12. 10. 2020 | Gastbeitrag von Henry Mattheß. Die Berichterstattung über den Schweigemarsch gegen die Corona-Maßnahmen am 10. Oktober in Berlin, zeigt, wie Medienkonsumenten bei ihrer Meinungsbildung einer parallelen Realität ausgesetzt sind. Eine dpa-Meldung, eine grundlose Festnahme und eine nicht nachvollziehbare Polizeiangabe zu den Teilnehmerzahlen konstruieren zusammen eine ganz eigene mediale Realität von den Ereignissen.
Wer wie der Autor am 10. Oktober Augenzeuge des Schweigemarsches in Berlin gegen die Unverhältnismäßigkeit vieler Corona-Maßnahmen war, reibt sich bei Sichtung der medialen Berichterstattung verwundert die Augen ob des Unterschiedes zur eigenen Wahrnehmung vor Ort.
Es beginnt mit der Schätzung der Teilnehmerzahl durch die Berliner Polizei von einigen tausend Demonstranten. Angesichts eines gut 3 km langen Protestzuges schätzt der Autor eingerechnet der stets eingehaltenen Hygieneabstände die Teilnehmerzahl auf mindestens 30.000. Der Realität angemessen wäre also eine Polizeiangabe von einigen zehntausend Demonstranten gewesen.
Allen gesichteten Presseberichten liegt eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) zugrunde, auf deren Wiedergabe sich z.B. die FAZ und die WELT beschränken. Im dpa-Text wird das Anliegen der Veranstalter des Schweigemarsches korrekt zitiert, aber nahtlos mit der Person des Vegankochs Attila Hildmann verklammert:
„„Wir sind ein bunter Mix verschiedener Menschen, welche fernab von allen politischen Ausrichtungen, Ethnien oder Einkommensverhältnissen, mit der Politisierung des Coronavirus und der daraus erfolgten Einschränkung unserer Menschenrechte nicht einverstanden sind“, hieß es im Aufruf. Dieser wurde zum Beispiel auch im Telegram-Kanal des veganen Kochs Attila Hildmann geteilt, der sich selbst „ultrarechts“ und einen Verschwörungsprediger nennt.
Der letzte Absatz der dpa-Meldung führt diese rahmensetzende Verklammerung mit Rechtsextremismus, Neonazis und Reichsbürgern dann noch ausführlicher fort:
„Seit dem Frühjahr hatte es mehrfach sogenannte Hygienedemonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen in Berlin gegeben. Bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte eine Demo mit Zehntausenden Teilnehmern Ende August. Darunter waren auch größere Gruppen von Reichsbürgern, zudem auch einige kleinere Gruppen von deutlich erkennbaren Rechtsextremisten und Neonazis. 300 bis 400 Demonstranten überwanden damals Absperrgitter am Reichstagsgebäude. Sie stürmten die Treppe hoch und bauten sich triumphierend vor dem Besuchereingang auf.
Das Problem der Darstellung besteht nicht nur darin, dass eine Demonstration von vor sechs Wochen herbeigezogen wird, um eine aktuelle Demonstration zu diskreditieren. Es besteht auch in der fehlenden Differenzierung verschiedener Veranstaltungen am 28. August, wodurch ein nicht bestehender Zusammenhang suggeriert wird. Denn die eigenständige Veranstaltung, aus welcher damals die Reichstagsaktion initiiert wurde, war weder Teil der bereits um 14 Uhr aufgelösten „Demo mit Zehntausenden Teilnehmern“, noch der am Nachmittag gleichzeitig stattfindenden großen Querdenken-Kundgebung um die Siegesäule. Die klare zeitliche und räumliche Trennung der Veranstaltungen widerspricht der verklammernden Aussage der dpa-Meldung.
Unangemessene Personalisierung
Die dpa-Meldung wurde von manchen Redaktionen noch um stark tendenziöse Inhalte zu Einzelpersonen ergänzt, insbesondere um die Festnahme von Attila Hildmann kurz vor Ende des Schweigemarsches an der Siegessäule. Die Berliner Boulevarzeitung B.Z. verkürzt den Schweigemarsch gleich komplett auf eine personalisierte Mitteilung seiner Festnahme, unter Verwendung zweier Archivfotos früherer Festnahmen, davon eines als Titelbild.
Ein youtube-Video (ab 2h21min) deutet stark darauf hin, dass der maskentragende Hildmann und eine Begleiterin grundlos bei Gesprächen mit anderen Marschteilnehmern festgenommen wurden. Er wird von Beamten nicht wie üblich auf eine eventuelle Ordnungswidrigkeit angesprochen, sondern es erfolgte sofort ein zielgerichteter polizeilicher Zugriff. Im Video sind keine Regelverletzungen erkennbar, welche eine Festnahme rechtfertigen könnten. Hildmann gibt zwar einige Minuten vorher an anderem Ort vorübergehend ohne Maske ein Interview, wird dabei aber von anwesenden Beamten nicht angesprochen. Der für eine Bewertung der Festnahme relevante Gesamtkontext beginnt im Video ab 2h02min mit dem Interview.
Der anscheinend anlasslose Hergang der Abführung einschließlich der sich anschließenden schikanösen Leibesvisitation erweckt den Eindruck einer geplanten Inszenierung. Es ist nicht nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die Festnahme erfolgte. Eine Erklärung der Polizei ist bisher nicht bekannt.
Dass die Berliner Polizei, mit einem seine politischen Sympathien offen im Amt vertretenden Innensenator, gegenüber Corona-Maßnahmenkritikern extrascharfe Maßstäbe anzulegen scheint, konnte gegen 16 Uhr an zwei anderen Demonstrationszügen abgelesen werden. Jeweils mehrere hundert kurdische bzw. armenische Demonstranten zogen dichtgedrängt, vollkommen abstandslos über den Berliner Schlossplatz in Richtung Brandenburger Tor, ohne dass die begleitenden Polizeieinsatzkräfte in irgendeiner Weise intervenierten.
Fazit
Die Realität einer auch für Berlin sehr großen und wieder friedlichen Demonstration von zehntausenden Teilnehmern wird von Medien durch eine eigene „Realität“ ersetzt. Eine dpa-Meldung bewirkte die Gleichrichtung der mittlerweile stark zentralisierten redaktionellen Berichterstattung und versah den Schweigemarsch mit einer sachlich völlig unangemessenen Rechtsextremismus-Rahmung. Redaktionen verstärken diese Verklammerung noch mit tendenziösen, personalisierten Inhalten. Die Polizei verkündet klar untertriebene Teilnehmerzahlen.
Ergebnis der so konstruierten Medienrealität: Es demonstrierten nur einige tausend Menschen, die mit Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern in Verbindung stehen, was mit einer Festnahme eines angeblich solchen „belegt“ wird.
ARD und ZDF als öffentliche Rundfunkanstalten mit gesetzlichem Informationsauftrag verschweigen die Demonstration mehrerer zehntausend Menschen zu einem hochaktuellen Thema komplett, während über jede Demonstration in Weissrussland ausführlich berichtet wird. Und auch dem einstigen Nachrichtenmagazin Der Spiegel ist sie keine Nachricht wert. Ein Stategiewechsel vom Diffamieren zum Totschweigen?
Beispiele medialer Berichterstattung über den Schweigemarsch:
Der Tagesspiegel, ZEIT, Stuttgarter Zeitung, WELT, t-online, rp-online
Kommentar von Norbert Häring
Ich habe mir das Video der Festnahme angeschaut, und es ist wirklich sehr irritierend. Ein Anlass für die Festnahme ist nicht zu erkennen, auch nicht dass Hildmann oder sonst jemand gesagt worden wäre, was er falsch gemacht haben soll. Eine eher feingliedrige Frau, die weder bedrohlich wirkt, noch sich so verhält – im Gegensatz zu Hildmann ohne Maske – wird von zwei Beamten mit Armhebeln niedergehalten, ohne dass ein Anlass für diese Art der Behandlung erkennbar wäre.
Leseempfehlung von Norbert Häring
Jens Berger hat auf den Nachdenkseiten einen lesenswerten Kommentar darüber geschrieben, wie der Protest künstlich auf einige Personen mit zum Teil ziemlich schrägen und extremen Ansichten (Hildmann zähle ich dazu) reduziert und dann mit diesen Personen die gesamte Protestbewegung diskreditiert wird.
Wendler, Hildmann, Naidoo und Co. – Nebelkerzen zur Einengung des Debattenraums