Michael Andrick schreibt furchtlose Kolumnen in der Berliner Zeitung, zu Themen wie Corona, Gendern und Ukraine, bei denen man sich leicht die Finger verbrennen kann. Deshalb will ich ihm gern nur die besten Absichten mit seinem Buch unterstellen, so wie wir das laut eben diesem Buch generell bei unseren Mitmenschen tun sollen. Die Forderung, in dieser Generalität aufgestellt, wird sich allerdings noch als Teil des Problems des Buches erweisen.
Ich persönlich habe mir durchdachte Anregungen dafür versprochen, wie man als Publizist diesseits der feinen Linie bleibt, zwischen notwendiger Kritik an den Verantwortlichen für Misstände und kontraproduktivem Moralisieren, also dem Einteilen der Menschen in Gut und Böse.
Andricks Buch beginnt vielversprechend. Er erklärt aggressives und intolerantes Verhalten während der Corona-Krise damit, dass Menschen unter Stress „dümmer und böser“ würden als sonst. Das heißt, sie differenzieren weniger, verlieren Einfühlungsvermögen, fassen Handeln anderer leichter als Aggression auf und werden selber aggressiv. Wenn ich die, leider zu vielen Episoden Revue passieren lasse, in denen das auf mich zutraf, so waren es fast immer Episoden, in denen ich unter starkem oder länger anhaltendem Stress stand.
Diffuse, allgegenwärtige Angst, wie sie etwa während der Corona-Krise vorherrschte, stellt einen starken Stressfaktor dar. Vor allem weil so schwer damit umzugehen ist. Wenn dann bestimmte, konkrete Furchtobjekte angeboten werden, oder sich anbieten, wie etwa unmaskierte oder ungeimpfte Mitmenschen, ist die Neigung um so größer, sich mit Entschiedenheit an die Eliminierung dieses Risikos zu machen und diejenigen, die dabei nicht mitmachen, als Aggressoren zu betrachten.
Andrick ruft mit einer Zwischenüberschrift zu „Verstehen, nicht verurteilen“ auf, und darunter zur Frage, Welchen Beitrag habe ich zu Spaltung und Entfremdung geleistet?
Ab hier fängt er an, meine Bereitschaft, ihm zu folgen, zu verlieren. Nicht wegen der Forderung, die ich voll und ganz teile. Auch ich halte die Einteilung in Gut und Böse, die Vorstellung, man müsse und könne das Böse und die Bösen besiegen, und dann würde die Welt besser, für eines der größten Probleme und kollektiven Irrtümer unserer Gesellschaft.
Mein Widerspruch bezieht sich darauf, dass Andrick – erkennbar bewusst – darauf verzichtet, Aspekte wie Propaganda und bewusste psychologische Manipulation der Massen mit zu beleuchten. Er konzentriert sich ausschließlich auf den gegenseitigen Umgang der Gestressten und gegeneinander in Stellung gebrachten Gruppen. Er ruft die Insassen des Moralgefängnisses zu guter Führung auf, damit sie – allesamt – vorzeitig daraus entlassen werden. Wer sie für welches Vergehen in dieses Gefängnis gesteckt hat, bleibt dabei außen vor.
Moralkrankenhaus oder Moralgefängnis
Um dieser Frage zu entkommen, greift Andrick auf das Bild des Virus zurück, des Moralin-Virus, das die Gesellschaft infiziert, und sich mit jeder moralisierenden Abwertung eines Mitmenschen weiter verbreitet. Um konsequent zu sein, hätte er im Titel eigentlich vom „Moralkrankenhaus“ sprechen müssen.
Aber Moralgefängnis klingt nicht nur besser, es ist auch tatsächlich passender, denn wir wurden in dieses Gefängnis gesteckt. Dass Andrick die Frage nach denen, die uns eingewiesen haben, bewusst auslässt, scheint an verschiedenen Stellen auf. So schreibt er:
„Politiker und internationale Akteure hatten und haben in den angstpolitischen Krisen der letzten Jahrzehnte einen gewaltig großen, gelegentlich auch strafrechtlich relevanten Anteil am entgleisten Geschehen.“
Die nähere Erläuterung dazu versteckt er in einer Endnote 11:
„Es kann ebenfalls kein Zweifel daran bestehen, dass die weltweit eigenartig koordiniert und gleichförmig ausfallenden Reaktionen der Regierungen auf die Ausrufung des Virus-Notstands langfristig vorausgeplant und über Jahre hinweg mehrfach regelrecht einstudiert worden sind. Vgl. dazu Paul Schreyers Recherchen in Chronik einer angekündigten Krise, Frankfurt a. M. 2020.“
Das hätte in den Haupttext gehört, zusammen mit einem Hinweis auf das berüchtigte Strategiepapier aus dem Innenministerium, das die Parole ausgab, der Bevölkerung massiv Angst einzuflößen, damit sie alles mitmacht, was zur Pandemiebekämpfung von ihr verlangt wird. Auch die vielfältigen Initiativen von WHO, Regierungen und Geheimdiensten, die öffentliche Meinung zu manipulieren und Menschen mit vom offiziellen Narrativ abweichende Ansichten als Hasser und Hetzer zu diskreditieren, hätten erwähnt werden können.
Aber dann hätte Andrick kaum seine Entscheidung begründen können, die Herkunft von Stress und Angst und damit unserer Einweisung ins Moralgefängnis nicht zu thematisieren.
Stattdessen lässt er die kurze Andeutung im Haupttext schnell wieder fallen, mit dem Argument:
„Nur hilft uns diese berechtigte Feststellung im Alltag fast überhaupt nicht dabei, zu entscheiden, wie wir im direkten Umfeld etwas zur Heilung der Verhältnisse beitragen können.“
Wenn es stimmen würde, dass die Wiederverständigung nach der Spaltung unabhängig von der spalterischen Rolle der Mächtigen stattfinden kann, könnte man ihm als Autor problemlos zubilligen, dass er entscheidet, worauf er sich mit seinem Buch konzentrieren will. Weil es aber nicht stimmt, ist diese Selbstbeschneidung aus meiner Sicht ein grober Fehler, der erhebliche Schwächen in der Argumentation nach sich zieht.
Ich will noch zwei weitere wichtige Stellen erwähnen, an denen er sich auf diese Rolle der Mächtigen zubewegt, um den wichtigen Faden dann schnell wieder fallen zu lassen.
So schreibt er in seiner – für mich etwas haarspalterisch geratenen – Auseinandersetzung mit der Frage, ob Spaltung nur eine Tätigkeit ist oder auch ein gesellschaftlicher Zustand:
„Ich dachte, dass die deutsche Gesellschaft gespalten sei; dies ist aber nicht der Fall. (…) Wer also den Begriff »Spaltung« auf die Gesellschaft anwendet, der hat »A« gesagt und muss nun auch »B« sagen: Soll die Gesellschaft gespalten sein, dann wurde sie gespalten und wir müssen angeben können, wer das auf welche Weise und mit welchen Mitteln getan hat – ob absichtlich oder unabsichtlich, kann dahingestellt bleiben.
Andrick macht zu meiner Überraschung danach nicht einmal den Versuch zu erklären, warum es nicht möglich oder nicht sinnvoll sein soll, anzugeben, wer die Gesellschaft gespalten hat. In seiner bereits zitierten Endnote 11 kommt er einer Antwort schon recht nahe.
An anderer Stelle schreibt er:
„Gehen wir für den Moment davon aus, dass unsere Gesellschaft wirklich gespalten ist, so kann man selbst gar nicht fraktionslos bleiben. Jeder Autor gehört wenigstens einer Fraktion der gespaltenen Gesellschaft an und erscheint damit logischerweise den meisten Betrachtern auch direkt als Partei in den aktuellen Konflikten. Ob ich will oder nicht, ich werde also als Teilhaber der Entfremdung gesehen werden, die ich analysiere.
Und was für mich an meinem Schreibpult gilt, das gilt auch für jeden meiner Leser im Umgang mit seinen Mitmenschen: Versuchen Sie, Gedanken über die Spaltung zu entwickeln und zu diskutieren, um die Spaltung hinter sich zu lassen, so werden Sie dabei immer damit rechnen müssen, als Vertreter einer der sich beharkenden Ansichtsfraktionen betrachtet und behandelt zu werden.“
Jetzt haben wir alles beisammen, um seine unglückliche Grundsatzentscheidung, hoffentlich einigermaßen korrekt, verstehen zu können. Andrick will nicht als Exponent einer der Fraktionen einer gespaltenen Gesellschaft aufgefasst werden, als parteiisch. Weil sonst seine Empfehlungen, was jeder Einzelne zur Heilung beitragen kann, von den vielen, die nicht seiner Fraktion angehören, nicht akzeptiert würden.
Das ist ein ehrbares, aber leider zum Scheitern verurteiltes Ansinnen. Denn dadurch, dass er die Spaltung anders nennt, geht sie ja nicht weg, und damit auch nicht Andricks Status als Partei in dem „hohen Grad zwischenmenschlicher Entfremdung, den wir in Deutschland erleben“. So umschreibt er die Spaltung in „einander mit Unverständnis oder gar Feindseligkeit begegnenden“ Fraktionen mit anderen Worten.
Man muss nur das Inhaltsverzeichnis lesen, um zu wissen, welcher Fraktion er angehört. Da geht es um Abkanzeln, Umstrittenmachen, den anderen kontaktverschulden, die Demokratie schützen, die Fakten checken, um Hass und Hetze bekämpfen und um gerechte Sprache, alles hochproblematische Begriffe und Taktiken, die die mächtigere der beiden Fraktionen gegen die andere in Stellung gebracht hat und bringt.
Ich bezweifle stark, dass diese Fraktion sein Buch lesen und einsehen wird, dass sie derartige Taktiken gegen ihre Mitmenschen nicht mehr anwenden sollten. Diejenigen, die so handeln, fühlen sich als die Guten und sie haben noch – wenn auch rapide abnehmend – die kulturelle Lufthoheit und die finanzielle und ideelle Untersützung der Mächtigen und einflussreicher Medien.
Gleichzeitig kostet Andrick die wirklichkeitsfremde Gleichgewichtung der Rolle der beiden Fraktionen bei der Durchseuchung der Gesellschaft mit dem Moralin-Virus viel an Überzeugungskraft in Bezug auf die Minderheitsfraktion derer, gegen die sich die moralische Abwertung zuerst und recht massiv richtete. Sie sollen sich aufgrund ihrer Stressbewältigungsstrategien genauso mitschuldig fühlen daran, dass die ganze Gesellschaft ins Moralgefängnis gesperrt wurde, wie diejenigen, die sie auf Geheiß und Unterstützung von oben zu Volksgefährdern, skrupellosen Egoisten und Schlimmerem abgestempelt, diskriminiert und ausgegrenzt haben.
Für mich ist das etwa so, wie wenn der Lehrer, nachdem ein Achtklässler einen Fünftklässler im Schwitzkasten malträtiert hat, den beiden ohne Differenzierung ins Gewissen redet, sie sollten sich vertragen und ihren Anteil an der Eskalation reflektieren. Der Große wird sich ins Fäustchen lachen und den Lehrer nicht mehr ernst nehmen, der Kleine wird sich unfair beschuldigt fühlen und bitter enttäuscht sein.
Andrick gibt das Beispiel der Krisenbewältigung durch ein Elternpaar, das seine Kinder vor Schäden durch die Corona-Hysterie bewahren wollte, ihnen deshalb versicherte, sie seien keine Gefahr, und die anderen spielten verrückt. Und das die Kinder kaum noch in die Schule schickte, sondern vorwiegend zu Hause unterrichtete und Spielnachmittage mit den Kindern anderer, ähnlich denkender Menschen arrangierte.
Für mich klingt das wie eine in Anbetracht der Umstände fast ideale, geradezu heldenhaft selbstbewusste Strategie. Aber Andrick lässt sie – ohne das richtig auszuführen – als irgendwie problematisch erscheinen, als Strategie, die ebenso wie andere zur Ausbreitung des Moralin-Virus beigetragen hat.
Kritik wird zu Demagogie
Unter der Festlegung des Autors, wirklich jedem guten Willen zu unterstellen, leidet leider auch die Definition dessen, was Andrick als das Laster definiert, das uns ins Moralgefängnis bringt, das Moralisieren. Er definiert es als unnötiges Anwenden moralischer Kategorien, auf Sachverhalte und Konflikte. „Vorschnelles“ wäre das bessere Prädikat gewesen als „unnötiges“.
Andrick bringt Beispiele aus dem zwischenmenschlichen und dem politischen Bereich. Ein Vater möchte, dass seine Tochter mit ihm zum Einkaufen geht. Sie hat Besseres vor. Er wirft ihr Egoismus vor. Unnötig moralisierend, sagt Andrick, denn das Problem ließe sich leicht moralfrei durch eine Planänderung lösen, die es der Tochter ermöglicht, zu einer für sie passenderen Zeit zu helfen. Vorschnell moralisierend, würde ich sagen, denn es ist ja nicht ausgemacht, dass eine Plananpassung möglich ist, oder dass sie das Problem löst.
Vielleicht hat die Tochter ja nie Lust und fühlt keine Verpflichtung zu helfen. Dann kollidieren Wertvorstellungen, und das sollte besprochen werden, natürlich weniger konfrontativ als es der Vater tut, mit Ich-Statements etc., aber eben auf der Ebene von Moralvorstellungen.
Im politischen Beispiel möchte eine Partei eine deutliche Nährstoffampel auf Verpackungen vorschreiben, die andere will es bei eher unauffälligen Nährwerttabellen belassen. Letztere wirft Ersterer vor, die Konsumenten zu bevormunden, Erstere der Letzteren, sie agiere als Interessenvertreterin der Nahrungsmittelindustrie. Beides unnötiges, kontraproduktives Moralisieren, meint Andrick und nennt das im politischen Bereich „Demagogie“.
Es sei nämlich bei beiderseitig gutem Willen leicht, einen Kompromiss zu finden, etwa ein weniger auffällige Ampel oder eine auffälligere, leichter lesbare Nährwerttabelle. Damit betrachtet er die Wirklichkeit durch eine sehr stark rosarot eingefärbte Brille. Armeen von Lobbyisten tummeln sich in Brüssel und im Bundestag und ihr Wirken ist oft sehr erfolgreich. Warum soll es da unangemessenes Moralisieren, ja gar Demagogie sein, auf starke Anzeichen hinzuweisen, dass eine konkurierende Partei mit einem Vorschlag andere Interessen bedient als sie vorgibt. Andricks hartes Verdikt dagegen kommt einem Verbot gleich, solche Dinge, die es in der Realität unzweifelhaft gibt, anzusprechen. Die politische Auseinandersetzung würde dann zum Schattenboxen verkommen.
Auch der Vorwurf, die Konsumenten würden entmündigt, stellt kein unnötiges Moralisieren dar, keine Demagogie, sondern er verweist auf unterschiedliche Wertvorstellungen bezüglich der Fähigkeit und Aufgabe von Konsumenten sich selbst zu informieren und eigenverantwortlich abzuwägen.
Meine Hoffnung, von dem Buch Führung beim menschenfreundlichen Kritisieren von Misständen und Missetaten zu bekommen wurde somit schwer enttäuscht. Meine Zielvorstellung bleibt daher erst einmal, Missetaten zu kritisieren, aber die Missetäter nicht moralisch zu verurteilen. Wo ich Menschen Chrakterschwäche nachsage, wie etwa vielfach Karl Lauterbach, wegen seiner Lügen und Inkompetenz in seinem Verantwortungsbereich, dann nicht um ihn als Mensch abzuwerten, denn ich kenne weder ihn noch seine Geschichte, sondern um zu kritisieren, dass ein Mensch mit diesen Schwächen Bundesminister ist und bleibt und von den Medien derart geschont wird.
Zu allem Überfluss referiert Andrick am Ende noch ausführlich und zustimmend Mattias Desmets „Psychologie des Totalitarismus“, das ich bereits kritisch besprochen habe. Desmet treibt das Herunterspielen der Rolle der Mächtigen bei der Entstehung totalitärer Tendenzen auf die Spitze. Er argumentiert, es seien kulturelle Entwicklungen in der Bevölkerung, die diese Entwicklung antrieben. Politiker, Medien und andere Menschen an den Hebeln der Macht und der Propaganda seien nur ein Resonanzboden, der diese gesellschaftliche Tendenz aufnimmt und verstärkt.
Ganz so weit geht Andrick nicht, er lässt die Rolle der Mächtigen einfach weg, bzw. versteckt sie in einer Fußnote. Aber die Tendenz ist die gleiche und sie gefällt mir nicht.
Fazit und Gegenentwurf
Nach Lektüre von Andricks Buch habe ich mein eigenes Rezept für den Weg aus der Entfremdung noch einmal gelesen, das ich vor drei Monaten geschrieben habe. Es gefällt mir weiterhin besser.
Wie Andrick betrachte ich die Tendenz zur Charakterisierung von Menschen als gut oder böse als großes zwischenmenschliches und gesellschaftliches Problem, das wir überwinden sollten. Mein Appell richtet sich aber klar an die Angehörigen der Minderheitsfraktion der während der Pandemie Ausgegrenzten und Verfemten. Ich lege diesen nahe, nicht nachtragend zu sein und ihre Mitmenschen, welche sie ausgegrenzt und verfemt haben, nicht als schlechte Menschen zu betrachten, sondern als von Angst infizierte, irregeleitete und absichtsvoll aufgehetzte Menschen. Wobei allerdings diejenigen mit politischen Ämtern durchaus scharf für ihre irregeleiteten Untaten kritisiert und nach Möglichkeit aus diesen Ämtern gewählt werden sollen.
Der Hintergrund ist, dass anhaltender Groll auf andere weder für einen selbst, noch für die Gesellschaft gut ist, und dass solcher Groll nur denjenigen in die Hände spielt, die die Bevölkerung nach dem Prinzip Teile-und-herrsche künstlich in gegnerische Fraktionen spalten.
Erwiderung von Michael Andrick, (zu der ich ihn eingeladen hatte)