„Unser Schurke soll es uns ermöglichen, die Opferrolle anzunehmen und unsere moralische Überlegenheit einzufordern. Wir werden all das in ihm sehen, was wir in uns selbst nicht zu erkennen vermögen und je nach unseren besonderen Interessen dämonisieren. Das ist das Einmaleins des Pharisäertums.
Man braucht nur den Frömmler davon zu überzeugen, dass er frei von Sünde ist, und schon fängt er begeistert an, Steine oder Bomben zu werfen. Tatsächlich ist kein großer Aufwand erforderlich, es braucht nur etwas Ermutigung und ein Alibi, dann überzeugt er sich selbst.
Wenn wir uns als Opfer fühlen, sind alle unsere Handlungen und Glaubenslehren gerechtfertigt, so anfechtbar sie auch sein mögen. Unsere Gegner – oder auch nur unsere Nachbarn – stehen nicht mehr auf der gleichen Stufe wie wir und werden zu Feinden. Wir sind nicht mehr Angreifer, sondern werden Verteidiger. Der Neid, die Habsucht oder das Ressentiment, die uns antreiben sind gerechtfertigt, weil wir uns sagen, dass wir ja zum Zweck der Selbstverteidigung handeln. Das Böse, die Bedrohung liegt immer beim anderen. Der erste Schritt zum leidenschaftlichen Glauben ist die Angst.
Es darf uns nicht genügen, dass die Menschen glauben. Sie sollen glauben, was sie glauben sollen. Und sie sollen das weder infrage stellen noch auf die Stimme von irgendjemandem hören, der es infrage stellt. Wer immer das Dogma infrage stellt, ist unser Feind. Ist das Böse. Und wir haben das Recht und die Pflicht, ihm gegenüberzutreten und ihn zu zerstören. Reagieren ist einfacher als agieren. Nichts belebt den Glauben, den Eifer und das Dogma so sehr wie ein guter Widersacher. Je unwahrscheinlicher, desto besser.“
Aus: Carlos Ruiz Zafón: Das Spiel des Engels (El Juego del Ángel), 2008, Roman.