Schätzungen zur Schattenwirtschaft waren viel zu hoch

Die bisherigen Schätzungen zum Ausmaß der inoffiziellen Wirtschaft in Deutschland dürften zu hoch gewesen sein. Der prominenteste Schätzer, Friedrich Schneider, reagiert mit einer modifizierten, niedrigeren Schätzzahl auf harte Kritik an seiner Methode. Doch die Antwort auf die Hauptfrage bleibt bemerkenswert offen.

Einmal im Jahr schätzt der Linzer Professor Friedrich Schneider seit vielen Jahren das Ausmaß der Schattenwirtschaft. Das ist sein Markenzeichen. Durch die Beständigkeit, mit der er schätzt, wie viel marktbasierte Produktion am Fiskus, an Statistikern und Strafverfolgungsbehörden vorbei stattfindet, ist er zur Autorität auf diesem Gebiet in Europa geworden. Nach seiner Schätzung von Jahresanfang wird die Schattenwirtschaft in Deutschland in diesem Jahr um sechs Milliarden Euro auf 330 Milliarden Euro zurückgehen und dann 10,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Den bisherigen Höchstwert verortet er bei 16,7 Prozent im Jahr 2003. Als Grund für den Rückgang gab Schneider einerseits die gute Beschäftigungslage an, andererseits leichte Anpassungen des Steuertarifs zum Ausgleich der sogenannten kalten Progression. Er kombinierte das mit der Aufforderung, die Einkommensteuer noch weiter zu senken.

Bei aller Dominanz ziehen Schneiders Zahlen auch immer wieder Kritik auf sich. Der kürzlich verstorbene St. Gallener Wirtschaftsprofessor Gebhard Kirchgässner nannte die von Schneider in den Raum gestellten Größenordnungen der Schattenwirtschaft in einem Aufsatz der Februarausgabe von „German Economic Review“ unplausibel hoch und das methodische Vorgehen fragwürdig.

Schon im „Wirtschaftsdienst“ fand 2005 und 2006 eine über mehrere Runden ausgetragene Diskussion statt, zwischen Schneider und seinem damaligen Co-Autor Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) auf der einen Seite und Walter Koch von der Hochschule Flensburg. Koch wies hartnäckig auf Ungereimtheiten. Die Verteidigungslinie der Kritisierten lautete am Ende, die Kritiker sollten es erst einmal besser machen:

Die Bewertung, ob mit Resignation der Erforschung des Phänomens Schattenwirtschaft besser Rechnung getragen wird als mit unzulänglichen Methoden, auf deren Schwächen wir immer wieder hingewiesen haben, bleibt der Scientific Community überlassen.

Aus Anlass dieser Diskussion legte Schneider zusammen mit Enste auch dar, warum er die Schätzungen, trotz aller Unschärfe, für so wichtig hält. Man kann damit nämlich sehr konkrete wirtschaftspolitische Empfehlungen und Diagnosen abgeben. Zum Beispiel: „Zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung von Ausländern sind weitere Liberalisierungen der Märkte notwendig.“ Und: „Zusätzlich sind die Staatsquote und die Zahl der öffentlich Beschäftigten abzusenken.“ Auch niedrigere Steuern würden laut Schneiders Modell helfen.

Denn gemäß diesem Modell sind Steuern und staatliche Regulierungen, die Arbeitgeber belasten, wichtige Treiber der Schattenwirtschaft. In welchem Umfang sie es auch in der Realität sind, bleibt allerdings unbekannt, weil das Modell Annahmen enthält, die letztlich nicht überprüfbar sind. Aber Plausibilitätsprüfungen lassen sich vornehmen, und das hat Kirchgässner bei seiner Attacke auf Schneiders hohe Zahlen getan. Er verweist auf eine Untersuchung von Schneiders Co-Autor Lars Feld, wonach Landwirtschaft und Bauwirtschaft neun beziehungsweise 36 Prozent der gesamten Schattenwirtschaft ausmachen. Verteilt man das von Schneider geschätzte gesamte Ausmaß der Schattenwirtschaft nach diesen Anteilen auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche, würde das laut Kirchgässner bedeuten, dass die inoffizielle Agrarwirtschaft und die inoffizielle Bauwirtschaft deutlich größer wären als der offizielle Teil dieser Wirtschaftszweige. In einer gemeinsamen Replik weisen Schneider und Feld das zurück. Sie nennen Indizien, dass der in Felds Untersuchung genannte Anteil der Bauwirtschaft an der Schattenwirtschaft übertrieben sein dürfte, und führen Abgrenzungsprobleme zwischen den Sektoren an.

Ein mit Schneiders indirekten Modellverfahren konkurrierender Ansatz zur Schätzung der Schattenwirtschaft ist die Nutzung von Befragungsergebnissen. Sie weisen regelmäßig Anteile aus, die nur bei der Hälfte oder einem Drittel des modelltheoretischen Ansatzes liegen. Kirchgässner hält diese Werte für plausibler. Schneider allerdings hat große Zweifel, da man vermuten könne, dass viele Befragte trotz Anonymität und ausgeklügelter Befragungsmethoden keine ehrliche Auskunft über illegale oder sozial geächtete Tätigkeiten geben.

Raus kommt, was man per Annahme reinlegt

Allerdings räumt Schneider im Gespräch ein, dass Kirchgässner in manchen Punkten doch recht habe, und kündigt Konsequenzen für seine Schätzungen an. So beinhalteten die Zahlen, wie sie etwa anhand der Bargeldnachfrage geschätzt werden, auch Aktivitäten, die entweder keine Produktion oder nicht marktbasiert sind. Sie sind daher nicht Schattenwirtschaft im üblichen und von Schneider verwendeten Sinne. Dazu zählt zum Beispiel Schmuggel, Do-it-yourself und Nachbarschaftshilfe. Auch ein methodisches Problem, das möglicherweise zur Überschätzung führt, räumt Schneider ein. Als Konsequenz will er künftig neben dem modelltheoretisch ermittelten Schätzwert auch noch einen niedrigeren, „angepassten“ Wert angeben. Auf einer Konferenz in Brügge zur Messung der Schattenwirtschaft hat Schneider Ende Mai die alten und die neuen Werte für verschiedene Länder gegenübergestellt. Für Deutschland beträgt der angepasste Wert 6,8 Prozent, ein Drittel weniger als der Modellwert.

Was Schneider mit seinem „modellbasierten“ Ansatz im Kern macht, ist eine Zusammenfügung dessen, was man aus internationalen Vergleichen über Indizien für Schattenwirtschaft und Einflussfaktoren auf die Schattenwirtschaft weiß – oder zu wissen glaubt. Es wird etwa berechnet, wie sich der Bargeldumlauf und andere Indikatoren für Schattenwirtschaft ändern, wenn der Steuersatz steigt oder der Arbeitsmarkt dereguliert wird. Daraus wird ein Modell zusammengefügt, das aussagt, welcher Indikator wie stark mit der Schattenwirtschaft in Beziehung steht. Über das absolute Ausmaß der Schattenwirtschaft sagt es zunächst nichts. Das Ausgangsniveau muss auf andere Weise festgestellt werden, indem das Modell „kalibriert“ wird.

Hier liegt das von Kirchgässner monierte methodische Problem. Üblicherweise wird bei diesem Ansatz nämlich der Bargeldumlauf zur Kalibrierung verwendet. Der ist aber auch schon Bestandteil des Modells. Wenn man, so Kirchgässner, ein Modell mit einem Indikator kalibriert, der in ihm enthalten ist, dann bekommt man logischerweise das bestätigt, was man vorher angenommen hat. Schneider will deshalb künftig modellunabhängige Indikatoren zur Kalibrierung nutzen, etwa Informationen über den Energieverbrauch und nächtliche Satellitenfotos.

Präzise klingt das nicht wirklich, eher wie eine schwache Krücke. Letztlich bleibt Schneiders Antwort auf die Fragen, wie groß das Ausmaß der Schattenwirtschaft ist – also die Zahl, die die Medien vor allem interessiert – irgend etwas zwischen einer reinen Setzung und einer sehr groben Schätzung.

[25.7.2017]

Print Friendly, PDF & Email