Seit etwa zwei Jahren läuft eine Kampagne gegen Frankreich in den Medien, der Finanzwelt und der deutschen Politik. Symptomatisch dafür war etwa der Jahresrückblick der Wirtschaftswoche 2013. Darin wurde Frankreich ohne Federlesen als eines der „acht Krisenländer“ abgehandelt, eines, das besonders negativ auffiel. „Frankreich entwickelt sich immer mehr zum Problemkind Europas“ hieß es da unter Verweis auf einen Bericht der Industrieländerorganisation OECD. Die US-Rating-Agenturen
Moody’s und Standard & Poor’s, berüchtigt für ihre politisch motivierten Fehlurteile und Rating-Drohungen, entzogen dem Land schon 2012 die Bestnote AAA. Als der französische Regierungschef jüngst zu Besuch war, wurde er mit einer Batterie von Vorwürfen in den deutschen Medien empfangen, etwas, was es im deutsch-französischen Verhältnis schon lange nicht mehr in dieser Aggressivität gegeben hat. „Frankreichs Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise“, schrieb der „Spiegel“ dazu und ztierte den Vorsitzendendes Parlamentskreises Mittelstand in der Unionsfraktion mit den Worten: „Das Modell des französischen Sozialstaats ist gescheitert.“
Darum geht es, um Fortbestand oder Abbau des Sozialstaats. „Frankreich braucht Hartz-IV“-Reformen“ forderte auch die „Welt“ in einem Kommentar. Demgegenüber hat der französische Regierungschef Manuel Valls der deutschen Regierung vorgeworfen, mit der strikten Austerität, die sie durchsetze, Europa zu erdrücken.
Frankreich ist die letzte Bastion gegen eine menschenfeindliche Verarmungs-Politik, deren Ergebnisse man in Griechenland, Zypern, Portugal und Spanien bestaunen kann. Dagegen, dass diese auf ganz Europa übertragen wird. Es ist die letzte Bastion dagegen, dass überall Arbeitnehmerrechte abgeschafft, Löhne gesenkt und Sozialleistungen abgebaut werden, zugunsten von niedrigeren Steuern und „Investitionsanreizen“ für die Reichen.
Um diese letzte Bastion gegen den Siegeszug der Plutonomie zu schleifen, ist es wichtig, den Misserfolg des französischen Modells immer wieder und in dramatischen Worten zu behaupten. Die Betonung liegt auf behaupten, denn überzeugende Belege werden kaum je beigebracht. Typisch ist eine Zusammenstellung der Nachrichtenagentur dpa von Januar 2014, die Zeitungsartikel mit Überchriften wie „Frankreich versinkt in der Krise“ unterfütterte. Die Liste der Belege umfasste die Arbeitslosigkeit, die mit 11 Prozent deutlich höher war und ist als in Deutschland, das Wachstum, das nicht in die Gänge komme und die Überschreitung der 3-Prozent-Grenze für das Staatsdefizit. Dann kommen noch Behauptungen wie „Ein ineffizienter Verwaltungsapparat verschlingt Zeit und Geld“, die Sozialpartner hätten keine Reformbereitschaft und die Minister seien farblos oder taugten auf andere Weise nichts.
Die europäischen Statistiker liefern leicht verfügbare Vergleichs-Tabellen für die Mitgliedsländer der Währungsunion. So ist leicht festzustellen, wie Frankreich relativ dasteht. Diejenigen, die die Kampagne gegen Frankreich reiten, halten sich damit aus gutem Grund nicht auf, Von einem „Problemkind Europas“ kann nämlich nicht einmal ansatzweise die Rede sein, wenn man die harten Zahlen anschaut. Im Vergleich zu den Krisenländern Spanien, Italien, Portugal, und Griechenland steht Frankreich in fast allem erheblich besser da. Den Vergleich braucht man gar nicht erst ziehen. Ebenso sieht es, mit umgekehrtem Vorzeichen, gegenüber Klassenprimus Deutschland aus.
Vergleich wir also Frankreich mit dem Euroraum und einem anderen wichtigen Handelspartner Deutschlands, den Niederlanden, die traditionell noch mehr als Frankreich als eines der harten Kernländer Europas betrachtet werden. (Wir hätten auch Belgien nehmen können, dann schnitte Frankreich noch besser ab.)
In den letzten fünf Jahren ist die französische Wirtschaft ein halbes Prozent gewachsen, die Wirtschaft des Währungsraums ist um zwei Prozent geschrumpft, die niederländische um über drei Prozent. Warum hören wir nie etwas vom Scheitern des niederländischen Modells?
Die Arbeitslosigkeit in Frankreich liegt mit 10,5 Prozent deutlich höher als in Deutschland und den Niederlanden, aber ein Prozent niedriger als im Durchschnitt des Währungsraums. Gegenüber 2008 ist die Quote um drei Prozentpunkte gestiegen, gegenüber plus dreieinhalb in den Niederlanden und plus vier im Durchschnitt der Euroraums. Nicht toll, aber nun wirklich kein Beleg um Frankreich zum Problemland zu stempeln. Bei der Beschäftigungsentwicklung ist die Reihenfolge die gleiche, nur dass die Unterschiede noch ausgeprägter sind.
Der Anteil derer, die in materieller Armut leben, ist in Frankreich seit 2008 leicht gesunken. In den Niederlanden ist er um 1,3 Prozentpunkte gestiegen, im Euroraum-Durchschnitt um 2,5 Punkte. Wieder Fehlanzeige.
Beim öffentlichen Schuldenstand gibt es immerhin ein bisschen etwas zu finden. Der ist in Frankreich seit 2008 relativ zum Bruttoinlandsprodukt um 25 Prozentpunkte gestiegen, doppelt so stark wie der deutsche und zehn Punkte mehr als in den Niederlanden. Frankreich liegt damit ziemlich genau im Durchschnitt des Währungsraums. Einerseits handelt es sich bei diesem Indikator allerdings in den moderaten Regionen, in denen Frankreich sich noch befindet, nicht um einen Krisenindikator, sondern eher um einen Glaubenssatz derjenigen, die die Schuldenbremse ausgeheckt haben, um den Staat klein zu halten und die Sozialleistungen zu drücken. Zum anderen braucht man nur auf das Urteil der Finanzinvestoren schauen, um das Problem zu relativieren. Frankreich zahlt 1,3 Prozent Rendite auf zehnjährige Staatsanleihen, unwesentlich mehr als die Niederlande mit 1,1 Prozent und viel weniger als im Durchschnitt des Euroraums, der je nach Berechnungsweise zwischen zwei und drei Prozent liegen dürfte. Man kann das Problem auch mit der Entwicklung in echten Krisenländern wie Irland, Portugal, Spanien oder Griechenland relativieren. Dort stieg die Staatsschuldenquote jeweils um 60 bis 80 Prozentpunkte.
Man sieht: es ist absurd, Frankreich in einen Topf mit den europäischen Krisenländern zu werfen und so zu tun als erlebe das Land einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang. Dass es dennoch geschieht, in dieser Breite und Hartnäckigkeit, lässt mich befürchten, dass es Strippenzieher gibt, die im Kampf um die wirtschaftspolitische Ausrichtung Europas bewusst eine solche Kampagne orchestrieren.