17. 01. 2021 | Hören | Es fällt wirklich schwer, noch guten Willen zu unterstellen. Wir werden mit unwürdigen Häppchen-Andeutungen trotz Wirkungslosigkeit des November „Wellenbrecher“-Lockdown auf einen Lockdown bis Ostern vorbereitet. Gleichzeitig lässt man die Diskussion um die erwiesenermaßen und offenkundig sinnvollen Maßnahmen, wie sie Tübingen auf eigene Rechnung ergriffen hat, einfach so versanden und tut so gut wie nichts in dieser Richtung.
Hier eine kleine Zusammenstellung dessen, was Tübingen auf eigene Rechnung unternimmt, von der Webseite der Stadt.
- Kostenlose FFP2-Masken für Bedürftige aus Risikogruppen: Allen Bürgerinnen und Bürgern mit kleinem Geldbeutel, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei einer Ansteckung mit dem Coronavirus haben, stellt die Universitätsstadt Tübingen kostenlose FFP2-Masken zur Verfügung. Wer beispielsweise eine KreisBonusCard hat und wegen des Alters oder einer Vorerkrankung ein erhöhtes Risiko hat, bekommt jeweils fünf Masken ausgehändigt, sodass gewechselt werden kann. Die Masken gibt es bei Tübinger Tafel, AIDS-Hilfe, Kontaktladen der Drogenhilfe, Wohnungslosenhilfe, Sozialforum Tübingen, Lebenshilfe Tübingen, Beratungsstelle für ältere Menschen, Pflegestützpunkt, Bahnhofsmission.
- Kostenlose Schnelltests vor dem Besuch bei gefährdeten Verwandten: Wer einen Besuch bei Verwandten plant, die bei einer Ansteckung mit dem Coronavirus besonders gefährdet wären, kann sich in Tübingen kostenlos testen lassen. Für die Testaktion kommt Dr. Lisa Federle, die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) im Landkreis Tübingen, an mehreren Tagen in der Woche mit dem Arztmobil in die Tübinger Innenstadt.
- Anruf-Sammeltaxi für Risikogruppen: Um die Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus zu verringern, sollten Menschen über 60 Jahren momentan das Anruf-Sammeltaxi (SAM) des TüBus nutzen und auf die Fahrt mit dem TüBus verzichten. So funktioniert der Service: Das Sammeltaxi muss man 30 Minuten vor der gewünschten Abfahrt bestellen. Ein- und Ausstieg erfolgt an den Bushaltestellen. Das Sammeltaxi fährt zu den regulären Abfahrtszeiten der jeweiligen Bushaltestelle. Es gilt der normale Bustarif. Wer eine gültige Monatskarte oder sonstige Abo-Karte für den TüBus hat, muss diese vorzeigen.
Das alles ist aus volkswirtschaftlicher Perspektive praktisch kostenlos. Überall gibt es massenhaft ehemalige Minijobber und Selbständige und Taxifahrer, die keine Arbeit mehr haben und sich freuen würden, wenn der Staat sie anstellen würde, um Risikogruppen zu fahren, Schnelltests durchzuführen oder in Altenheimen bei der Bürokratie, bei Tests oder bei sonstigen Nebenaufgaben des Pflegepersonals zu helfen. Die Schnelltests kosten ein bisschen was, aber bei Großbestellungen nicht viel.
Solche Maßnahmen sind nicht ein bisschen, sondern extrem viel zielgerichteter als die primitivst generalisierte Lockdown-Politik, die das einzige ist, womit sich die Regierenden zu beschäftigen scheinen. Dabei ist die Lockdown-Politik volkswirtschaftlich nicht ein bisschen teurer, sondern extrem viel teurer als zielgerichtete Maßnahmen. Etwas zwischen 100 und 1000 mal teurer würde ich schätzen.
Die Risikogruppen, Menschen über 80 und solche mit schweren Vorerkrankungen sind über Tausendmal stärker vom Risiko betroffen, an einer Covid-Infektion zu sterben als gesunde, junge Menschen. Es ist durch nichts zu rechtfertigen, wirklich durch gar nichts, nicht einmal ansatzweise, auf besondere Schutzmaßnahmen für die Risikogruppen zu verzichten und gleichzeitig der ganzen Wirtschaft und der ganzen Bevölkerung Lockdown-Maßnahmen zu verordnen, die Existenzen vernichten und sehr viele stark belasten.
Wenn man neben den Hygiene- und Abstandsgeboten auch billige, einfach umsetzbare, zielgerichtete Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen nach dem Vorbild Tübingens umgesetzt hat, und noch ein paar teurere, aber auch wichtige, wie das Angebot für Infizierte, sich in leerstehenden Hotels in Quarantäne zu begeben, dann kann man es rechtfertigen, die Wirtschaft und das öffentliche Leben teilweise herunterzufahren, wenn man meint, dass die zielgerichteten Maßnahmen nicht genügen. Ohne das sehe ich keine Rechtfertigung.
Eine aktuelle Studie der Stanford-University, die das Infektionsgeschehen mit und ohne, vor und nach Lockdown verglich, kam zu folgendem Ergebnis: Obwohl kleine Vorteile nicht ausgeschlossen werden können, finden wir keine signifikanten Vorteile für das Fallwachstum durch restriktivere Lockdowns. Eine ähnliche Reduktion des Fallwachstums kann mit weniger restriktiven Maßnahmen erreicht werden. Es scheint auch nicht mehr so, dass Deutschland bei der Fallsterblichkeit besser abschneidet als Schweden, das bisher mit sehr viel weniger Zwangs-Maßnahmen und Verboten gegen die Corona-Ausbreitung vorgegangen ist.
Aber sei es, wie es sei. Einen Lockdown zu verlängern und zu intensivieren, in dessen Verlauf die Infektionsinzidenz bei den besonders gefährdeten Altersgruppen gestiegen ist, und dabei auf gezielte Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen sehr weitgehend zu verzichten, das grenzt für mich an böswillige Untätigkeit der Verantwortlichen. Mein Ärger ist, wie man nach Lektüre dieser Zeilen wohl schon ahnt, seit meiner Wutrede von Mitte-November nicht kleiner geworden.
Wann beginnt die Diskussion über Maßnahmen für ein soziales Leben mit Corona? Eine Wutrede