Energie: Der Blinde Fleck der Wirtschaftswissenschaft

Wenn es nach den Ökonomen geht, ist die Erderwärmung ein sehr leicht lösbares Problem. Wir brauchen nur die Energienutzung massiv zurückzufahren. Größere Einbußen bei Wachstum und Wohlstand sind nicht zu befürchten. Denn laut ökonomischen Lehrbüchern bestimmt allein der Einsatz von Kapital und Arbeit, wie viel produziert werden kann. Mit der Realität hat das herzlich wenig zu tun. Wenn sie etwas zu einem der wichtigsten Menschheitsprobleme beitragen soll, muss die ökonomische Theorie grundlegend reformiert werden.

Außerhalb der Lehrbücher verwenden die Ökonomen auch „Produktionsfunktionen“, in denen Energie als Produktionsfaktor vorkommt. Aber das ändert nicht viel. In solchen neoklassischen KLE-Produktionsfunktionen, so genannt nach den üblichen Abkürzungen für Kapital, Arbeit und Energie, ist der Beitrag des Kapitals zum Produktionsergebnis üblicherweise rund 30 Prozent, derjenige der Arbeit 65 Prozent; für die Energie bleiben gerade mal fünf Prozent. Von einem Faktor, der so wenig zum Produktionsergebnis beiträgt, sollte man leicht einen Großteil einsparen können. Schließlich lassen sich die Faktoren in diesen Formeln durch Mehreinsatz der anderen Faktoren ersetzen.

Für Dietmar Lindenberger, Wirtschaftsforscher und Dozent am Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln, macht sich die Standard-Ökonomik dadurch in wichtigen energiepolitischen Themen irrelevant. „Wenn man zu Fragen der Produktion etwas Fundiertes beitragen will, dann muss man die Gesetze der Physik berücksichtigen“, schreibt der Betriebswirt und Physiker der VWL ins Stammbuch. Denn Produktion sei ein materieller Prozess, in dem Energie eine zentrale Rolle spielt, und „Energie lässt sich nicht beliebig durch Kapital ersetzen“.

Noch strenger formuliert Bernard Beaudreau von der Universität Laval in Québec in seinem aktuellen Aufsatz „The trouble with production theory„. „In der VWL stimmt nichts, wenn ihr wichtigster Eckpfeiler nicht stimmt, nämlich das Verständnis der materiellen Prozesse ,die Wohlstand hervorbringen“, schreibt er.

Energiekrise nicht vorgesehen

Die Ökonomen sind mit der Produktionsfunktion aus den Lehrbüchern schon in der Energiekrise der 70er-Jahre auf die Nase gefallen, als sich der Preis eines wichtigen Produktionsfaktors vervielfachte. In ihren Modellen kam er gar nicht vor. Hurtig bauten sie ihn ein, ermittelten aber eine so geringe Bedeutung, dass sie den volkswirtschaftlichen Schaden der Energiepreisexplosion massiv unterschätzten. Trotzdem ist es bei diesem geringen Gewicht geblieben. Denn im Rahmen der vorherrschenden neoklassischen Ökonomik geht es kaum anders. Diese Theorie arbeitet mit der Annahme, dass sich eine Produktivität der verschiedenen Produktionsfaktoren ermitteln lässt, und dass diese den Marktpreis bestimmt. Denn niemand würde mehr für eine zusätzliche Stunde Arbeit oder eine zusätzliche Kilowattstunde Strom bezahlen, als diese an Produktionswert zusätzlich hervorbringt. Weil aber der Kostenanteil Energie am Produktionswert viel geringer ist als der von Arbeit und Kapital, folgt daraus im neoklassischen Modell, dass die Grenzproduktivität von Energie entsprechend niedrig sein muss. Entsprechend leicht müsste es sein, den Energieeinsatz zu reduzieren.

Ein physikalisch korrektes Verständnis des industriellen Produktionsprozesses ist mit dieser Vorstellung der gegenseitigen Ersetzbarkeit nicht vereinbar. Physikalisch gesehen können Maschinen nur dadurch produktiv sein, dass sie Energie nutzen und Arbeit vor allem dadurch, dass sie diesen Prozess beaufsichtigt. Dass Maschinen Energie „ersetzen“ ist streng genommen gar nicht möglich. Etwas weniger streng genommen ist es in begrenztem Umfang dadurch möglich, dass bessere Maschinen die Effizienz der Nutzung der Primärenergiequellen verbessern.

Beaudreau liefert in seinem Beitrag auch eine politökonomische Begründung dafür, dass die Ökonomik sich derart von den physikalischen Gesetzen der Thermodynamik abkoppelte.

„Von Anfang an war die Entstehung des Wohlstands in den Modellen der Ökonomen untrennbar mit der Verteilung des Wohlstands verbunden“, lautet sie. Beaudreau zeigt anhand von einschlägigen Texten der klassischen Ökonomen Adam Smith und Karl Marx, dass diese sehr genau darüber im Bilde waren, wie Maschinen und Energie zusammenwirken, um industrielle Waren zu erzeugen. Trotzdem entschieden sich beide für die Arbeitswertlehre. Dieser Lehre zufolge ist Arbeit der einzig produktive Faktor. Beaudreau führt das bei Smith darauf zurück, dass dieser die Angst der Arbeiter vor der Konkurrenz der Maschinen dämpfen wollte. Deshalb behandelte er Maschinen nur als etwas, was die menschliche Arbeit produktiver macht. Marx wiederum habe die Arbeitswertlehre ermöglicht, herzuleiten, dass die Arbeit von den Kapitalbesitzern ausgebeutet wird.

Die neoklassische Theorie war die Antwort auf den Vorwurf von Marx. Kapital wurde für produktiv erklärt und in die Produktionsfunktion aufgenommen. Energie kam nicht vor. Ihr auch eine Produktivität zuzuschreiben hätte das modellhafte Verteilungsgleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit gestört, bei dem jeder Faktor nach seiner Produktivität bezahlt wird. Dabei blieb es im Wesentlichen bis heute.

Das hat unter anderem zur Folge, dass die ökonomische Wachstumstheorie „eine Theorie ist, die den wichtigsten Wachstumsfaktor unerklärt lässt“, wie der Vater dieser Theorie, Robert Solow, 1994 selbstkritisch einräumte. Nach ihm wurde dieser Faktor zunächst Solow-Residuum genannt. Das ist der Teil des Wirtschaftswachstums, der sich nicht durch Mehreinsatz von Arbeit und Kapital erklären lässt. Es ist der größte Teil des Wachstums. Später wurde das Solow-Residuum dann in „technischer Fortschritt“ umbenannt. Das klingt zwar wie eine Erklärung, bleibt aber der gleiche, unerklärte Rest.

Physiker rechnen anders

Lindenberger und andere Abweichler, oft ebenfalls mit Physik-Hintergrund, haben gerechnet, welche Anteile am Wachstum auf zusätzlichen Einsatz von Arbeit, Kapital und Energie entfallen, wenn man auf physische Größen und nicht auf Gleichgewichtspreise abstellt. Dann entfallen rund 50 Prozent auf höheren Energieeinsatz, also so viel wie auf Arbeit und Kapital zusammen. Das Solow-Residuum verschwindet in dem Fall weitgehend.

Für Lindenberger ist die Marginalisierung des Faktors Energie nicht bloß ein theoretisches Problem, sondern sie hat praktische und gefährliche Konsequenzen: „Sie führt dazu, dass die Sicherheit der Energieversorgung zu wenig Beachtung findet“, beklagt er. Weil die Energieversorgung so wichtig ist, fordert er im Rahmen der Energiewende einen „behutsameren Umgang mit den vorhandenen konventionellen Stromerzeugungskapazitäten“. Auch die Relevanz von Elektrizität für die zunehmend digitalisierte Ökonomie liegt auf der Hand. Dass sie weitgehend unbeachtet bleibt, ist für Lindenberger ein wichtiger Grund dafür, „dass sich die Wachstumstheorie so schwertut, den Phänomenen der Automation und Digitalisierung gerecht zu werden“.

[13.4.2018]

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