Abwege einer menschenfeindlichen Wissenschaft

Zurück von der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Münster, über die ich für das Handelsblatt berichten durfte (hier und hier und hier und in Print), möchte in diesem Essay den nachdenklichen Ökonomen etwas Gedankenfutter mit ins nächste Vereinsjahr geben – dazu, warum ihre Zunft so wenig beliebt in der Bevölkerung ist, warum die Politiker aus gutem Grund nicht auf sie hören, und wie sich das ändern ließe.

Meine These: Es ist eine hässliche Kreatur, die die Welt der Wirtschaftsfachleute bevölkert. Der wahre Mensch ist anders. Deshalb wird die Ökonomik kaum darum herum kommen, sich grundlegend zu reformieren, wenn sie nützlicher – und menschlicher –  werden will. 

Peter K. ist ein Mensch, wie er dem Ökonomen vorschwebt. Er hat es sehr weit gebracht, denn er ist gut darin, im Team andere für sich arbeiten zu lassen. Seine Kollegen hat er schon immer als Konkurrenten betrachtet. Immer wenn er ihnen heimlich ein Bein stellen konnte, tat er das. Während die anderen um ihn herum fielen, stieg er nach oben. Er tut strikt nur das, wofür er entweder extra bezahlt wird, was persönliche Lorbeeren einbringt, oder was er tun muss, weil es sonst auffällt und er Karrierenachteile erleiden könnte.

Die Aufsichtsräte der Firma, die Peter K. leitet, stört das nicht. Denn sie haben gelesen und an der Uni gelernt, was die Ökonomen seit Jahrzehnten predigen und finden solches Verhalten normal. Sie gehen deshalb davon aus, dass jeder vernünftige Mensch, zumal ein erfolgreicher, nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Deshalb haben sie einen Vertrag mit Peter K. ausgehandelt, in dem Peter K. umso mehr Geld versprochen wird, je höher er den Aktienkurs des Unternehmens treiben kann. Wie er das macht ist ihnen letztlich egal.  

Eine der Koryphäen des Fachs, der Harvard-Ökonom Gregory Mankiw beschreibt das ins einem weltweit wohl meistgenutzten Lehrbuch so: „Die Volkswirtschaftslehre wird von speziellen Lebewesen bevölkert, die manchmal auf den Namen Homo Oeconomicus hören.“

Auch privat handelt Peter K. aus Ökonomensicht vorbildlich, so wie das unter anderem der kürzlich verstorbene Chicago-Ökonomen Gary Becker als rational beschrieben hat. Becker  hat den Ökonomie-Nobelpreis dafür bekommen, dass er hemmungslos die Prinzipien der kühlen egoistischen Kalkulation des  eigenen Vorteils auf alle Lebensbereiche anwendete, gern auch auf Ehe und Familie. Liebe und Einstehen füreinander sind dabei nur nette gefühlsduselige, von der sich der kühle ökonomische Analytiker möglichst wenig blenden lassen sollte. Letztlich geht es schließlich  nur um relative Verhandlungspositionen, darum, wer wem wie viel zu bieten hat, relativ zu dessen nächstbester Alternative.

Ganz in diesem Sinne hat Peter K. mit seiner jungen, repräsentativen Frau per Ehevertrag vereinbart, wie viel Taschengeld sie dafür bekommt, dass sie mit ihm zusammenlebt und mit ihm bei gesellschaftlichen Anlässen auftritt. Auch wie oft sie ihm im Bett zu Dienste ist und welche Arbeiten sie im gemeinsamen Haushalt erledigt, hat er vertraglich fixiert. Dass seine Frau ihn verachtet, ist ihm egal. Er interessiert sich nur für sich selbst und die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Kinder hat er nicht, denn die sind mit erheblichen Konsumeinbußen verbunden. Er hat auch keine Freunde, nur Leute, die so tun als ob, weil sie sich von ihm etwas erhoffen. Aber das macht ihm nichts aus, denn er hält es ebenso, und er  interessiert sich ohnehin nur dafür, mehr zu konsumieren. Freizeit schätzt er zwar auch, aber weil er mit seiner Arbeit so viel Geld verdienen kann, verbringt er die weitaus meiste  Zeit mit Arbeit.

Peter K. ist Homo Oeconomicus. Kühl berechnend, rational, egoistisch und bis zum Autismus egozentrisch. Er bevölkert die Lehrbücher und die Rechenmodelle der Ökonomen. Weil er auch noch unglaublich klug ist und die Wahrscheinlichkeit von allem ausrechnet, was in Zukunft passieren kann macht er den Ökonomen die Arbeit leicht. Weil es nur Leute wie ihn gibt, können sie annehmen, dass es für alles einen funktionierenden Markt gibt, egal ob heute, morgen oder in der fernen Zukunft. Peter K. und seine Mitbewohner der Ökonomenmodelle kennen den Preis oder können den wahrscheinlichen Preis berechnen.

Es ist eine kalte Welt, in der Peter K. lebt. Aber sie ist effizient. Nichts wird verschwendet, jeder bekommt, was er verdient.

Das kann sehr viel Geld sein. Oder ein elendes Leben. Denn Homo Oeconomicus Peter K. hat einen Bruder, auch ein Homo Oeconomicus, aber einer mit schlechteren Voraussetzungen. Max K. ist berechnend aber dumm. Die Ökonomen sagen von ihm, er habe eine hohe Freizeitpräferenz. Weil er so faul ist, hat er nichts gelernt und kann daher auch nur für geringes Geld ungelernte Arbeiten verrichten. Das tut er nur in dem Maße, wie er es zum Überleben braucht. Lieber als zu arbeiten, lässt er sich von anderen aushalten. Dann frönt er der Faulheit, dem Rausch und seinen sonstigen Trieben, was ihm bereits eine ebenso ansehnliche wie vernachlässigte Kinderschar eingebracht hat.

Er ist das Sorgenkind der Ökonomen. Auch er bevölkert ihre Lehrbücher und Modelle. Auch um ihn kümmern sie sich. Während sie für Peter die finanziellen Anreize ersonnen haben, um ihn zu Höchstleistungen anzustacheln, halten sie für Max K. die Restriktionen parat. Indem man es ihm möglichst schwer macht, Almosen zu bekommen oder sich sonstwie durchzuschummeln, zwingt man ihn, zu arbeiten, hält ihn dadurch vom Saufen und Schlimmeren ab, und zeigt seinen Kindern, dass es sich nicht lohnt, eine Karriere als Schmarotzer an der Gesellschaft einzuschlagen.

Eine Welt, die von solchen Menschen wie Peter und Max K. bevölkert ist, hat der englische Philosoph Thomas Hobbes 1651 in seinem epochalen „Leviathan“ beschrieben. Es ist eine Welt, in der der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Eine Welt, in der auch noch der grausamste absolutistische Herrscher besser ist als kein Herrscher, weil er die Menschen davon abhält, sich gegenseitig zu schaden.

Die Ökonomen haben Hobbes Idee weiterentwickelt. Sie wollen Egoismus, Konkurrenzdenken und Aggressivität nicht zurückdrängen, sondern sogar noch fördern, kanalisieren und nutzen. Das Instrument dafür ist der Markt. Weil er auf dem Prinzip des freiwilligen Tauschs basiert, so die Verheißung, wird damit Egoismus der Beteiligten auf ein positives Ziel hin gerichtet, etwas zu schaffen, was andere haben wollen, um etwas zu bekommen, was man selber gern haben will.

„Wir erwarten unser Essen nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers, sondern von deren Bestehen auf ihrem eigenen Interesse.“ So drückte der Urvater der heutigen Ökonomenlehre, Adam Smith das in seinem „Wohlstand der Nationen“ aus.

Und in der Tat. In vielen Marktwirtschaften haben die weitaus meisten Menschen ein Konsumniveau erreicht, von das sich die weitaus meisten Menschen zur Zeit Adam Smiths nicht einmal vorstellen konnten.

Nicht allen reicht das für eine Absolution. Papst Franziskus etwa ist gar nicht gut auf die Vorherrschaft der Märkte zu sprechen, auf das institutionalisierte Gegeneinander. Weil es eben immer auch Verlierer gibt, wo Konkurrenz herrscht. Ohne Verlierer kann in der Konkurrenz niemand obsiegen. Im Schreiben Evangelii Gaudium klagt er an:

Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung.“

So polterte Franziskus jüngst in seinem Schreiben Evangelii Gaudium. Franziskus sagt  Nein zu einer Wirtschaft die Menschen in dauernde Konkurrenz zueinander setzt und die Verlierer abschreibt. Er sagt nein zur Vergötzung des Geldes; „Diese Wirtschaft tötet“, lautet sein Verdikt. Der  Mensch wird darin vom Zweck zum Mittel degradiert, seine  Würde geht verloren.

Ist Franziskus naiv? Die meisten Ökonomen würden wohl sagen, ja. So etwa Gerhard Krichgässner, der dem Homo Oeconomicus ein Buch gewidmet hat. „Zur Analyse tatsächlichen Verhaltens dürfte es besser sein, ein realistisches Menschenbild zugrunde zu legen als ein optimistisches Wunschbild“, meint er darin. Und als Analyseinstrument habe sich der Homo Oeconomicus gut bewährt.

Sind die Ökonomen also nur die schuldlosen Überbringer der traurigen Botschaft? Der Botschaft, dass der Mensch – mehrheitlich und im Kern – eben so ist, wie er ist, und dass sich beim Besten Willen mit diesem Personal keine bessere, solidarischere, menschlichere Welt schaffen lässt, aber eben eine reichere.

Es wirkt ein wenig zirkulär das Argument. Weil der Mensch neben anderen Eigenschaften  zu Egoismus neigt,  müssen wir Märkte schaffen, die über die Konkurrenzidee diesen Egoismus fördern und positiv kanalisieren. Wenn wir dann diese Märkte analysieren, stellen wir fest, dass die meisten Menschen sich darin egoistisch verhalten, dass es also keine vernünftige Alternative gibt. „Die Alternative zur Marktwirtschaft ist die Planwirtschaft“, heißt es kurz und lapidar im Einführungslehrbuch von Nobelpreisträger Paul Krugman, ergänzt mit der Feststellung, dass diese mit dem real existierenden Sozialismus kläglich gescheitert ist. Je mehr Markt, desto besser, lautet also der Leitsatz der Ökonomen.

Der berühmte Ökonom Joseph Schumpeter hat einmal treffend gesagt, man müsse sich entscheiden, ob man einfache Antworten von Ökonomen haben wolle, oder nützliche. In diesem Sinne ist Krugmans Gegenüberstellung von Markt und Plan ebenso einfach wie nutzlos und falsch. Markt muss man nicht mit Konkurrenz gleichsetzen. Marktwirtschaft bedeutet nicht zwingend, alle wirtschaftlich relevanten Lebensbereiche nach dem Wettbewerbsprinzip zu organisieren. Denn aus dieser Sicht sind die Unternehmen, die uns reich gemacht haben, eine planwirtschaftliche Verirrung und es dürfte sie gar nicht geben. Unternehmen sind Planwirtschaften. Große multinationale Unternehmen sind riesige Planwirtschaften, zum Teil größer als manche Staaten, in denen sie operieren. Zwar halten auf Drängen und Rat der Ökonomen hin immer mehr wettbewerbliche Elemente Einzug in die interne Organisation des Produktions- und Managementprozesses. Aber das muss nicht so sein, wie man leicht erkennen kann, wenn man General Motors und Toyota vergleicht. Der Chef von Toyota bekommt etwa ein Zehntel des Gehalts seines Kollegen bei General Motors, und doch ist Toyota etwa zehn mal so erfolgreich wie General Motors. Bei General Motors, wie allgemein in US-Unternehmen,  ist man der Meinung, der Chef müsse über erfolgsabhängiges Gehalt dazu gebracht werden, die Interessen des Unternehmens, vor allem der Aktionäre, zu verfolgen. Bei Toyota, wie allgemein in Japan, ist man der Meinung, dass es eine Ehre für einen Manager ist, als Oberster von vielen, die für den Unternehmenserfolg wichtig sind, auserkoren zu werden. Alle streben danach, sich durch erfolgreiches Wirken für diese Ehre zu qualifizieren, auch wenn sie nicht das 300-fache des Gehalts eines einfachen Arbeiters bekommen, sondern vielleicht nur das 30-fache. Das erleichtert es den Arbeitern und mittleren Managern, sich mit den Zielen der Firma zu identifizieren, anstatt sich zu fragen, ob sie wirklich alle zehn Stunden Mehrarbeit leisten wollen, damit der Chef  seinen Bonus von 18,5 auf 18,6 Millionen Dollar steigern kann,.

In das Menschenbild der Ökonomielehrbücher passen solche Überlegungen jedoch schlecht. Denn der Homo Oeconomicus kann mit Kategorien wie Ehre, Pflichterfüllung und gemeinsamer Verantwortung nichts anfangen.

Doch Halt!

Es gibt ja ein boomendes Teilgebiet der Ökonomik, die Behavioral Economics oder Verhaltensökonomik, die sich genau das zum Thema gemacht hat. Ihre Vertreter fragen, wie ticken die Menschen wirklich? Sie tun das viel mit Laborexperimenten, bei denen sie Probanden in einem strukturierten Umfeld agieren lassen und testen, wie diese zum Beispiel monetäres Eigeninteresse gegen Aspekte wie eigenes Fairnessempfinden und den Wunsch nach Respekt abwägen. Oder sie analysieren, wie sich die Menschen in der Realität verhalten. Diese Forschungsrichtung ist in der Zunft etabliert, mit Nobelpreisen bedacht und in den guten Fachzeitschriften präsent. Die Ergebnisse sind überwältigend eindeutig. Das traditionelle Menschenbild der Ökonomen ist ein völlig unrealistisches Zerrbild des wahren Menschen.

Obwohl es kaum einen Ökonomen gibt, der an diesem Befund zweifeln würde, bevölkert der homo oeconomicus weiterhin die Lehrbücher und die Modelle der Ökonomen, aus denen diese ihre theoretischen Schlussfolgerungen und ihren praktischen wirtschaftspolitischen Rat ableiten. Die entsprechende Feststellung von Mankiw, oben ist nicht etwa aus der Zeit vor dem vermeintlichen Siegeszug der Verhaltensökonomik. Sie ist frisch.

Ist das negative Menschenbild der Ökonomen so tief in dieser Wissenschaft verwurzelt, dass besseres Wissen ihm nichts anhaben kann? Der in Wien arbeitende deutsche Ökonom Sebastian Thieme hat in einem 2013 erschienenen, sehr  lesenswerten Büchlein mit dem Titel: „Der Ökonom als Menschenfeind? einiges „über die misanthropischen Grundmuster der Ökonomik“ zusammengetragen, was diese These stützen könnte.  

Er erkennt ein misanthropisches Grundmuster auf drei Ebenen: Da ist zunächst das negative Menschenbild, „das augenscheinlichste und kontinuierlichste Grundmuster“. Es sei „praktsich über die gesamte ökonomische Ideengeschichte hinweg bis heute anzutreffen“. Dann ist da die fast verherrlichte Idee des Wettbewerbs, die Gleichsetzung von Marktwirtschaft und Konkurrenz. Hier argumentiert Thieme ähnlich wie der Papst. Der Markt als Wettbewerb setze Menschen in Konkurrenz und schaffe daher notwendig Ungleichheiten zwischen ihnen, Gewinner und Verlierer. Und schließlich ist da noch die oft extreme Abstraktheit der ökonomischen Argumentation, die Menschen verdinglicht, ihn in marktgängige Funktionen zerlegt und so instrumentalisiert.

Die biologistisch-darwinistische Analogie von Wettbewerb und natürlicher Auslese scheint seit der Etablierung der Ökonomik als einer Wissenschaft zur Zeit der Aufklärung in deren Weltverständnis eingewoben zu sein. Das fängt an mit der 1786 erschienenen Dissertation des Joseph Townsend über die Armengesetze, wo er in seiner berühmten  Ziegenparabel feststellt, dass nur die aktiven und starken überleben. Das münzt er gleich in eine moralische Abwertung der Armen um, indem er sie als faul und schwach bezeichnet. Er beklagt, dass staatliche Fürsorge die Entfaltung der Märkte behindert und dadurch  die Anzahl der „unprofitablen Bürger“ und die Armut erhöht, gegenüber der Situation, in der der Hunger seine angemessene Auslesefunktion erfüllen kann. Die Armen und Erfolglosen schmarotzten für Townsend auf kosten der Reichen. Auch Townsends Zeitgenosse Robert Malthus sah die Armut als im Wesentlichen selbstverschuldet an und beklagte, dass Almosen die Armen nur zum Kinderkriegen animieren würden.

Derartiges Gedankengut ist nicht etwa nur dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Man denke nur an die Ausführungen des Ökonomen Thilo Sarrazin über den fehlenden volkswirtschaftlichen Wert vieler ausländischer Mitbürger und deren Neigung, viele Kinder zu zeugen. Auch in respektableren Ökonomenkreisen ist ähnliches Gedankengut, meist weniger drastisch ausgedrückt als von Townsend und Sarrazin, weit verbreitet. Der Volkswirt Gunnar Heinsohn beklagte 2010 öffentlich, dass sich die „Hartz-Bevölkerung“ stärker vermehre als die „leistende Bevölkerung“, auch wegen des Sozialsystems. Harvard-Ökonom Mankiw stellte in seinem Lehrbuch fest, dass Sozialhilfe, die den Bedürftigen ermögliche, zu Hause zu bleiben, eine Kultur der Armut produziere. Das Bundeswirtschaftsministerium wiederum brachte 2005 eine Broschüre heraus, die Hilfsempfänger unter den Generalverdacht von Faulheit, Betrug und Schmarotzertum stellte. Sie trug den Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ und stellte nach einem einstimmenden Vorwort von Minister Wolfgang Clement – fest: „Biologen verwenden für „Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen leben, übereinstimmend die Bezeichnung „Parasiten“.  Ähnlich wie die klassischen misanthropen Ökonomen – der Moralphilosph Adam Smith gehörte nicht zu dieser Gruppe – die Armen und Arbeitslosen unterhalb der Wildtiere einordneten, weil sie nicht einmal imstande waren, sich selbst zu ernähren, setzten Clements Mitarbeiter noch einen drauf, indem sie feststellten, dass der Vergleich deshalb hinke, weil der tierische Parasit keinen freien Willen habe, während das Parasitentum eines Menschen noch viel verwerflicher sei.  Ähnlich wie Malthus, der nur Hilfen für akute, offenkundig unverschuldete Notlagen guthieß, wollte der damalige Wirtschaftsminister die aus seiner Sicht vielen selbstverschuldet Mittellosen und Betrüger von staatlichen Hilfen ausschließen.

Die meisten Ökonomen sind sympathische Leute, die sich bei Sprüchen wie diesen oder von Sarrazin leicht gruseln und das nie so sagen würden. Sie haben auch kein Problem damit zu akzeptieren, dass es eine Grundsicherung geben muss. Aber dann kommt praktisch immer die Feststellung, dass – aus ökonomischer Sicht –  diese Sicherung marktkonform ausgestaltet werden müsse. Und das bedeutet, dass sie  niedriger und restriktiver sein sollte als bisher. Das ist kein Zufall. Denn bei allen Beteuerungen des Gegenteils sind in einem Weltbild, das so etwas wie den Homo Oeconomicus annimmt und Marktwirtschaft mit umfassender Konkurrenz gleichsetzt, soziale Sicherung und Markt unauflösliche Gegensätze, denn sie setzten den Wettbewerbsdruck außer Kraft. Wem gemäß den Vorgaben des Grundgesetzes unabhängig vom eigenen Arbeitseinsatz ein menschenwürdiges Minimum an Einkünften garantiert ist, der muss seine Arbeitskraft nicht zu den vorherrschenden, vielleicht zum Überleben gar nicht ausreichenden Löhnen anbieten. Man kann soziale Sicherung und Wettbewerb gegeneinander austarieren, aber man kann die Sicherung nicht marktkonform im Sinne der Ökonomen ausgestalten. Das geht nur, wenn man, wie der Sachverständigenrat der „Fünf Weisen“ und viele andere Ökonomen bereit ist, über das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nonchalant hinwegzusehen und eine niedrigere Grundsicherung zu fordern, die nur bei demonstriertem Arbeitswillen aufgestockt wird, am besten proportional zu den erzielten Arbeitseinkünften. Faule Arbeitslose, „unprofitable Bürger“ im Sinne von Townsend, die auf Kosten der Reichen leben, haben nach dieser ökonomistisch-naturalistischen Vorstellung ihr Grundrecht auf menschenwürdiges Leben verwirkt.

Die Ökonomik muss nicht notwendigerweise ein solch negatives Menschenbild haben. Schon Adam Smith sah den Menschen als Moralphilosoph sehr viel differenzierter und betrachtete  in seinem großen Erstwerk über die „Theorie der ethischen Gefühle“ die Sympathie für die Mitmenschen nicht nur  als Grundlage der Moral, sondern auch als Triebfeder der menschlichen Arbeit. Smith glaubte auch nicht an den Unsinn, dass sich die Löhne auf freien, wettbewerblichen Märkten nach Angebot und Nachfrage bilden. Sie würden vielmehr gemäß der relativen Machtverhältnisse ausgehandelt. Und wenn die Arbeiter beinahe täglich unter existenziellen Druck stünden, ihre Arbeitskraft einzusetzen, sei klar, was dabei herauskomme. Doch diese Teile seiner Arbeit wird in der Zunft zugunsten der von ihm sehr viel weniger prominent herausgestellten „unsichtbaren Hand“ des Marktes völlig vernachlässigt.

Es gibt Teildisziplinen der Wirtschaftswissenschaften, wie Management, insbesondere Personalmanagement oder auch Marketing, die mit einem sehr viel realistischeren – und positiveren – Menschenbild arbeiten, schon weil niemand sie ernst nehmen würde, wenn sie das Menschenbild der Volkswirte zugrunde legen würden.

Grundsätzlich spricht also nichts gegen einen Wandel. Man darf sich aber auch nicht der Vorstellung hingeben, dass es mit einer Einstellungsänderung bei Ökonomen getan wäre. Denn die Ungleichwertigkeit von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Menschen ist inzwischen integraler Bestandteil des aufgebauten Theoriegebäudes der Ökonomen. Ob sie es nun persönlich gut finden oder nicht, müssen Ökonomen, die in ihrer Zunft Anerkennung finden wollen, in diesem Rahmen arbeiten. Der sieht vor, dass Geld und „Zahlungsbereitschaft“ das Maß aller Dinge sind. Nirgends wird das so deutlich wie in der Kosten-Nutzen-Analyse, aber die Reichweite geht weit über diese Teildisziplin hinaus. Wenn etwa der Ertrag einer Umgehungsstraße festzustellen ist und die theoretische oder tatsächliche Zahlungsbereitschaft der Begünstigten für die Lärmminderung aufsummiert wird, dann macht es einen großen Unterschied, ob die Begünstigten arm sind oder reich. Das geht so weit, dass der Wert der Lebensverlängerung, durch ein neues Medikament oder eine teure Operation, für die Ökonomen – und die US-Gesundheitsbehörde – davon abhängt, wie viel Geld die Begünstigten haben. Denn das bestimmt im Ökonomenjargon ihre Zahlungsbereitschaft, welche wiederum ihre Präferenzen wiedergibt. Der Harvard-Ökonom Joseph Aldi kommt in einem aktuellen Papier zur „Heterogenität des Wertes eines Lebens“ zu dem Ergebnis, dass die Zahlungsbereitschaft eines Weißen für eine Mortalitätsreduktion doppelt so hoch ist, wie die eines Schwarzen und die eines Mannes höher als die einer Frau.

Er denkt sich auch gar nichts dabei, dass dies nach eigener Feststellung ganz überwiegend auf Einkommensunterschiede zurückgeht  Das es sich  deshalb im Verständnis eines normalen Menschen nicht um eine Zahlungsbereitschaft handelt, sondern um Zahlungsfähigkeit, hat in diesem Theoriegebäude keinen Platz. Denn es verträgt sich nicht mit der Ökonomeninterpretation, dass es sich dabei um „offengelegte Präferenzen“ handelt. Eine Ökonomik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, würde gar nicht auf die Idee kommen, zu argumentieren, dass einem Armen die Erhaltung seines Lebens offenkundig weniger wert ist, als einem Reichen. Wenn die Ökonomik menschlicher werden will, muss sie also einige, durchaus grundlegende Änderungen im Theoriegerüst vornehmen.

Der Aufwand könnte sich lohnen. John Komlos, emeritierter Wirtschaftsprofessor der Universität München, hat in einem alternativen Lehrbuch aus humanistischer Perspektive zumindest angedeutet, was das bringen könnte. In „What every Economics Student needs to know …“ fragt er, ob es nicht möglich wäre, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, anstatt seine Energie darauf zu verwenden, darüber zu streiten, ob die Nicht-die-Inflation-beschleunigende-Arbeitslosenquote (Nairu) bei sechs, sieben oder acht Prozent liegt. Mit anderen Worten. Er bezweifelt, dass man wirklich die industrielle Reservearmee braucht, wenn die Entscheidungsträger kooperieren und auf einen fairen Interessenausgleich bedacht sind. Dazu müssten die Ökonomen ihren „methodologischen Individualismus“ einhegen, um neben den Gefahren auch viel stärker den Chancen von kollektivem Handeln zu sehen und zu ergreifen.

Eine humanere Ökonomik würde mehr auf Toyota schauen und weniger auf General Motors. Sie würde die Verheißung des Erfolgs von Toyota ernst nehmen, dass man erfolgreich wirtschaften und gleichzeitig die Früchte des gleichmäßiger verteilen kann, dass die immer extremer werdenden Diskrepanzen bei Einkommen und Vermögen keine zwangsläufigen Ergebnisse eines gottgleichen Marktes sind.

Wenn sie aufhörten, Fortschritt nur in Geldeinheiten zu messen, sondern in dem worauf es für die Menschen und für die Menschheit ankommt, könnten die Ökonomen auch der Politik sinnvolle Ratschläge geben. Solche, die sie auch umsetzen kann, ohne abgewählt zu werden. Denn an der Wahlurne stimmen die Bürger nicht über das Bruttoinlandsprodukt ab, sondern darüber, wie die Regierung ihre tatsächlichen Lebensbedingungen verbessert oder verschlechtert. Anders als in den bisherigen Modellen der Ökonomen hat dabei jeder, unabhängig von seiner Zahlungsfähigkeit das gleiche Gewicht. In einer menschlichen Ökonomik sollte auch jeder Mensch gleich wertvoll sein, und die Ziele jedes Menschen gleich wichtig.

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