, dass es überhaupt nicht vernünftig ist. Satz 1 ist richtig. Satz zwei beschreibt was der Rat gemacht hat, und zwar etwas, was das vom Rat gewünschte Ergebnis praktisch vorwegnimmt. Satz drei ist eine nicht weiter begründete und falsche Behauptung.

Um das zu sehen, stelle man sich eine extrem ungleiche Gesellschaft vor, etwa ein feudales Dorf, mit einer reichen Gutsherrenfamilie, die ein sehr, sehr hohes Einkommen hat, und vielen leibeigenen Bauern, die fast nichts haben, und vielleicht noch ein paar Handwerkern dazwischen. Das Bild der Menschen von einer Gesellschaft in der wenige oben und die meisten unten sind, wäre so idealtypisch erfüllt. Was würde aber der SVR mit seiner Methode feststellen?

 Er würde den Median der Einkommen ermitteln, den er bei einem leibeigenen Bauern finden würde, im Einkommensbereich des Gegenwerts von gerade genug zu Essen. Um diesen mittleren Einwohner herum würde er die mittlere der sieben Einkommensspannen ziehen. Da die meisten leibeigenen Bauern gerade genug zu essen haben, wären die meisten in dieser „Mittelstands“-Kategorie. Darunter wären nun drei Klassen einzuziehen, die ziemlich eng wären, weil ja schon die „Mitte“ extrem niedrig liegt. Darüber wären auch drei Klassen einzuziehen, zwei ziemlich schmale und eine oberste, extrem breite, die vom einfachen Handwerker bis hinauf zum Gutsbesitzer reicht. Das Ergebnis nach der SVR-Methodik wäre: In dieser Gesellschaft sind die meisten in der Mitte, während unten und oben jeweils relativ wenige sind.

 Das Absurde dieser Diagnosemethode sollte damit klar sein. Der SVR wählt eine Diagnosemethode für die Einkommensverteilung bei der sich die Einteilung der Bevölkerung in Einkommensklassen nach der Einkommensverteilung richtet. Das Messinstrument richtet sich also nach der Ausprägung des Gemessenen. Das ist etwa so als würde man im Sommer die Temperatur an einem Arbeitsplatz oder in der Schule mit einem Thermometer messen, das zehn Grad weniger anzeigt, weil es im Sommer ja normal ist, dass es wärmer ist.

 Für den Fall, dass noch jemand denkt, Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler seien da einfach nur einem peinlichen Denkfehler aufgesessen und hätten nicht die Absicht gehabt zu täuschen, schauen wir uns mal an, welche Klassen sie eingeteilt haben.

 Die Einkommensverteilung bei den abhängig Beschäftigten in Deutschland geht brutto je nach Jahr von Null Euro bis etwa 10 Mio. oder 20. Mio Euro, die Gehaltsklasse der Vorstandschefs der großen Dax-Konzerne. Lassen wir das 5 bis 10 Mio. netto sein. Bei den nicht angestellten Beziehern von Vermögenseinkommen ist die Obergrenze unbekannt. Nehmen wir einfach mal sehr konservativ 5 Mio. Euro als Obergrenze der Einkommensverteilung an. Es kommt nicht darauf an, genau zu sein.

 Der SVR versteckt seine Einteilung der Einkommensklassen in einer Fußnote und gibt sie auch dort nur in Prozent des (dort nicht angegebenen) Median an. Zur Vereinfachung der Rechnung nehmen wir den Median mal gerundet bei 20.000 Euro Nettoeinkommen an. Rechnet man die darauf bezogenen Prozentzahlen in Euro um, so sieht man, dass der Sachverständigenrat mit „> 200 Prozent des Median“ eine oberste Einkommensklasse definiert, die von bescheidenen 40.000 Euro bis 5 Mio. Euro reicht, oder wo immer man das obere Ende sieht. Diese bescheidenen 40.000 Euro werden dann in sechs weitere Einkommensklassen aufgeteilt, und das auch noch auf sehr unsystematische Weise.

 Spanne 1. Die unterste Kategorie reicht von Null bis 8000 Euro.

 Spanne 2: 8000 bis 12000 Euro.

 Spanne 3: 12.000 bis 16.000 Euro.

 Spanne 4: Und dann kommt die wichtige mittlere Spanne, die der SVR einfach mal doppelt so breit definiert, nämlich 8000 Euro breit: 16.000 bis 24.000 Euro.

 Danach, wie sonderbar, wird die Spanne wieder enger

 Spanne 5: 24.000 Euro bis 30.000 Euro.

 Spanne 6. 30.000 bis 40.000

 Spanne 7: 40.000 bis 5.000.000 Euro. Diese Spanne ist fast 500 mal größer als die nächstkleinere Spanne. So kann man natürlich die Mitte optisch weit nach oben ziehen.

 Es gibt viele mögliche Einteilungen der Bevölkerung in sieben Gehaltsspannen, die man in Hinblick auf die Fragestellung irgendwie vertreten kann. Die des SVR gehört eindeutig nicht dazu. Seine Abfolge der Spannenbreiten lautet: 8000 Euro, 4000 Euro, 4000 Euro, 8000 Euro, 6000 Euro, 10.000 Euro, 4.960.000 Euro. Sieht mehr als ein wenig unsystematisch und willkürlich aus. Dabei ist festzustellen, dass der Sachverständigenrat hier die ebenfalls schon schönzeichnende Einteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft nicht einfach übernimmt, sondern noch eins draufsetzt, indem er die unteren Spanen noch kleinteiliger und die mittlere Spanne breiter macht, und dann auch noch deutlich breiter als die darüberliegende. Es ist mir schlechthin nicht vorstellbar, wie so etwas versehentlich geschehen kann.

  Nur zwei kleine, etwas systematischere Alternativ-Beispiele. Würde man die Spanne der beobachtbaren Einkommen gleichmäßig in sieben Teilspannen mit je 750.000 Euro Breite einteilen, wären 99,9 Prozent der Bevölkerung in der untersten Einkommensgruppe. Würde man einer Regel folgen, wonach die Spannen nach oben immer breiter werden, zum Beispiel immer doppelt so breit wie die nächstniedrige, dann ergäbe sich die Abfolge von Spannenobergrenzen von 40.000 Euro, 120.000 Euro, 280.000 Euro, 600.000 Euro, 1.240.00 Euro, 2.520.000 Euro und 5.080.000 Euro. Auch bei dieser Einteilung wäre die große Mehrheit der Bevölkerung in der untersten Einkommensschicht. Wenn man natürlich in unserem Beispiel von oben den Gutsbesitzer als Ausnahme weglässt, kommt man zu dem Ergebnis einer sehr egalitären Gesellschaft.

  „Natürlich lassen sich durch andere Zuschnitte andere Verteilungsbilder erzeugen“, räumt der SVR immerhin ein, aber: „Doch selbst wenn im unteren Bereich bis 60% des Medians aggregiert wird, ergibt sich noch nicht das Bild einer Pyramide. Zudem stellt sich dann die Frage, ob konsequenterweise nicht auch im oberen Bereich wieder stärker aggregiert werden müsste.“

 Pardon? Wieder stärker aggregiert? Im oberen Bereich? Wie sehr denn? Von 4.960.000 Euro auf 4.964.000 Euro? Das würde dann wohl heißen, die oberste Spanne würde schon bei 36.000 Euro beginnen. Wäre es da nicht vielleicht sinnvoller, die frei gewordene siebte Spanne zu nutzen, um die etwas überdimensionierte oberste Spanne, die fast 5 Mio. Euro breit ist, in zwei zu zerteilen.  

  Fazit: Der Wirtschaftsweisen können es einfach nicht lassen, oberflächlich überzeugend klingenden Unsinn zu schreiben, im Vertrauen darauf, dass es keiner im Detail nachvollzieht und ihnen auf die Schliche kommt. Eigentlich hätten sie inzwischen aus Schaden klug werden können.

  Ich weiß nicht, ob das die richtige Stelle ist, aber wir wollen doch einmal festhalten, dass der Steuerzahler für die zwei Millionen, die er für dieses Jahresgutachten und das Drumherum ausgeben muss, ganz erheblich mehr Qualität und weniger Täuschung erwarten darf.

  Ich bin zuversichtlich, dass die Wirtschaftsweisen sich nächstes Jahr erheblich mehr Mühe geben werden. Jedenfalls diejenigen von Ihnen, die nach diesem „Gutachten“ auch im nächsten Jahr noch mitmachen dürfen.

 Kleiner Tipp: Mein Doktorvater Olaf Sievert soll, als er Vorsitzender des Sachverständigenrats war, zur Qualitätssicherung Leute  im Stab beschäftigt haben, die seine Weltanschauung nicht teilten. Das ist ein probates Mittel dagegen, dass übermäßiger Groupthink die Sitten in Sachen Begründungen und Belege verlottern lässt.  

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