Der Wahl-O-Mat wird von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben. Er gleicht die bevorzugten Antworten der Nutzer auf 38 politische Entscheidungsfragen (ja, nein, neutral) mit den Antworten der Parteien hierzu ab und vergibt Punkte für Übereinstimmung. Die Nutzer haben vor dem Zusammenzählen der Übereinstimmungspunkte noch die Chance, Fragen als besonders wichtig zu markieren. Die Punkte dafür werden dann höher gewichtet. Im Ergebnis werden entweder alle oder vom Nutzer ausgewählte Parteien nach dem Grad der Übereinstimmung mit den Präferenzen des jeweiligen Nutzers aufgereiht.
Die Erreichbarkeit des Wahl-O-Mat scheint eingeschränkt. Mir gelang es mit verschiedenen Browsern nicht, die Seite (komplett) zu laden. Mit einem mobilen Gerät ging es problemlos.
Die Bundeszentrale ist eine dem Bundesinnenministerium von Nancy Faeser (SPD) zugeordnete Behörde. Es ist also ein gehöriges Maß an Misstrauen angezeigt, was die Auswahl der Fragen und die Wertung der Antworten im Hinblick auf Übereinstimmung angeht. Ein Blick auf die Fragen rechtfertigt schnell dieses Misstrauen. Corona-Aufarbeitung kommt nicht vor, in schöner Übereinstimmung mit der Verabredung der Altparteien von 2021, dieses Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Das ist sicherlich kein Versehen, sondern soll die Mainstream-Parteien besser aussehen lassen, als sie es nach ihrer unterirdischen Performance in Sachen Bürgerrechte verdienen.
Anstatt Fragen nach der bevorzugten politischen Richtung bei den verschiedenen Sachthemen, werden manipulationsanfällige Detailfragen in willkürlich anmutender Auswahl gestellt. Die Nutzer bekommen nicht die Chance, die Präferenz für eine ganz andere Richtung oder ein Ja-Aber zu äußern. Wenn sie „Nein“ ankreuzen, ist unerheblich, ob sie das tun, weil ihnen der Vorschlag nicht weit genug oder zu weit geht. Oft sind die zu beurteilenden Forderungen unnötig zugespitzt. Dann fällt es schwer zu antworten, wenn die Forderung zwar der Richtung nach, aber nicht in der Zuspitzung der eigenen Präferenz entspricht. Anstatt der These „Bürgergeldempfänger sollen finanziell sanktioniert werden, wenn sie eine zumutbare Arbeit wiederholt ablehnen“ lautet die Frage, ob ihnen das Bürgergeld dann ganz gestrichen werden soll. Letzteres ist eine laut Bundesverfassungsgericht grundgesetzwidrige Forderung. Es wird auch nicht gefragt, ob die Förderung erneuerbarer Energien reduziert werden soll, sondern ob sie gleich ganz eingestellt werden soll.
Ob energieintensive Unternehmen einen finanziellen Ausgleich für die hohen Stromkosten erhalten sollen, ist für die große Mehrheit der Wähler sicher weit weniger wichtig als die Frage, ob generell etwas gegen die Gründe für die hohen Energiepreise getan werden sollte. Wie beantwortet man die Frage, ob Deutschland die Förderung der Anwerbung von Fachkräften (ganz) aufgeben soll, wenn man lediglich starke Bedenken hinsichtlich der derzeitigen Praxis und der Definition von Fachkräften hat? Zum Megathema Rente wird nur die scheinbar willkürlich ausgewählte Detailfrage gestellt, ob alle nach 40 Beitragsjahren die volle Rente erhalten sollten.
Warum der Evergreen eines Tempolimits auf Autobahnen zu den wichtigsten Fragen gehören soll, erschließt sich mir nicht. Richtig albern wird es bei der Frage, ob in der Einleitung des Grundgesetzes weiter von „Verantwortung vor Gott“ die Rede sein soll. Sehr wenige Wähler dürften sich diese Frage von sich aus gestellt haben.
Bei meinem Selbstversuch kam die Partei BSW, deren Mitglied ich bin, knapp hinter dieBasis, die ich nicht wählen würde, und vor der Linken, die ich erst recht nicht wählen würde, auf den zweiten Platz. Die gute Platzierung dürfte damit zusammenhängen, dass ich vorher schon über die Fallstricke des Wahl-O-Mat gelesen hatte, u.a. bei den Nachdenkseiten. Dadurch vermied ich u.a. die Falle, bei nicht zu beantwortenden oder unwichtigen Fragen auf „neutral“ zu klicken, anstatt auf „Frage überspringen“. „Neutral“ kann nämlich auf kaum zu durchschauende Weise zu Übereinstimmungen mit Positionen bestimmter Parteien führen, gerade bei schwer sinnvoll zu beantwortenden Fragen.
Zwischenfazit zum Wahl-O-Mat
Nach meiner Einschätzung ist der Wahl-O-Mat allenfalls für Wähler geeignet, die sich von den größeren Parteien nicht vertreten fühlen und wissen möchten, bei welchen der kleinen und unbekannten Parteien sich ein näherer Blick in deren Programm lohnen könnte.
Auch der Real-O-Mat führt in die Irre
Vom Projekt Frag den Staat gibt es eine im Prinzip interessante Alternative, den Real-O-Mat. Er basiert nicht auf Antworten der Parteien auf Fragen zur Programmatik, sondern auf dem Abstimmungsverhalten der Parteien. Es werden konkrete Entscheidungen des Bundestags aufgelistet. Wenn die jeweiligen Parteien mit Nein gestimmt haben, wird aufgrund ihrer Begründung unterschieden, ob ihnen der Vorschlag nicht weit genug oder zu weit ging. Das wird damit abgeglichen, ob dem Nutzer ein Vorschlag nicht weit genug oder zu weit geht, oder ob er zustimmt.
Diese Art der Fragestellung ist viel sinnvoller als die des Wahl-O-Mat, der bei Ablehnung eines Vorschlags nicht unterscheidet, ob er dem Nutzer zu weit oder nicht weit genug geht.
Bei möglichen Interessenkonflikten der Organisatoren, wird man auch hier fündig. Träger ist die Open Knowledge Foundation Deutschland e.V. Diese finanziert sich weit überwiegend durch Zuwendungen der öffentlichen Hand, also letztlich der Bundes- und Landesregierungen, die von den etablierten Parteien gestellt werden.
Problematisch ist, dass nur die im Bundestag vertretenen Parteien verglichen und herausgestellt werden. Denn nur bei diesen gibt es ein Abstimmungsverhalten. Diese Bevorzugung der Etablierten ist nicht zwangsläufig. Man könnte auch einen hybriden Ansatz wählen, bei dem die nicht im Bundestag vertretenen Parteien zum Beispiel gefragt werden, wie sie über die jeweiligen Anträge und Gesetze abgestimmt hätten, wenn sie im Bundestag gewesen wären. Das würde die Kleinparteien etwas privilegieren. Aber das wäre angemessen, da diese ohnehin durch die Fünfprozenthürde massiv benachteiligt werden.
Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass bei Parteien wie dem BSW, die nur einen Teil der Legislaturperiode im Bundestag vertreten waren, der Warnhinweis fehlt, dass das Ergebnis im Bezug auf sie grob verzerrt sein kann. Bei meinem Selbstversuch landete das BSW, dessen Mitglied ich bin, abgeschlagen an siebter und letzter Stelle. Woran das liegt, kann man in der Detailauswertung erkennen. Bei der Mehrzahl der abgeprüften „Thesen“ des Real-O-Mat wird das BSW nicht gewertet, weil es zum Zeitpunkt der jeweiligen Abstimmung noch nicht im Bundestag vertreten war. Das betrifft unter anderem die Anhebung des Mindestlohns, die Impfpflicht, die Vorratsdatenspeicherung, das Sondervermögen für die Bundeswehr und die Schuldenbremse, alles Themen, bei denen die Haltung des BSW glasklar ist und meiner entspricht.
Zwischenfazit zum Real-O-Mat
Der Real-O-Mat bevorzugt massiv die etablierten Parteien und benachteiligt das BSW auf sehr undurchsichtige Weise grob. Er ist nur geeignet für Wähler, die – etwa wegen der Fünfprozenthürde – auf Parteien mit Chance auf Einzug in den Bundestag festgelegt sind und das BSW entweder nicht in Betracht ziehen oder wissen, dass sie das Ergebnis in Bezug auf diese Partei nicht ernst nehmen dürfen.
Liste frageberechtigter Organisationen
Die Interessenvertreter von Wählergruppen, die von Wahl-O-Mat und Real-O-Mat schlecht bedient werden, könnten auf die Idee kommen, in Form von Wahlprüfsteinen die sie besonders interessierenden Fragen selbst an die Parteien zu stellen. Um diese Möglichkeit auf genehme Organisationen einzugrenzen, haben die sich „demokratisch“ nennenden Parteien CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke eine Liste allein frageberechtigter Organisationen verabredet. Diese sind in einem kritischen Beitrag von Netzpolitik.org vom 10. Januar aufgelistet.
Die SPD erklärt auf ihrer Netzseite zum Thema Wahlprüfstein:
„Angesichts der sehr verkürzten Zeitläufe in diesem Bundestagswahlkampf haben wir uns als SPD gemeinsam mit den anderen demokratischen Parteien im Bundestag auf ein einheitliches Verfahren für die Wahlprüfsteine geeinigt. Es besagt im Wesentlichen, dass wir dieses Mal nur Wahlprüfsteine von einigen wenigen vorab gemeinsam vereinbarten, die gesamte Breite des gesellschaftlichen Spektrums repräsentierenden Verbänden und Organisationen beantworten werden. Darüber hinaus bearbeiten die Parteien eine begrenzte Anzahl an Wahl-o-mat-Formaten, die ebenfalls gemeinsam vorab ausgewählt wurden.“
Das Verfahren, nach dem die Liste der 30 frageberechtigten Organisationen erstellt wurde, halten die Parteien geheim. Offenkundig durfte jede Partei ein paar ihr besonders nahestehende Organisationen aussuchen, auch wenn diese oft nicht gerade die Massen repräsentieren. Grüne und (oder) Linke zum Beispiel den Bund/Nabu, Pro Asyl, Oxfam, Seebrücke und den Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen. Auch Vetos waren wohl möglich. Sonst wäre schwer zu erklären, warum der extrem mitgliederstarke ADAC nicht dabei ist.
Von Branchen- und Unternehmensverbänden ist so ziemlich alles dabei, bis hin zum Deutschen Hanfverband, daneben einige Gewerkschaften und Sozialverbände. Damit hat es sich dann schon. Verbraucherschützer, Datenschützer, Bürgerrechtler und viele mehr fehlen völlig.
Svea Windwehr, Co-Vorsitzende des digitalpolitischen Vereins D64, kritisiert in dem Beitrag zurecht das Fehlen von Organisationen, die Bürgeranliegen wie Freiheit, und Privatsphäre vertreten: So werde es massiv erschwert, Wähler darüber zu informieren, wie sich die Parteien zu wichtigen Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Gesichtserkennung oder Digitalisierung des Gesundheitssystems positionieren. In Anbetracht des freiheits- und bürgerfeindlichen Agierens der Altparteien bei solchen Themen ist verständlich, dass sich Union und FDP lieber von Unternehmensverbänden, die SPD lieber von Sozialverbänden und die Grünen lieber von den (von ihren Ministern finanzierten) Organisationen der sogenannten Zivilgesellschaft befragen lassen. In Anbetracht der von Union und Linken im Kern mitgetragenen, desaströsen Verkehrspolitik der Ampel ist einleuchtend, dass sie Organisationen wie dem ADAC und Pro Bahn nicht gern Rede und Antwort stehen.
Organisationen mit Interesse an Digitalpolitik werden völlig draußen gehalten. Das ist in Anbetracht des hohen Gewichts, das die Ampelregierung der Digitalisierungsagenda gegeben hat, hochgradig verdächtig. Offenbar ist man sich nur zu bewusst, wie umstritten und bei vielen unbeliebt die digitale Abschottung der Behörden von den Bürgern, die Zwangsdigitalisierung des Gesundheitswesens und andere Formen des Digitalzwangs sind, zum Beispiel bei der Bahn. Zu diesem angeblichen Kernthema der Regierungspolitik will man sich lieber nicht befragen lassen, und auch Wahl-O-Mat und Real-O-Mat sparen es völlig aus.
Fazit
Regierung und Altparteien arbeiten intensiv und erfolgreich daran, die Auswahl der Themen und Positionierungen, über die im Wahlkampf debattiert wird und über die sich Wähler anhand von Wahlprüfsteinen und populären Computerprogrammen komfortabel informieren können, auf das einzugrenzen, was ihnen in den Kram passt und für sie unbequeme, bürgernahe Themen wie Corona-Maßnahmen, Privatsphäre und Bürgerrechte an den Rand zu drängen. Dafür scheuen sie nicht einmal vor der Bildung eines Informationskartells zur Abwehr von Informationsbegehren mitgliederstarker Organisationen zurück.