Der kalte Krieg um Eurasien – von Moskau aus betrachtet

4. 10. 2018 | Knapp vier Jahre später ist die Rezension eines Gastautors von Glenn Diesens Buch „Russia’s Geoeconomic Strategy for a Greater Eurasia“ aus dem Jahr 2018 immer noch – oder besser: wieder – besonders interessant. Daher ziehe ich sie noch einmal nach oben.

Von Gastautor. In der gebundenen Variante ist das Buch mit knapp 130 Euro leider sehr teuer – Qualität hat offensichtlich ihren Preis. Es gibt eine eBook-Version für 31 Euro, aber nur beim amerikanischen Fast-Monopolisten Amazon.

Autor Glenn Diesen stammt aus Norwegen. Er hat in Australien und in St. Petersburg studiert, in Australien in Philosophie und in den Niederlanden in Sozialwissenschaften promoviert. Er lehrte zunächst in Universitäten in Australien und ist derzeit Professor an der NRU Higher School of Economics in Moskau, die als eine der drei führenden Universitäten Russlands gilt.

Ökonomische Machtpolitik

Der für das Buch zentrale Begriff „Geoeconomics“ lässt sich definieren als „Machtpolitik unter Einsatz ökonomischer Mittel unter besonderer Berücksichtigung geographischer Realitäten“. Geoökonomische Politik will ein Netz von multipolaren ökonomischen Beziehungen schaffen, von denen das eigene Land natürlich in besonderem Maße profitieren sollte, die aber dennoch Vorteile für alle Parteien bieten müssen, damit sie nachhaltig sind. Davon abzugrenzen ist die Geopolitik, die auf politische und in der Folge dann auch oft militärische Machtmittel setzt.

Diesens Analyse nimmt ihren Ausgangspunkt in der einflussreichen Heartland-Theorie, die der britische Geograph Halford John Mackinder entwickelte und 1904 vorstellte. Sie wurde dann von dem einflussreichen amerikanischen Politikwissenschaftler Nicolas John Spykman weiter entwickelt. Die Heartland-Theorie hat illustre US-Außenpolitiker wie die US-Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger ebenso maßgeblich beeinflusst wie manche Präsidenten, darunter Ronald Reagan. Gemäß dieser Theorie ist Eurasien wegen seiner enormen Ressourcen an Bevölkerung, Energie und Rohstoffen das eigentliche Machtzentrum der Welt („Heartland“). Maritime Großmächte außerhalb Eurasiens wie Großbritannien und später die USA („Rimland“) müssten sich daher zur Aufrechterhaltung ihrer geostrategischen Vormachtstellung stets darum bemühen, im Rahmen eines „Teile-und-herrsche“-Ansatzes eine geoökonomische Integration Eurasiens zu verhindern. Der gegen 1500 abgeschlossene Niedergang der Seidenstraße als ökonomisches Netzwerk Eurasiens erst habe den Aufstieg des Westens in Gestalt des britischen Empires und später der USA möglich gemacht. Die westlichen Großmächte hätten seither versucht, jeden Ansatz geoökonomischer Integration Eurasiens im Keim zu ersticken und den Kontinent vom Rand her zu beherrschen. Mit dem Wiederaufstieg Chinas als ökonomischem Powerhouse Asiens und der Annäherung Chinas und Russlands kommt es nun zu der von der US-Regierung so gefürchteten geoökonomischen Integration das Großkontinents und damit zu einem sich beschleunigenden Machtverlust der USA, den diese verzweifelt und mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Die USA, so Diesen, „haben strategische Interessen, die ökonomischen Bindungen zwischen bedeutenden eurasischen Landmächten wie Russland, China, Deutschland und dem Iran diametral entgegenstehen“.

Ronald Reagan sagte im Jahr 1988: „Die grundlegenden nationale Sicherheitsinteressen der USA wären gefährdet, wenn ein feindlicher Staat oder eine Gruppe von Staaten die eurasische Landmasse dominieren – den Bereich auf dem Globus, der oft als das Heartland der Welt bezeichnet wird.“ Und erst kürzlich betonte der aktuell für Europa und Eurasien zuständige Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium Wess Mitchell:

„Es gehört weiterhin zu den wichtigsten nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten, zu verhindern, dass feindliche Mächte die eurasische Landmasse dominieren.“

Am klarsten hat Brzezinski in seinem Buch „The Great Chessboard“ das Verhältnis der USA zu anderen Nationen definiert. Die drei Hauptziele der hegemonialen geopolitischen Strategie seien es, „Bündnisabsprachen zwischen Vasallen zu verhindern und deren Abhängigkeit in Sicherheitsfragen zu erhalten, die Zahlungsbereitschaft Tributpflichtiger sicherzustellen und zu verhindern, dass sich die Barbaren zusammenschließen“. Und Paul Wolfowitz, stellvertretender US-Verteidigungsminister unter Präsident George W. Bush, definierte die Regionen, um die es dabei geht, als „Westeuropa, Ostasien, das Territorium der früheren Sowjetunion und Südwestasien“.

In der Zeit des ersten Kalten Krieges stand die Eindämmung der Sowjetunion im Mittelpunkt. Die Sowjetunion als kommunistisches Land in einem kapitalistischen Umfeld habe dabei den Fehler gemacht, die geoökonomischen Bindungen an die Nachbarn zu vernachlässigen. Ihre starke geopolitische, aber nicht geoökonomische Ausrichtung als größte Militärmacht Eurasiens habe die USA gezwungen, neben ihrer zur Erringung und Erhaltung der Position als Weltmacht notwendigen Flotte auch noch eine enorme und kostspielige Landarmee aufzubauen. Die Russische Förderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion sei von der geopolitischen auf die wesentlich effektivere geoökonomische Strategie umgestiegen. Dagegen seien die USA bei ihrem Ansatz militärischer Machtentfaltung geblieben, hätten jedoch ihre Vorgehensweise geändert: Statt die Machtverhältnisse auf dem eurasischen Kontinent von außen auszubalancieren, sähen sie Eurasien nun, als „großes Schachbrett“, auf dem sie sich direkt militärisch engagieren.

USA droht finanzielle Überforderung

Die enormen Kosten des Militärapparats mit seinen weltweit rund 1000 Stützpunkten drohen die USA ökonomisch zu überfordern. Die Erhaltung der „globalen Hegemonie ist zu einem finanziell nicht durchzuhaltenden Unterfangen geworden mit Blick auf die steigende Verschuldung und die soziale Ungleichheit“ in den USA, schreibt Diesen. Es sei inzwischen zu der neuen Situation gekommen, dass die USA, aber auch die EU und Japan Schulden in einem nicht mehr nachhaltigen Ausmaß angehäuft hätten, während China, Russland und andere Schwellenländer die wichtigsten Kreditgeber seien. Die USA hätten sich auf den Weg hin zum Bankrott begeben.

Washington widersetze sich gleichwohl jeglicher Reform seiner Außenpolitik hin zu geoökonomischen Strategien und sehe Militärmacht weiterhin als das zentrale Instrument zur Erhaltung des „unipolaren Moments“ der Weltgeschichte, der mit dem Untergang der Sowjetunion als zweite Supermacht begann. Die Konzentration auf militärische Macht unter Vernachlässigung der Bewahrung des eigenen Wohlstands habe sich nach dem Ende des Kalten Kriegs sogar noch verfestigt. So sei der zwischenzeitliche Ansatz, mittels Freihandelsabkommen wie TTIP und TPP Russland und China ökonomisch zu marginalisieren, wieder aufgegeben worden.

Die Vereinigten Staaten versuchten, den Aufstieg konkurrierender Machtzentren zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen – mit der Folge, dass ihnen die Kontrolle über die entstehende internationale Infrastruktur entgleitet, die nun ohne oder gegen den Westen entwickelt werde. Ihre aggressive Politik habe das Zusammenrücken ihrer wichtigsten Rivalen in Asien ausgelöst. Mit dem ökonomischen Niedergang durch die Überbetonung des Militärischen gehe den USA zudem die Option verloren, ihren Verbündeten wirtschaftliche Vorteile zu bieten.

Russland gibt Ziel der Westintegration auf

Russland wiederum habe spätestens seit dem amerikanisch-europäisch initierten Putsch in der Ukraine im Jahr 2014 seine fast 200-jährigen Politik der Bemühungen um Integration in Europa bzw „den Westen“ aufgegeben. Man habe erkannt, dass man sich damit in zu große Abhängigkeiten begeben habe, die vom Westen unter anderem in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter dem ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin gnadenlos ausgenutzt worden seien. Die russische Elite habe realisiert, dass sich aus einer Bittstellerposition heraus keine politischen und ökonomischen Vorteile erzielen lassen. Russland wolle sich als eine Schlüsselmacht Eurasiens etablieren und setzt darauf, dass es aufgrund seiner Landmasse die Transportkorridore kontrolliert und der mit Abstand wichtigste Energielieferant des Großkontinents ist.

Russland sieht sich dabei typischen geoökonomischen Problem gegenüber – etwa, dass das Land den kleineren Partnern in Asien trotz der gegebenen Asymmetrie genügend Vorteile bieten muss, dass für diese die Integration attraktiv bleibt. Russland versucht zudem der Falle zu entkommen, in der sich viele rohstoffexportierende Länder befinden: Man exportiert Erdöl und Erdgas und muss sämtliche höherwertigen und komplexeren Güter importieren. Dem steuert Moskau mit einem ehrgeizigen Plan der Revitalisierung der eigenen Industrie entgegen. Die USA und Europa versuchten dies mit den Sanktionen nach Kräften zu sabotieren. Dennoch sei zu erwarten, dass Russland von der eurasischen Integration stark profitieren und sich in Zukunft positiv entwickeln werde. Russland müsse allerdings bestrebt sein, im Verhältnis mit seinem extrem wichtigen, aber wirtschaftlich wesentlich stärkerem Partner China, nicht den Kürzeren zu ziehen.

China wiederum hat seine Politik der vergangenen Jahrzehnte aufgegeben, sich im Inneren ökonomisch zu modernisieren und sich nach außen unauffällig zu verhalten, um diese Modernisierung nicht zu gefährden. Das Land setze nun seine industriellen Überkapazitäten und enormen Währungsreserven in einer neomerkantilistischen Politik ein. Unter dem Stichwort der Neuen Seidenstraße oder „One Belt, One Road“ sollen die Rohstoffquellen und Absatzmärkte Chinas diversifiziert werden. Chinas Führung fühlt sich zunehmend unwohl in der Beziehung mit den USA und ist sich im Klaren darüber, dass es derzeit noch bilateral den Kürzeren zieht. Sowohl der gewaltige Leistungsbilanzüberschuss als auch die hohen Schulden, die die USA in China haben, machten das Reich der Mitte anfällig. Das zeige sich bereits im aktuellen amerikanisch-chinesischen Handelskrieg, könnte sich aber laut Diesen noch wesentlich zuspitzen, sofern die USA ihre Auslandsschulden nicht zahlen oder durch Inflationierung entwerten. Peking sei zunehmend daran interessiert, sich aus der ungünstigen Abhängigkeit von seinem Hauptschuldner zu lösen.

Unilateralismus der EU

Für deutsche Leser sind Diesens Hinweise zur Position Europas besonders relevant und interessant. Die EU sei eine „bürokratische und regulatorische Supermacht“, die Zugang zu ihrem enormen Markt nur unter Akzeptanz diskriminierender Bedingungen erlaubt und sich so ein Netz asymmetrischer Machtbeziehungen geschaffen habe, von dem ihre Mitgliedsländer und Großkonzerne in besonderem Maß profitieren. Asymmetrische Machtbeziehungen gebe es auch im Inneren der EU, wo die großen und wirtschaftlich starken Mitgliedsländer – vor allem Deutschland mit einer neomerkantilistischen Wirtschaftspolitik deutlich überproportional profitieren.

Die EU ist laut Diesen einem europäischem Unilateralismus verbunden, so wie es die USA auf globaler Ebene handhaben. Die EU betrachte sich als das einzige Gravitätszentrum Europas und strebe stark asymmetrische Abhängigkeitsbeziehungen in Form konzentrischer Ringe von Staaten mit unterschiedlichem Grad der Integration in die EU an. Russland hingegen als ein weiteres Machtzentrum mit 180 Millionen Einwohnern, enormen Energievorräten, umfangreichen Rohstoffvorkommen und seiner fast endlosen Landmasse lasse sich nicht in dieses System konzentrische Kreise integrieren. Versuche in den 1990er und 2000er Jahren, Russland eine Agenda zu diktieren, die in den bilateralen Beziehungen die EU begünstigen und Russland benachteiligen sollte, seien gescheitert. Diesen kritisiert, dass sich die EU als unfähig erwiesen habe, Russland ausreichende Vorteile zuzugestehen, die dem europäisch-russischen Verhältnis Stabilität gegeben hätten. „Die EU hat damit nicht erkannt, dass es in der Ära der Geoökonomik eine vollkommen neue Dynamik der Außenbeziehungen geben muss“, so Diesen. Die EU sei – wie die USA – noch der Epoche der Geopolitik verhaftet, die nicht selten mit militärischen Mitteln umgesetzt werde. Die EU sei dadurch eine Quelle der Instabilität geworden, indem sie beispielsweise extreme antirussische Gruppierungen in den baltischen Staaten, Georgien und der Ukraine fördere. Dieser Ansatz sei auch für die EU selbst gefährlich, da externe Akteure wie Russland dazu gedrängt würden, zur Schadensbegrenzung Spaltungen und Divergenzen innerhalb der EU auszunutzen und zu vertiefen. Die Verhandlungsmacht der EU nehme dabei aber stetig ab, da Westeuropa als Wirtschaftspartner längst nicht mehr die einzige Option für das inzwischen auf Asien ausgerichtete Russland sei.

Dem neuen Kalten Krieg liegt, wie Diesen überzeugend ausführt, mit dem Aufstieg von Asien und insbesondere China die größte Umverteilung von geoökonomischer Macht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zugrunde. Auf der Gewinnerseite befinden sich die eurasischen Landmächte China und Russland, auf der Verliererseite die USA als wichtigste maritime Macht, die versucht, sich ihrem Niedergang entgegenzustellen. Auch Europa werde marginalisiert: Der Aufstieg von China und Russland führt laut Diesen dazu, dass sich die EU ökonomisch gesehen nicht mehr wie gegenwärtig in der Mitte des europäischen Kontinents befindet, sondern an der Peripherie des eurasischen Großkontinents.

Der Autor rät den USA, ihre dominante Position dazu zu nutzen, ein für sie vorteilhaftes Format einer multipolaren Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur mitzugestalten, statt auf die unweigerlich verloren gehende Unipolarität zu setzen. Sie sollten auch wieder verstärkt auf Zuckerbrot und weniger auf Peitsche setzen, was erfolgversprechender sei. Der EU empfiehlt er mehr Rationalität, was ihren schwindenden Zusammenhalt und ihre Verhandlungsmacht mit externen Akteuren wie Russland betrifft. Diesen räumt jedoch ein, dass von derartigen Veränderungen bislang wenig zu erkennen ist. Somit dürfte der neue Kalte Krieg weitergehen – bis der Westen irgendwann Vernunft annimmt.

Englische Version

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