Wie man mit Ökonomie-Lehrbüchern noch reicher wird

Helge Peukert von der Uni Siegen hat sich verschiedene der führenden mikroökonomischen Lehrbücher angeschaut, darunter das von Hal Varian, dem Chefvolkswirt von Google. Mit seiner freundlichen Genehmigung präsentiere ich aus dem im April erschienenen Buch „Mikroökonomische Lehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?“ eine Leseprobe, die sich mit dem sehr speziellen amerikanischen Markt für Lehrbücher befasst.

Von Helge Peukert. Heute ist Varian neben Vint Cerf, dem Vater des Internets, eine der beiden wissenschaftlichen Koryphäen von Google. Mit einem Team von rund 1000 Statistikern erarbeitet der Ökonom Markt- und Werbeanalysen für den Vorstand und schaut sich zum Bei­spiel an, wie effektiv Werbung ist, wo sie Aufmerksamkeit und Umsatz bringt und auf welche Suchwörter Marketingspezialisten setzen sollten. Varian erstellt aber auch Konzepte und Strategiepapiere zu politischen Fragen, Datenschutz und Wettbewerbsthemen. ‚Mein Job ist es, mir die Fragen zu stellen, die mir das Management nächsten Monat stellt‘, sagte er in einem Interview mit der ‚FAZ‘.

Varian ist ein Taktiker. Als Professor in Berkeley empfahl er seinen Stu­denten, unbequeme Fragen am besten zu ignorieren – vor allem, wenn der Zeitpunkt für ihre Beantwortung ungünstig ist. Und er kennt auch den Wert von Fehlinformationen ‒ zum Beispiel als das US-Beratungsunternehmen Comscore jahrelang Googles Marktanteil im US-Suchmaschinengeschäft unterschätzte. ‚Aus Anti-Trust-Gründen bin ich ganz glück­lich darüber‘, wird Varian in einem vertraulichen Papier der Wettbewerbsbehörde FTC zitiert. Die von ihm beratene Google-Führungsriege korrigierte die Zahlen jedenfalls nicht. Manche sagen: Dass Google in den USA trotz langjähriger Untersuchungen der FTC bislang eine Monopolklage erspart blieb, verdankt der Gigant nicht zuletzt seinem Chefökonomen. Varian ist auch für den Erwerb von Patenten für Milliardensummen verantwortlich, etwa von Handypionier Motorola. Er kann somit keinesfalls als interessenkonfliktfreier, (wert)neutraler Wissenschaftler angesehen werden.

 Vor der Inhaltsanalyse ist noch auf ein Spezifikum des amerikanischen Lehrbuchmarktes hinzuweisen, der sehr gewinnorientiert ist und auf dem ständig leicht veränderte, neue Auflagen der Lehrbücher zu exorbitant hohen Preisen erscheinen. Sebastian Berger, der viele Jahre in den USA lehrte, erläutert die dortige Situation:

„Das perfektionierte System der Ausbeu­tung der ohnehin hoch verschuldeten Studenten (die Studiengebühren stiegen in 10 Jahren um 100 Prozent und mehr) funktioniert folgender­maßen: Die Verlage wurden wegen dem Handel mit gebrauch­ten Lehr­büchern im Internet seit 2000 kalt erwischt, da dadurch ihre Einnahmen drastisch sanken. Ihre Lösung: Sie haben einfach den Zyklus reduziert, d.h. jedes bzw. jedes zweite Jahr kommt eine neue Edition heraus, da sie wissen, dass die Studierenden immer die neueste Auflage eines Lehrbuches haben müssen, da an den meisten Universitäten und Colleges der Erwerb des aktuellen Lehrbuches verpflichtend für die Kursteilnahme ist. Ein Beispiel: Die Hardcoverausgabe von Varians Intermediate Microeconomics (9. Aufl., 2014) kostet in der deutschen Übersetzung unter 35 Euro, die amerikanische Ausgabe über 200 Dollar.

 Zunächst: Schon für eine (Re)Akkreditierung ist nach dem US-Akkreditierungssystem, das schon jetzt von vielen Business Schools in Großbritannien übernommen wird, immer das neueste Buch erforderlich. Fer­ner bieten die Verlage den Professoren die Powerpoint-Folien (PPTs) gratis an, so dass der übliche Lehrende das Textbuch wählt, das ihm die Arbeit am meisten abnimmt, d.h. jenes mit den verwertbarsten PPTs.

 Entscheidend ist aber die Tatsache, dass die Verlage den Lehrenden gratis die Nutzung einer Software anbieten, die mit dem Inhalt des Buches verbunden ist und in der die Studierenden jede Woche ihre Hausaufgaben machen müssen, d.h. stupide Rechenaufgaben mit Multiple-Choice-Antworten. Jedes Buch hat einen eigenen Code und der User muss sich auf der Website des Verlages registrieren. Der Lehrende be­kommt dann computerbasiert die Auswertung der Hausaufgaben für jeden und alle Studenten, kann dann benoten, wer gut war usw. Er hat dadurch kaum noch Arbeit mit der Benotung. Der Verlag mit der am ein­fachsten zu handhabenden Software gewinnt im ‚Wettbewerb‘ um die Leh­renden, wodurch eine Tendenz zum Monopol oder engen Oligopol besteht. Die Studierenden haben bei der Auswahl überhaupt keinen Ein­fluss, da der Lehrende bestimmt, was gekauft werden muss.

 Um einen Wettbewerb im (neo-)klassischen Sinn handelt es sich hier­bei somit nicht, weil die in Lehrbüchern eigentlich als Könige geltenden Kunden keine Wahl haben. Ihre Präferenzen zählen nicht, obwohl wir doch die Segnungen freier Märkte unterrichten (müssen). Die Studierenden müssen aber für diesen Aufwand zahlen, d.h. für die Arbeitsentlastung der häufig unterbezahlten Part-Time-Professoren ohne Benefits (keine Abführung von Krankenversicherungs- und Rentenbeiträgen) durch die Software. Dadurch wird studieren immer teurer und die Lehrenden und Studieren­den stehen immer schlechter da.

 Das Hauptproblem dieses Systems ist aber nicht nur die Verschuldung der Studenten und Lecturer, sondern, dass es einen Anreiz setzt in Richtung Aufwandminimierung bei der Lehre und Benotung und somit Re­duktion der Lehrqualität, da nur noch stupide Inhalte einfach per Soft­ware abgefragt werden. Welche unterbezahlte Lehrkraft macht sich da noch die Arbeit, komplexe und kritische Inhalte zu testen und abzufragen?

 Es liegen viele perverse Fehlanreize in diesem System vor: Es gibt ausgebeutete Part-Time-Lecturer ohne Festanstellung und Benefits (mittlerweile 80 Prozent der Lehrkräfte in den USA), die diese Lehrbücher bestellen und dem Verlag angeben, dass sie sie in ihrem Kurs ver­pflichtend lehren. Der Verlag freut sich darüber und schickt dem Lecturer den Code, die PPTs usw. Dann kaufen die Studierenden für viel Geld das Lehrbuch, der Verlag und die Lehrbuchautoren machen Gewinn.

Aber der Lecturer hat nichts unterschrieben und ist insofern auch nicht gebunden, so dass er das Buch mit Code und Software weiterverkaufen kann. Pro Woche kommen in vielen Departments ca. 2-3 Book Vendors vorbei, die alle Bücher von Lehrenden abkaufen, die diese gratis von den Verlagen erhielten. Damit kann man auch richtig Geld verdienen. Der schlecht bezahlte Lecturer bestellt Lehrbücher als Inspection Copy, verkauft dann z.B. 20 dieser aktuellen Lehrbücher mit Codes gebraucht für ca. 50 USD pro Stück; so kommt pro Jahr auch einiges für ihn zusammen. Der Wahnsinn hat System und die Studierenden lernen eine Menge über die realexistierende Logik des Konkurrenzkapitalismus.“

 Das Vorwort des Lehrbuchs von Varian enthält eine einzige Botschaft: Der Autor befürwortet einen „analytischen Ansatz“ und eine „streng logische Argumentation“. Er beklagt mehrfach den Mangel an mathematischen Vorkenntnissen bei den Studenten, sie „sollten die Differen­tialrechnung beherrschen, aber sie können sie nicht“. Mit Mathematik seien Gedankengänge „viel einfacher darstellbar, und alle Studierenden der Volkswirtschaftslehre sollten das erkennen“. Er fordert, „alle Studierenden der Volkswirtschaftslehre sollten fähig sein, eine ökonomische Geschichte in eine Gleichung oder ein Zahlenbeispiel zu übersetzen.“

 Aus Helge Peukert: „MikroökonomischeLehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?“. Metropolis. 19,80 Euro.

[13.5.2018]

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