Der Weg in die Transferunion – 41 Monate später

Den folgenden Text habe ich im April 2011 veröffentlicht. Darin sagte ich voraus, dass die von Deutschland mit durchgesetzte Deindustrialisierungs- und Verarmungsstrategie für den Süden nur zwei Möglichkeiten lässt: Auseinanderbrechen der Währungsunion oder Marsch in die Transferunion. Heute, knapp dreieinhalb Jahre später ist klar, dass es auf die zweite Variante hinausläuft. Das entspricht der Zielsetzung der wichtigsten Akteure, darunter Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

Der sagte im November 2011 der New York Times, sein Ziel sei die politische Union. Die unternommenen Schritte zu einer fiskalischen Union seien Zwischenschritte auf dem Weg dahin. Gemeint waren zum Beispiel die Rettungsschirme, mit denen Staatsschulden vergemeinschaftet wurden. Auch die Bankenunion, mit der Bankschulden vergemeinschaftet werden, fällt unter das Rubrum Fiskalunion. „Wir können eine politische Union nur erreichen, wenn wir eine Krise haben“, sagte er auch. Die Krise als Mittel zum Zweck!

Wir treiben Südeuropa in den Abstieg

Von Norbert Häring, 8.4.2011

Deutschland ist wieder obenauf. Wie zu D-Mark-Zeiten geben wir in Europa den Takt vor. Alle müssen sich daran ausrichten, mit Deutschland konkurrenzfähig zu bleiben oder zu werden. Wenn die Kanzlerin spricht, hört Europa zu. Sie bekommt vielleicht nicht jede ihrer Initiativen durch, aber gegen Deutschland geht in Europa kaum noch etwas. Weil wir jahrelang den Gürtel enger geschnallt haben, sind wir jetzt so wettbewerbsfähig, dass wir in die Welt und nach Europa sehr viel mehr exportieren können, als wir importieren.

All das ist für unsere Unternehmen, den Arbeitsmarkt und die Staatsfinanzen eine Traumkombination. Das Dumme daran ist: Was zu schön erscheint, um wahr zu sein, führt meist zu einem traurigen Erwachen. Deutschlands Vorteil ist der Nachteil anderer, und dieser wird immer größer. Früher oder später werden sich die ökonomischen Gesetze der Saldenmechanik durchsetzen. Sie besagen, dass kein Land sich auf Dauer immer weiter verschulden kann. Bei Ländern, die ohnehin schon am Rande der Zahlungsunfähigkeit entlangschrammen, kann dieses „auf Dauer“ ein ziemlich kurzer Zeitraum sein. Das Gegenstück ist, dass kein Land, auch nicht Deutschland, auf Dauer immer höhere Guthaben im Ausland ansammeln kann. Irgendwann müssen sich die Güterströme umkehren – oder die Guthaben werden entwertet.

Griechenland, Portugal, Irland und Spanien haben jahrelang viel mehr importiert als exportiert, sich also im Ausland immer mehr verschuldet. In jedem Land wurde das geliehene Geld anders verwendet: in Griechenland für überhöhte Staatsausgaben, in Spanien und Irland für exzessive Investitionen in Immobilien. Ohne die hohen deutschen Überschüsse hätte es diese Defizite in diesem Ausmaß nicht gegeben. Ohne sie hätte es den griechischen Staatsschuldenexzess und die spanische Immobilienblase so nicht gegeben.

Doch das ist jetzt Geschichte, wollen uns Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Berater in Regierung und Bundesbank glauben machen. Im Gegenzug zu deutschen Staatsgarantien wird jetzt ein preußisches Regiment eingeführt, das Zucht und Ordnung wiederherstellt. Die Schuldnerstaaten der Peripherie müssen die Staatsausgaben drastisch kürzen, unter anderem, indem sie die Löhne und Pensionen der Staatsbediensteten herunterfahren und Stellen streichen. Auch Investitionen in Bildung und Infrastruktur fallen dem zum Opfer. Sozialleistungen werden gekürzt. Das steigert den Zwang, sich durch Arbeit Geld zu verdienen, erhöht so das Arbeitsangebot und hält dadurch den Lohnauftrieb in Grenzen. Kurzum, diese Länder werden auf den Kurs gezwungen, mit dem sich Deutschland seit Beginn der Währungsunion saniert und wettbewerbsfähig gemacht hat.

Deutschland hat erfahren, welch langer und schwerer Prozess es ist, sich durch Lohnsenkungen international wettbewerbsfähig zu machen. Die Exporteure profitierten zwar, aber zum Preis einer jahrelang lahmenden bis rückläufigen Inlandsnachfrage. Die einheitliche Geldpolitik im Euro-Raum sorgte zusätzlich für Gegenwind. Weil die Löhne und Preise weniger stark stiegen als in anderen Ländern, war der reale, also um die Inflation bereinigte Zins in Deutschland höher als in anderen Ländern. Das heißt, die Kapitalkosten für Unternehmen und Haushalte lagen höher als bei der internationalen Konkurrenz, was die Aktivität zusätzlich dämpfte.

Jetzt kommen die kriselnden Peripherieländer in diese Situation. Der Unterschied ist nur, dass sie sehr viel kleinere Exportsektoren haben. Für ein Land wie Deutschland, das Waren und Dienstleistungen im Umfang von über 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts exportiert, macht eine Kostensenkung mehr aus als für ein Land wie Griechenland, das 20 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, exportiert. Dafür schlägt dort der Kaufkraftverlust mit größerer Wucht durch, weil der heimische Markt für die Unternehmen entsprechend wichtiger ist. Hinzu kommt, dass in Griechenland der Anteil der Kapitalgüter nur ein Drittel bis ein Viertel so hoch ist wie in Deutschland. Dafür dominieren Sektoren mit geringer Wertschöpfung wie Tourismus, Rohstoffe und Landwirtschaft. Allein auf diese Sektoren zu setzen ist ein Rezept für den Abstieg zu einem Entwicklungsland: Wenn Konsumenten immer weniger Geld zur Verfügung haben, können auch die für die Inlandsnachfrage produzierenden Betriebe immer weniger absetzen. Das Land gerät in eine Abwärtsspirale.

Außerdem befinden sich die Peripherieländer schon am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Staat und Unternehmen müssen hohe Risikoaufschläge bezahlen, was die Kapitalkosten noch weiter in die Höhe treibt. Deshalb ist die Strategie, die in Deutschland erfolgreich war, für die meisten Peripherieländer zum Scheitern verurteilt. Eine Ausnahme ist wahrscheinlich nur Irland, das sich durch jahrzehntelange Ansiedlungspolitik einen großen Exportsektor geschaffen hat.

Es gibt genügend Länder auf dieser Welt, in denen die Stundenlöhne in Cent angegeben werden und die trotzdem keine großen Exporterfolge aufweisen. Ähnliches blüht auch Griechenland und Portugal. Nicht von ungefähr wehrte sich Portugal, solange es ging, gegen die ihm aufgedrängte „Hilfe“. Der Tourismus und der Schafskäse-Export werden zwar blühen, wenn die Löhne tief genug gesunken sind, aber Landwirtschaft und Tourismus sind keine Sektoren, mit denen sich Wohlstand halten lässt. Dazu braucht es Industrie.

Letztlich ist das, was Angela Merkel der Peripherie vorschreiben will, von seiner Wirkung her eine Art Morgenthau-Plan, wie er 1944 in einem Abkommen zwischen Roosevelt und Churchill formuliert wurde. Er sah vor, „Deutschland in ein Land mit vorwiegend agrarischem und ländlichem Charakter zu verwandeln“. Der Plan wurde bald wieder gekippt, weil sich in der US-Regierung die Sorge durchsetzte, dass die daraus folgende Not international das Vertrauen in die Führungsmacht USA erschüttern würde. Stattdessen wurde wenige Jahre später der Marshall-Plan umgesetzt. Mit großzügiger Aufbauhilfe aus Amerika wurden Deutschland und andere Staaten nahe der Frontlinien des Kalten Kriegs in wohlhabende Industriestaaten (zurück-)verwandelt. Neben finanziellen Mitteln gehörte dazu auch die Bereitschaft der USA, zu einem für Deutschland sehr günstigen, hohen Dollar-Kurs Handel zu treiben.

Die Situation innerhalb der Währungsunion ist mit der damaligen transatlantischen Konstellation vergleichbar. Die harte deutsche Haltung führt, wenn sie fortgesetzt wird, entweder zu einem Zerbrechen der Währungsunion oder in die Transferunion. Bisher besteht die Hilfe nur darin, dass diesen Ländern gegen Kredit bei der Bedienung ihrer Schulden geholfen wird – ohne dass irgendetwas geschähe, die Schulden zu senken oder die Finanzkraft zu erhöhen. Geht das so weiter, wird die Bankrotterklärung unweigerlich kommen, nur dass bis dahin die Banken und andere private Gläubiger sich zulasten der Staaten verabschieden konnten. Dann muss Deutschland nachträglich dafür bezahlen, dass seine Unternehmen jahrelang massenhaft Waren in Länder exportiert haben, die sich das eigentlich nicht leisten konnten, finanziert von Banken, die sich auf eine implizite Staatsgarantie der Währungsgemeinschaft verlassen haben. Das ist nichts anderes als eine nachträgliche Exportsubvention – und ein Bail-out für Banker.

Solange die schwachen Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht wiedergewinnen, geht dieses Spiel immer weiter. Der Weg in eine Transferunion wäre so vorgezeichnet, in der die Industrie der Kernländer immer dominanter wird, sich die Peripherieländer deindustrialisieren und Deutschland einen großen Teil der Exporterlöse als staatliche Transfers in die Peripherie wieder abgibt. Ohne schwere politische Verwerfungen wird das nicht abgehen. Es ist gut möglich, dass dann eine Regierung unter dem Druck der Straße die Währungsunion verlässt. Die Finanzmärkte würden dafür sorgen, dass bald auch alle anderen Wackelkandidaten draußen sind. Für die deutsche Industrie und das europäische Freihandelsprojekt wäre das fatal.

Wir sollten daher in unseren Bedingungen für die Kredithilfen stärker darauf eingehen, was die schwachen Länder tatsächlich leisten können. Und sie dabei unterstützen, einen Industriesektor aufzubauen, auch durch entsprechende Investitionen. Vor allem sollten wir ihnen die Möglichkeit lassen, sich selbst zu helfen.

Damit Peripherieländer wettbewerbsfähig werden, muss ihnen ermöglicht werden, auch innerhalb der Euro-Zone eine Abwertung ihrer Währung zu simulieren und so die Deindustrialisierung aufzuhalten. Da Exportsubventionen und Importzölle innerhalb der EU nicht möglich sind, geht das eigentlich nur über das Steuerrecht. Durch niedrige Körperschaftsteuersätze und günstige Abschreibungsmöglichkeiten für Maschinen und Betriebsgebäude können diese Länder sich als Produktionsstandorte attraktiv machen. Starke Länder wie Deutschland und Frankreich sollten dies nicht blockieren. Im Gegenzug müssten höhere Mehrwertsteuer- und eventuell Einkommensteuersätze in Randländern die Einnahmeausfälle kompensieren. Die Mehrwertsteuer wird auf Exporte nicht erhoben, belastet also die Exporteure nicht. Dienstleistungen, die nicht in internationaler Konkurrenz stehen, können mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt und so verschont werden; Frankreich tut das schon für sich selbst. Die Einkommensteuer belastet Einheimische unabhängig davon, wo sie produzieren, führt also nur dann zu Produktionsverlagerungen, wenn sich die Betroffenen selbst ins Ausland verabschieden.

Irland verfolgt seit Jahrzehnten sehr erfolgreich die Strategie der niedrigen Körperschaftsteuersätze und verteidigt sie mit gutem Grund gegen den Druck aus Deutschland, sie anzuheben. Das unter der Kuratel des IWF und der Garantiegeberländer stehende Griechenland bräuchte derzeit wahrscheinlich gar nicht erst zu versuchen, eine solche Strategie einzuschlagen. Das würde dem Land sicher – mit dem vordergründigen Verweis auf Steuerausfälle – verwehrt.

Die eiserne Kanzlerin muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich lieber Griechenland und Portugal auf Dauer und auf Kosten des deutschen Steuerzahlers durchfüttern will, anstatt den Ländern zu helfen, ihre Industrie aufzupäppeln und uns ein bisschen mehr Standortkonkurrenz zu machen. Nichts gegen Untergrenzen für die Körperschaftsteuer, um einen ruinösen Wettbewerb zu verhindern. Aber für periphere Länder, die es schon aufgrund ihrer geografischen Lage schwer haben zu konkurrieren und die weniger entwickelt sind, müssen Ausnahmen gelten. So gut wie derzeit konnte sich Deutschland Großzügigkeit im eigenen Interesse selten leisten.

Wir sollten uns ein Beispiel an den USA der Nachkriegszeit nehmen.

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