Auf der Website der Publikumskonferenz kann man den Buchtext auch kostenlos lesen. Der Name des Autors, Otto Stern, ist ein Pseudonym.
Der Untertitel des Buches heißt „Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015“. Storytelling, zu Deutsch: Geschichtenerzählen, ist das Verpacken von Information in eine Geschichte, die Gefühle aktiviert, um wirkungsvolle Botschaften direkt ans Unterbewusste des Publikums zu senden. Es ist ein Gegenkonzept zum klassischen Informationsjournalismus.
Die Methode ist nicht nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk inzwischen die Norm, sondern auch für Nachrichtenformate. Das Besondere am ö.-r. Rundfunk ist allerdings, dass im Rundfunkstaatsvertrag eine Trennung von Information und Meinung gefordert wird, die durch das Storytelling aufgehoben wird.
Beim Storytelling gibt es implizit einen Erzähler mit einer Erzählperspektive, die positiv, neutral oder negativ dem Handelnden gegenüber ist. Es gibt eine Dramaturgie. Unbewusst heraufbeschworen werden Metaphern aus der Mythologie oder solche aus dem (kindlichen) Familienleben, wie der gestrenge Vater (Schäuble), die gute Mutter (Merkel) oder der aufsässige, unzuverlässige Teenager (Varoufakis), den Vater und Mutter mit sanftem (notfalls auch nicht so sanftem) Zwang zu seinem eigenen Wohl anleiten müssen.
Ich hatte seinerzeit selbst ziemlich viel über die manipulative Berichterstattung über die Bankenrettung alias Griechenlandrettung berichtet und auch Programmbeschwerden gegen die Tagesschau und den Bericht aus Berlin eingereicht. Beschwerdegrund war jeweils, dass sie es entgegen den Vorgaben von §10 des Rundfunkstaatsvertrags in einer Reihe von Aussagen an Faktentreue und Neutralität, sowie an der Trennung von Nachricht und (abwertendem) Kommentar hatten fehlen lassen.
Die Programmbeschwerden wurden wie üblich mit windigen Ausflüchten und minimaler Befassung durch den Rundfunkrat abgebügelt. Eine der Rechtfertigungen war der Verweis auf eine andere ARD-Sendung, wo auch einmal aus griechenlandfreundlicherem Blickwinkel berichtet worden war, nach dem Motto: „Das gleicht sich aus“. Oder, dass eine Agentur genauso (falsch) berichtet habe, und dann dürfe man als Tagesschau das auch.
Die monierten Berichte spielen in mehreren der 20 Episoden eine Rolle, die in diesem Buch analysiert werden. Ich kann neidlos anerkennen, dass die Analyse dieser Episoden durch den Blickwinkel des Storytelling tiefer und erhellender ist, als das, was ich damals zustande brachte.
Als Leseproben folgen (jeweils gekürzt) das sehr informative Vorwort, ein Abschnitt des nicht sehr langen, dafür sehr erhellenden theoretischen Teils und eine der 20 untersuchten Berichterstattungsepisoden. Aus Platzgründen habe ich eine einfach strukturierte Episode gewählt. Andere enthalten mehr Elemente des Storytelling, die im theoretischen Teil beschrieben werden, und die man dort mit Unterstützung des Autors in der Episode gut wiedererkennt. Die Quellenangaben habe ich nicht mit übernommen.
Vorwort
„Das Lügenfernsehen. So manche scheinbar wahre Fernseh-Geschichte ist in Wirklichkeit frei erfunden, wie zahlreiche Beispiele zeigen.“
Wer sagt das?
Anja Reschke, Leiterin der Abteilung Innenpolitik des NDR. Sie und ihr Team zeigen in dem Beitrag „Lügenfernsehen“, „wie Zuschauer in die Irre geführt werden.“ Das war am 7. Juli 2011. Und der Vorwurf des „Lügenfernsehens“ richtete sich gegen das Privatfernsehen.
Der Begriff der Lüge war niemals ein Unwort, solange er nur Teil der Kritik war an den privaten Medien. Der Vorwurf der Manipulation war niemals eine Verschwörungstheorie, solange er nur den privaten Medien galt. Zum Sakrileg wurde der Vorwurf der Manipulation erst in jenem Moment, als der von der ARD erhobene Vorwurf des „Lügenfernsehens“ gegen die bislang sakrosankten öffentlich-rechtlichen Sender selbst erhoben wurde. Seitdem ist die Enttäuschung groß:
„Leider [sic] haben die Leute das gemerkt, dass auch unsere Berichte geprägt sind“, bedauert die Leiterin der Abteilung Innenpolitik des NDR Anja Reschke in ihrer viel zu wenig beachteten Dankesrede anlässlich ihrer Auszeichnung zur Journalistin des Jahres 2015.
Seit der öffentlich-rechtliche Rundfunk selbst in den Fokus der Medienkritik geraten ist, wird das aufmüpfige Publikum regelmäßig daran erinnert, dass, wer Medien Manipulation und Lügen vorwirft, eine Gemeinsamkeit teilt mit dem grausamsten Massenmörder aller Zeiten: Adolf Hitler.
Der Zweck dieser geschichtspädagogischen Erinnerung (…) liegt auf der Hand: schnöde Einschüchterung. Die Meinung, dass öffentlich-rechtliche Berichterstattung zu bestimmten Themen manipulativ ist, soll aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden. Wer sie äußert, läuft Gefahr, öffentlich in einen Topf mit Adolf Hitler geworfen zu werden (Guilt by association). (…)
„Ich meine klar, ’ne Demokratie muss auch irgendwie das Volk mitnehmen.“
Dieses eigenwillige Demokratieverständnis offenbarte kürzlich die Leiterin der Abteilung Innenpolitik des NDR in ihrem Plädoyer gegen Volksentscheide. Das Prinzip der Volkssouveränität – ersetzt durch das bloße Recht des Volkes, irgendwie noch mitgenommen zu werden. Das ist das beredte Selbstzeugnis eines öffentlich-rechtlichen Journalismus, der sich längst selbst als Teil jener Elite begreift, die er eigentlich kontrollieren soll.
In der Konsequenz wird die ursprünglich emanzipatorisch gegenüber staatlichen Beeinflussungsversuchen gedachte Presse- und Rundfunkfreiheit umgedeutet als Recht auf einseitig-regierungsnahen Verlautbarungsjournalismus. Die derart umgedeutete Pressefreiheit braucht logischerweise auch nicht mehr Einflussversuche „von oben“ abzuwehren, sondern muss „nach unten“ hin verteidigt werden, und zwar gegen jene, die eine politisch motivierte Indienstnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kritisieren.
Unter Verletzung seines gesellschaftlichen Auftrags ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk dabei auch daran beteiligt, mitunter in manipulativer Weise Ressentiments zu schüren und Feindbilder zu schaffen, die nach außen das Friedensprojekt Europa gefährden und nach innen im eigenen Land eine gesellschaftliche Spaltung forcieren.
Einseitig? Regierungsnah? Manipulativ? Feindbilder?
Kann man das auch nachweisen? Sachlich belegen? Oder ist das nur dumpfes Geschrei von Wutbürgern, Lügenpresse-Rufern und sonstigem Mob?
Wir werden am Beispiel der ARD-Griechenland-Berichterstattung 2015 anhand einer Vielzahl von Belegen sachlich präzise den Vorwurf einer erstens einseitigen, zweitens regierungsnahen, drittens manipulativen und viertens Feindbild konstruierenden Berichterstattung innerhalb der Hauptnachrichtenformate der ARD nachweisen.
Damit begegnen wir der wiederholt an uns gerichteten Kritik, bei den von uns in der Vergangenheit monierten Verstößen gegen den Rundfunkstaatsvertrag handele es sich angeblich nur um bedauerliche Einzelfälle, die der menschlichen Fehlbarkeit geschuldet seien. Gleichzeitig tragen wir mit dieser Arbeit aber auch einer bedenkenswerten Kritik Rechnung, die Wolfgang Michal in seinem Blogartikel „Wozu überhaupt noch Medienkritik?“ anschaulich formuliert:
„Kaum ein Medienkritiker setzt eigene Themen – vielmehr hecheln sie den Themen nach, die von den Medien gesetzt werden. Das führt zu der absurden Situation, dass in dem Augenblick, in dem Medienkritiker mit ihren tiefergehenden Analysen beginnen, das Thema meist schon wieder durch ein neues abgelöst ist. Ist ein Thema aber erst einmal „durch“ (NSA, Griechenland, Landesverrat, Flüchtlinge, Köln), hören auch die Kritiker auf zu kritisieren. So geht es im Schweinsgalopp von Katastrophe zu Skandal, von Enthüllung zu Unglück, von Terroranschlag zu Minister-Fehlverhalten. […] Damit folgt die Medienkritik – wie hypnotisiert – jenen an- und abschwellenden Empörungszyklen, die sie eigentlich kritisieren müsste.“
Diesem „Wettlauf zwischen Hase und Igel“ (Wolfgang Michal) entziehen wir uns mit der vorliegenden Analyse der ARD-Griechenlandberichterstattung des vergangenen Jahres.
Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Einen allgemeinen Teil mit theoretischen Grundlagen und einen analytischen Teil, bestehend aus der Untersuchung von mehr als 20 bedauerlichen Einzelfällen lediglich aus den ersten 4 Wochen der ARD-Berichterstattung über die Syriza-Regierung 2015. In einem Schlusskapitel werden die Ergebnisse ausgewertet. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Eine lückenlose Erfassung der hohen Anzahl an Falschdarstellungen hätte den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschritten.(…)
Unsere Analysen werden zeigen, dass sämtliche Falschdarstellungen der ARD allein durch die Befolgung professioneller Berufsnormen vermeidbar gewesen wären (=Verstoß gegen die Wahrheits- und Sorgfaltspflicht, § 10 RStV). Des Weiteren werden wir nachweisen, dass sämtliche Falschdarstellungen einem interessengeleiteten Narrativ entsprechen, welches sich wie ein roter Faden durch die Berichterstattung zieht (=Verstoß gegen das Gebot der Unparteilichkeit, § 11 RStV).
Diese medialen „Narrative“ sind der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Vertrauenskrise in den Medien. Es geht um den modernen Trend im Journalismus, dessen Vorreiter vor allem der öffentlich-rechtliche Fernsehjournalismus ist und der mit einer zunehmenden Subjektivierung von Berichterstattung einhergeht:
Storytelling- die Kunst, Geschichten zu erzählen.
(…)
Maren Müller, Vorsitzende Publikumskonferenz
Otto Stern, Autor/Redaktion
Allgemeiner Teil: Die Kunst, Geschichten zu erzählen
„Parajournalismus sieht aus wie Journalismus, aber der Schein trügt: Er ist eine Mischung, die auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt: Die sachliche Autorität von Journalismus ausnutzend sowie den stimmungsvollen Freibrief von Fiktion.“
Dwight Macdonald, 1965
1 Das Trojanische Pferd
„Wir müssen uns den Leser als Hund vorstellen. Ein Hund, der eigentlich spielen möchte, dem ich aber jetzt mit etwas Ernsthaftem komme.“
Diese Allegorie zitieren die Journalisten Danilo Rößger und Rike Uhlenkamp in ihrem Artikel „Die dramaturgische Trickkiste“. Das Zitat stammt aus dem Netzwerk-Recherche-Workshop „Dramaturgie 2.0“ von 2014. Es bringt ein zentrales Anliegen des modernen Erzähljournalismus zum Ausdruck: angesichts sinkender Auflagenzahlen, Zeitungssterben, aber auch Quotendruck im Fernsehen die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erregen und zu behalten:
„Wie lenken Sie die Aufmerksamkeit des Publikums dauerhaft auf Ihre Botschaft?“, fragt Marie Lampert den Leser ihres Bestsellers, „Storytelling für Journalisten“. (…)
Die Psychologin weiß:
„Es geht um die Kunst des Verführens. Mit einem Mittel, das seit jeher verfängt. Es heißt ganz schlicht: Ich erzähl dir eine Geschichte. Die meisten Menschen mögen Geschichten. Sie verbinden damit gute Erinnerungen. Mit dem Gestus des Geschichtenerzählers fängt man sie ein.“
Als Gegenkonzept zum klassischen Informationsjournalismus, der in Deutschland auch angesichts der historischen Lehren über die emotionale Verführbarkeit des Menschen auf rational-nüchterne Informationsverarbeitung zielt, setzt der moderne Erzähljournalismus (narrativer Journalismus) auf Emotionalisierung und Unterhaltung durch eine spannende Dramaturgie: Aus der Perspektive einer Erzählerfigur wird das Nachrichten-Ereignis als dramaturgisch gestaltete Handlung erzählt, sei es linear-chronologisch oder in Form der Rückblende, Gondelbahnstruktur oder auch des Oxymoron-Plots. Diese und andere narrative Techniken sind dabei laut Lampert „das Trojanische Pferd“ [4], durch das die Kernaussage im Innern eingeschleust wird.
Den grundsätzlichen Unterschied zwischen Dramaturgie und Information erklärt der Kommunikationstrainer René Borbonus folgendermaßen:
„Eine journalistische Nachricht ist nach einer umgekehrten Pyramide aufgebaut: Das Wichtigste kommt zuerst, und so viel davon wie möglich steht im ersten Satz. Nach hinten wird die Nachricht immer dünner, die Informationen immer unwichtiger. Die Dramaturgie einer Geschichte funktioniert ganz anders. Sie arbeitet vom ersten bis zum letzten Satz auf ihre Quintessenz hin: die Pointe, die Auflösung – die Botschaft. Nichts auf dem Weg ist unwichtig, alle Details greifen ineinander. Das Ziel der Dramaturgie einer Geschichte ist das Gegenteil von Information: Sie erzeugt ein Vakuum, das wir Spannung nennen.“
(…) Die Konstruktion einer fiktiven Textperson, die gleich einem literarischen Erzähler dem Rezipienten das Geschehen als Narration vermittelt, wird als „Filmtext-Werkzeug“ zusammen mit der Erzählsatz-Methode Gregor Heussens auch an der ARD.ZDF Medienakademie gelehrt:
Ein und dasselbe Geschehen kann aus der Sichtweise verschiedener Textpersonen (z.B. „Der Spötter“, „der Freund“, „der plädierende Strafverteidiger“, der „Staatsanwalt“, „der neutrale Beobachter“) erzählt werden, wobei die neutrale Perspektive nur eine unter vielen ist. Je nach Erzählertyp ergeben sich daraus unterschiedliche dramaturgische Entscheidungen hinsichtlich Auswahl und Anordnung von Fakten, der Wortwahl, der Stimme usw. (…)
In der Literaturwissenschaft wird die Einstellung des Erzählers zu den Figuren und der Handlung auch als Erzählhaltung bezeichnet. Die folgenden Beispiele zeigen verschiedene Erzählhaltungen, wie sie auch in der Literatur vorkommen. Grob lassen sich 3 Unterscheidungen treffen: Der Erzähler steht der Figur/Handlung affirmativ, neutral oder kritisch gegenüber.
Ein Beispiel für eine affirmative Position in Form einer empathisch-nahen, identifikatorischen Erzählhaltung:
„Es ist eine Rede, die ihm wahnsinnig schwerfällt, sagt Wolfgang Schäuble, der doch selten um ein Wort verlegen ist, sei es mahnend, werbend oder tosend. Heute muss er von allem etwas liefern. Athen habe viel Vertrauen zerstört, so der Bundesfinanzminister, dennoch bittet er die Abgeordneten um eine Verlängerung der Griechenland-Hilfen. Keine neuen Milliarden, nur mehr Zeit: 4 Monate, um Reformen umzusetzen.“
Korrespondentin Julia Krittian zur Bundestagsentscheidung über die Verlängerung der Kreditvereinbarung mit Griechenland, Tagesthemen vom 27.02.2015
Hier ein Beispiel für eine kritische Position in Form einer ironisch-spöttischen Erzählhaltung:
„Bühne frei für Yanis Varoufakis. Er ist zurück. Gewohnt galant flötet er in Kameras und Mikrofone, dass es eine „Ehre“ und ein „großes Privileg“ sei, an diesem Tag im Herzen von Europa zu sein – in Berlin. „Griechenlands linker Ex-Finanzminister als Leitwolf einer neuen paneuropäischen Bewegung, abgekürzt DiEM25. Soll heißen „Demokratie in Europa, Bewegung 2025“. Geburtsort: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, in direkter Nachbarschaft zum Karl-Liebknecht-Haus. Dort ist die Zentrale der Partei DIE LINKE. Hausherrin Katja Kipping macht auch mit, und sie weiß, „dass viele in der Linken das mit großem Interesse verfolgen“. […]. Das Programm liest sich wie ein Waschzettel für Allgemeines, gegen alles Etablierte in Europa, und Katja Kipping hat einen Anknüpfungspunkt gefunden: Die Linke teile „auf jeden Fall“ das Ziel einer Demokratisierung Europas. [..]“
Korrespondentin Marita Knipper auf tagesschau.de, 09.02.2016
Der moderne Erzähljournalismus hat Schnittmengen mit dem umstrittenen New Journalism in den USA der 60er/70er Jahre, der sich literarischer Techniken (Metaphern, Symbolhaftigkeit, Ironie, Stimmung und Atmosphäre usw.) bediente. Den Normen des objective reporting setzte der New Journalism die Radikalität der subjektiven Perspektive entgegen. Kritiker bezeichneten diese journalistische Strömung als „Parajournalismus“ (Dwight Macdonald). Aufgrund ihres sozialpolitischen Engagements wurden die Vertreter des New Journalism auch als Aktivisten oder „Journalisten als Missionare“ (John Hohenberg) angesehen.
Als Kommunikationsstrategie ist Storytelling eine Methode, die in den USA im Bereich Marketing und Unternehmensführung entwickelt wurde. Statt sich bei der Werbung für das Unternehmen auf Zahlen und Fakten zu konzentrieren, sollte die zu vermittelnde Botschaft in Form einer möglichst spannenden Geschichte vermittelt werden. Storytelling setzt sich seit Ende der 90er Jahre als Kommunikationsstrategie durch: in Politik, Militär und Wirtschaft. (…)
Umstritten sind diese Methoden nicht nur, weil sie in besonderem Maße die Gefahr der Realitätsverzerrung bergen. Sie zielen zusätzlich auf das Unbewusste des Menschen und liegen damit grundsätzlich außerhalb seines kritischen Bewusstseins. (…)
Dass im Erzählen von Geschichten „immer auch die Interpretation der dargestellten Fakten“ enthalten ist, dass durch Geschichten auch „Wertevorstellungen und Weltbilder“ vermittelt werden, dass sich dadurch „Zielkonflikte“ von journalistischem Informieren einerseits und dem Erzählen von Geschichten andererseits ergeben, sind kritische Einwände, die in der Euphorie über den modernen Trend im Journalismus untergehen:
„Aber taugt das, was für Märchen gilt, auch für journalistische Texte, in denen es doch in erster Linie um Informationsvermittlung geht? Unbedingt. Weil die meisten Menschen sich für Menschen mehr interessieren als für Daten und Fakten, weil sie sich Bilder, auch Metaphern besser einprägen als abstrakte Sachverhalte, weil sie das Kino im Kopf lieben. Man nehme einen Helden, einen Ort und eine Handlung – dieses Rezept des Aristoteles passt bis heute auch für journalistische Geschichten, und zwar nicht nur für die klassische Reportage. Storytelling funktioniert in Nachrichten, Berichten und sogar im Interview […].“
Die Geschichte von den Südosteuropäern, die gegen europäische Gepflogenheiten verstoßen – Eurogruppentreffen in Brüssel am 11.02.2015
Tagesthemen vom 11.Februar 2015, Caren Miosga (WDR):
„Rolf-Dieter Krause hat die Verhandlungen heute in Brüssel beobachtet. Herr Krause, alle wollen wissen, wie die griechischen Pläne aussehen. Wissen Sie’s?“
Rolf-Dieter Krause (WDR):
„Nein, ich weiß es nicht […]. Man hat erfahren können, dass die griechische Regierung weder in der Vorbereitungssitzung für die heutige Sitzung noch in der Sitzung ein Papier vorgelegt habe, und nach den europäischen Gepflogenheiten ist erst ein Vorschlag, der auf Papier steht, auch wirklich verhandlungsfähig […]. Vielleicht hat er mündlich was vorgetragen.“
Fakten und Analyse:
Schlüsselwörter: europäische Gepflogenheiten
Falschinformation:
Sowohl in einem schriftlichen Diskussionspapier als auch in seiner Rede vom 11. Februar 2015 erläutert der griechische Finanzminister, welche vereinbarten Reformen Griechenland auch weiter umsetzen wird und welche Bedingungen es aus welchen Gründen ablehnt und durch Maßnahmen ersetzen möchte, die es in Zusammenarbeit mit der OECD umsetzen wird. Als Reaktion auf die Streuung solcher Gerüchte (negative campaigning durch die Strategie des leaking reagierte die griechische Regierung mit der Veröffentlichung der Dokumente.
Dennoch wurde die Aussage des Korrespondenten im weiteren Verlauf der Berichterstattung von der ARD nicht korrigiert.
Harald Schumann („Der Tagesspiegel“) dazu im Interview mit Telepolis:
„Ein Beispiel für den schlimmen Verfall journalistischer Sitten war die Berichterstattung in Sachen Griechenland in den zwei Monaten nach der Wahl der neuen Regierung in Athen. Dabei ist es regelmäßig vorgekommen, dass auf Basis anonymer Quellen (wo es dann heißt, aus Regierungskreisen oder ein hoher EU-Diplomat hat gesagt, also das, was man branchenintern als ‚unter 2‘ deklariert, das heißt, man darf zitieren, aber nicht sagen, wer das Zitierte gesagt hat) die Grundlagen dafür bildeten zu berichten, dass die griechische Regierung wahlweise unfähig, planlos, arrogant oder frech ist. Jeder Journalistenschüler lernt schon in den ersten 6 Wochen: Wenn solche Vorwürfe in die Welt gesetzt werden, muss der Autor die andere Seite anrufen und fragen: ‚Uns oder mir ist erzählt worden, dass… Was sagen Sie dazu?‘ Und dann muss diese andere Seite zitiert werden. Wenn sie nicht erreichbar ist, sich nicht äußern will oder nur Beschimpfungen ausstößt, dann schreibt man genau das: War nicht erreichbar. Wollte sich nicht äußern. Aber in allen großen deutschen Medien fand vielfach die Berichterstattung nur auf Basis anonymer Quellen statt, ohne der griechischen Seite auch nur die Möglichkeit zu geben, Stellung zu nehmen. Das war eine schlimme Verletzung journalistischer Standards.“
Wer die Quelle dieser rufschädigenden Gerüchte ist, bleibt unklar. Korrespondent Rolf-Dieter Krause selbst wird erst gut vier Monate später, am 22.06.2015, das erste Mal offen über die Arbeit von Spin-Doktoren sprechen.
Charakteristisch für die leaking-Strategie ist, dass der Verbreitung solcher Gerüchte keinerlei Nachrecherche bzw. Korrektur folgt.
Ein weiteres entscheidendes Kennzeichen dieser Form des Innuendo, also dieser indirekten Form, den Kontrahenten ad hominem zu beschuldigen, ist laut dem kanadischen Kommunikationsforscher Douglas Walton „das Verschieben der Beweislast“: Weder die Quelle des Gerüchts noch der Verbreiter des Gerüchts müssen die Verantwortung für ihre Beschuldigungen und deren Wirkung übernehmen.
Dafür sorgt im vorliegenden Fall nicht nur der sorgsam verwendete Konjunktiv („kein Papier vorgelegt habe“), sondern auch die Verwendung von sog. Wieselwörtern (engl. weasel words): „Man hat erfahren können“.
Integraler Bestandteil dieser Form der indirekten Beschuldigung ist laut Walton also eine Absicherungstaktik in Form einer argumentativen Rückzugsmöglichkeit: ein Fluchtweg („escape route“) [125], der es dem Sprecher im Fall von Kritik ermöglicht, die Verantwortung für das, was er weitergibt, abzulehnen.
Im Interview mit der BBC warnt die Investigativjournalistin Heather Brooke vor der Gefahr medialer Informationskontrolle durch Anonymisierung von nicht belegbaren Beschuldigungen.