Die Krise spielt sich anderswo ab: bei „Otto Normalverdiener“. Die Inflationsrate betrug laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 durchschnittlich 6,4 Prozent. Aktuell liegt sie bei 7,2 Prozent (April vorläufig), bei Nahrungsmitteln sogar bei 22,3 Prozent (März). Die Lohnsteigerungen halten bei Weitem nicht mit.
Krisen, Inflation und Rekordgewinne – wie passt das zusammen? Die in den USA lehrende deutsche Wirtschaftsprofessorin Isabella Weber ist in einer kürzlich veröffentlichten Analyse zusammen mit Co-Autor Evan Wasner der Frage nachgegangen, warum große Unternehmen ausgerechnet in einer Krise Preiserhöhungen zur Gewinnsteigerung durchsetzen können, die vorher nicht möglich waren – und wie sie dadurch einen Inflationsschub verstärken.
Ihre überraschende Antwort lautet kurz gefasst: nicht trotz, sondern wegen der Energiepreissteigerungen, Nachschubprobleme und Kapazitätsengpässe konnten die Konzerne ihre Gewinne kräftig steigern. Webers Erklärungen haben wirtschaftspolitische Folgen. Werden die Preissteigerungen durch die Gewinne der Unternehmen getrieben, kann das andere Instrumente für die Inflationsbekämpfung notwendig machen. Die Ökonomin gehörte der Gaspreiskommission der Bundesregierung an, der im vergangenen Herbst beschlossene Gaspreisdeckel folgt in wesentlichen Teilen einem Vorschlag Webers.
Wie Unternehmen die Inflation treiben
Aber wieso können Unternehmen nun in der Krise ihre Gewinne über Preiserhöhungen steigern? Der Effekt wird in der Analyse der beiden Ökonomen so erklärt: Stark steigende Vorleistungspreise, ausgelöst durch die Energiekosten, können dazu führen, dass sich Unternehmen indirekt koordinieren.
Jede Firma weiß, dass alle anderen die Preise anheben müssen, um nicht Verluste zu erleiden. Die Furcht der Unternehmen schwindet, dass sich Kunden nach Preissteigerungen abwenden. Schließlich können sie davon ausgehen, dass sie mit Preiserhöhungen nicht allein bleiben.
Wenn es dazu noch – wie im deutschen Baugewerbe oder auch in der Automobilindustrie – Liefer- und Produktionsengpässe gibt, wird daraus laut den beiden Ökonomen so etwas wie ein Freibrief für starke Preiserhöhungen.
Denn die Unternehmen müssen keine Marktanteilsverluste befürchten, wenn alle Konkurrenten Kapazitätsprobleme haben. Schließlich haben die Firmen schon Probleme, ihre bestehenden Kunden zu beliefern.
Landwirtschaft, Bau und Handel als Inflationstreiber
In Deutschland war die Landwirtschaft eine starke Inflationstreiberin. Sie profitierte von stark gestiegenen Weltmarktpreisen für ihre Erzeugnisse. Dass die landwirtschaftlichen Unternehmen ihre Preise sehr viel stärker anheben konnten, als zum Ausgleich der gestiegenen Preise für Vorleistungen wie Saatgut und Dünger nötig war, kann man an der Entwicklung der Wertschöpfung ablesen. Diese berechnet sich so: Umsatz minus Ausgaben für Vorleistungen.
Zu Kosten und Preisen des Vorjahres gerechnet, war die Wertschöpfung 2022 fünf Prozent niedriger als 2021. Das heißt, die Landwirtschaft produzierte mengenmäßig weniger. Zu tatsächlichen Kosten und Absatzpreisen gerechnet war die Wertschöpfung 40 Prozent höher.
Ökonomen bezeichnen diese Differenz als Deflator der Bruttowertschöpfung. Je höher der Wert ist, desto mehr können Unternehmen Preissteigerungen durchsetzen, die über ihre höheren Kosten hinausgehen. Die stärksten Inflationstreiber waren 2022 laut Statistischem Bundesamt ausweislich dieses Indikators neben der Landwirtschaft der Bau sowie Handel, Verkehr und Gastgewerbe.
Preise werden hoch bleiben, wenn die Inflation zurückgeht
Das Ergebnis ist hohe Inflation, die kaum etwas mit der Lohn-Preis-Spirale zu tun hat, mit der sich Ökonomen und Zentralbankbanken für gewöhnlich auseinandersetzen.
Das sieht inzwischen auch die traditionell auf die Löhne fixierte Europäische Zentralbank (EZB) so. Auf einer Konferenz in Frankfurt präsentierte Chefvolkswirt Philip Lane kürzlich Berechnungen, wonach in den preistreibenden Sektoren Bau, Landwirtschaft und kontaktintensive Dienstleistungen wie dem Gastgewerbe die Gewinnmargen seit Anfang 2022 um ein Vielfaches stärker gestiegen sind als die Lohnstückkosten. Auch in der Gesamtwirtschaft war der Anstieg der Gewinnmargen mehr als doppelt so stark.
Laut Weber und Wasner sollte man nicht damit rechnen, dass die Preise in der Breite wieder sinken, wenn die Lage und die Rohstoffpreise sich normalisieren. Es gehöre zu den Prinzipien von Unternehmen mit Marktmacht, Preissenkungen nach Möglichkeit zu vermeiden.
Die jährliche Inflationsrate geht dann zwar wieder zurück. Der Wohlstandsverlust für die Arbeitnehmer, Rentner und Transferempfänger ist jedoch dauerhaft, denn die einmal erhöhten Preise bleiben hoch.
Preiskontrollen statt Zinserhöhungen
Aus ihrer Diagnose folgt für Weber und Wasner die wirtschaftspolitische Empfehlung, in solchen Situationen nicht auf die übliche Inflationsbekämpfung mit geldpolitischen Mitteln zu setzen.
„Höhere Zinsen schaden den Arbeitnehmern, die sich in der derzeitigen Inflationsepisode ohnehin in der Defensive befinden“, stellen sie fest. Außerdem belaste eine restriktive Geldpolitik kleinere Unternehmen ohne Macht am Markt überproportional.
Stattdessen empfehlen sie Maßnahmen gegen übermäßige Preissteigerungen in systemrelevanten, vorgelagerten Sektoren bis hin zu Preisdeckeln oder -bremsen. In Märkten wie einigen Energiemärkten, die von einer Handvoll Unternehmen dominiert werden, seien solche Kontrollen einfacher durchzusetzen als auf Wettbewerbsmärkten, so Weber und Wasner.
Von der Häresie zur herrschenden Meinung
Als Weber Ende 2021 mit einem Gastbeitrag im Guardian zum ersten Mal Preiskontrollen zur Inflationsbekämpfung ins Gespräch brachte, war die Ablehnung groß. Nobelpreisträger Paul Krugman nannte den Vorschlag „einfach nur dumm“. Die Universität Chicago, ein Hort der radikal-marktliberalen, fragte Prüfungskandidaten, was „richtige Ökonomen“ einem solchen Vorschlag entgegenhalten würden.
15 Monate später hat sich die Diskussion gedreht. Krugman entschuldigte sich und sprach sich selbst für Preiskontrollen aus. Die EU hat eine Übergewinnsteuer für fossile Energieunternehmen und einen Gaspreisdeckel beschlossen. Und Kalifornien ein Gesetz, das es einer Regulierungsbehörde erlaubt, Mineralölkonzerne wegen überhöhter Spritpreise zu bestrafen.
Weber begrüßt diese Maßnahmen, bedauert aber, dass sie so spät kamen. „Weitaus besser hätten sie gegen den Inflationsschub gewirkt, wenn sie gleich zu Anfang der Verwerfungen am Energiemarkt eingeführt worden wären“, sagt sie dem Handelsblatt. Als positives Beispiel nennt sie Frankreich, wo beim Gaspreis früher eingegriffen wurde und die Inflation weniger hoch stieg.
Aber, da weitere Verwerfungen dieser Art kaum ausbleiben würden, lohne es sich immer noch, das Arsenal der verfügbaren Maßnahmen entsprechend zu erweitern.