Die Krokodilstränen der Modebranche über die 1000 Toten von Rana Plaza

19. 01. 2020 Seit dem Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch setzen die westlichen Textilkonzerne dort höhere Sicherheitsstandards durch – und lassen die Arbeiterinnen dafür bezahlen…

Der schwerste Industrieunfall seit der Bhopal-Tragödie 1984 ereignete sich im April 2013 als die Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch einstürzte. Über tausend Arbeiterinnen und Arbeiter verloren ihr Leben, etwa 2 500 weitere wurden verletzt. Die westlichen Textilfirmen und Einzelhandelsketten, die dort hatten produzieren lassen, mussten dafür viel öffentliche Kritik einstecken. Nach einigem Zögern übernahmen sie eine Mitverantwortung und leisteten Entschädigungszahlungen. Außerdem übten sie Druck auf ihre Zulieferer in Bangladesch wegen höherer Sicherheitsstandards aus, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Die Regierung in Bangladesch hob den Mindestlohn für Textilarbeiter nach dem Unglück außerplanmäßig an.

Die Weltbank-Ökonomen Laurent Bossavie, Yoonyoung Cho und Rachel Heath haben in einer jüngst veröffentlichten Studie mit dem Titel „The Effects of International Scrutiny on Manufacturing Workers“ untersucht, was sich für die Arbeiter seit Rana Plaza verbessert und verschlechtert hat.

Mehr Sicherheit, weniger Lohn

Das Ergebnis fällt erstaunlich zwiespältig aus. Ihren erklärten Hauptzweck haben die Kontrollen der Auftraggeber zwar erfüllt: Die Sicherheit der Arbeiter hat sich erheblich verbessert. Es gibt weniger Arbeitsunfälle und auch Übergriffe, vor allem gegenüber den Näherinnen, sind seltener geworden.

Aber es gibt Schattenseiten. Die vertragliche Situation der Arbeiter wurde prekärer. Deutlich weniger als vorher haben nach Rana Plaza ein festes Arbeitsverhältnis. Und die im internationalen Vergleich ohnehin sehr niedrigen Löhne der Textilarbeiter sind kräftig gesunken, besonders stark die Löhne der Frauen – und das trotz der Anhebung des Mindestlohns. Der Mindestlohn war zuvor so niedrig, dass die Erhöhung nur bei einem geringen Anteil der Belegschaften gegriffen hatte. Stärker schlug durch, dass die Löhne für die besser verdienenden Beschäftigten beträchtlich gedrückt wurden. Im Endeffekt ging der Lohnvorteil verloren, den man vorher gehabt hatte, wenn man Textilien für den Export produziert hatte. Besonders groß war dieser Vorteil für Frauen, weil es für sie in Bangladesch wenig Arbeitsgelegenheiten außerhalb des Textilsektors gibt. Entsprechend groß war der Lohnverlust für die Frauen.

„Dieser Anstieg der Ausgaben fiel zusammen mit zunehmendem Druck von den Kunden der Textilfabriken, die Preise zu senken.

Die Textilfertigung, überwiegend für den Export, ist der wichtigste Wirtschaftszweig Bangladeschs. Der Anteil der Branche an den Exporten stieg von der Hälfte im Jahr 1995 bis 2015 auf über 80 Prozent. Mehr als vier Millionen zumeist niedrig qualifizierte Arbeiter sind in der Textil-Auftragsfertigung beschäftigt, das sind 40 Prozent aller Industriebeschäftigten.

Der Branchenmindestlohn für die niedrigste Qualifikationsstufe betrug vor dem Unglück umgerechnet 38 Dollar monatlich, danach wurde er auf umgerechnet 68 Dollar erhöht. Fünf Jahre später, im September 2018 wurde eine weitere Erhöhung auf umgerechnet 95 Dollar beschlossen.

Die europäischen Auftraggeber der Textilindustrie gründeten in Reaktion auf das Rana-Plaza-Unglück das Abkommen über Feuer- und Gebäudesicherheit in Bangladesch, die amerikanischen die Allianz für Sicherheit der Arbeiter in Bangladesch. Im europäischen Abkommen verpflichteten sich die Unterzeichner bei ihren Zulieferern, regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen durchzuführen und nötigenfalls in die Mängelbehebung zu investieren. Die US-Allianz war mit der Finanzierung von Maßnahmen zur Problembehebung zurückhaltender.

Für die Fabrikbetreiber in Bangladesch bedeuteten die von den Auftraggebern durchgesetzten höheren Standards höhere Kosten, schreibt die Weltbank und erwähnt in einem trockenen Satz den Umstand, der dafür sorgte, dass die Arbeiter in Bangladesch die Zeche für ihre höhere Sicherheit selbst bezahlen: „Dieser Anstieg der Ausgaben fiel zusammen mit zunehmendem Druck von den Kunden der Textilfabriken, die Preise zu senken.“ Einige seien durch diese Kombination von höheren Kosten und niedrigeren Preisen zu Produktionseinschränkungen gezwungen worden, andere zur Aufgabe.

Entsprechend stark verschlechterte sich die Verhandlungsposition der Textilarbeiter. Ihre Löhne sanken im Durchschnitt um über acht Prozent. Bei den weiblichen Beschäftigten betrug der Rückgang sogar 20 Prozent, bei den männlichen, die bessere Ausweichmöglichkeiten in die stark wachsenden übrigen Industrien hatten, waren es fünf Prozent Lohneinbuße.

Auf die Motivation kommt es an

Ein Vergleich mit den Wirkungen von zertifiziertem fairen Handel zeigt, dass es für Einwirkungen aus den Abnehmerländern in die Produktionsbedingungen in Entwicklungsländern sehr darauf ankommt, wie und mit welcher Motivation diese stattfinden. Die Marken-Textilfirmen, die ihre Lieferanten in Bangladesch zu höheren Arbeitsstandards nötigten und gleichzeitig die ohnehin niedrigen Abnahmepreise drückten, scheinen stärker die heimische Öffentlichkeit als das Wohl der Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladesch im Sinn gehabt zu haben.

Dagegen sind Käufer von fair gehandeltem Kaffee bereit, mehr zu bezahlen, damit die Produzenten ein besseres Auskommen haben. Das wirkt auch wie beabsichtigt, haben Raluca Dragusanu und Nathan Nunn in einer Studie über Costa Rica herausgefunden. Danach geht ein Fair-Trade-Zertifikat mit höheren Absatzpreisen und Umsätzen einher, vor allem zu Zeiten niedriger Kaffeepreise, wenn die garantierten Mindestpreise bindend werden. Die Einkommen der Familien, die in der Kaffeebranche arbeiten, steigen.

Auch Druck der Konsumenten auf Markenunternehmen kann große Fortschritte für die Arbeiter in Entwicklungsländern erzeugen, wenn der Druck nicht wie im Fall Rana Plaza von einem einzelnen Ereignis ausgelöst und eng auf die Vermeidung einer Wiederholung abzielt, sondern umfassender das Wohl der Betroffenen im Sinn hat. Das war zum Beispiel in den Neunzigerjahren der Fall, als es Boykottkampagnen gegen Firmen wie Nike, Adidas und Reebok gab, weil diese ihre Sportschuhe in indonesischen „Sweatshops“ – Ausbeuterbetrieben – unter sehr schlechten Bedingungen und zu extrem niedrigen Löhnen fertigen ließen. Wie Ann Harrison und Jason Scorse in einem 2010 in der „American Economic Review“ veröffentlichten Aufsatz darlegten, führten diese Kampagnen dazu, dass die indonesische Regierung die Mindestlöhne stark anhob. Die betroffenen Markenartikler gingen Selbstverpflichtungen ein, die Arbeitsbedingungen in ihren Zulieferfabriken zu verbessern und die Löhne zu erhöhen. Da die Zulieferer nicht wie in Bangladesch nach RanaPlaza gleichzeitig die Preise senken mussten, stellten die Ökonomen keinen nennenswerten Beschäftigungsverlust aufgrund dieser Maßnahmen fest, auch wenn die Gewinne der Fabrikbetreiber sanken und einige kleinere Fabriken schließen mussten.

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