Dafür, dass es keine Cancel-Culture gibt, wurden in 6 Monaten ziemlich viele gecancelt

7. 08. 2023 | Am 8. Februar habe ich in meinem Cancel-Culture-Tagebuch den ersten Eintrag gemacht. Da umstritten ist, ob es wirklich eine Cancel-Culture gibt, lohnt sich nach einem halben Jahr eine Zwischenbilanz. Nur die gezählt, die mir auffielen, gab es in dieser Zeit pro Woche etwa eine Person, die wegen einer nicht genehmen Äußerung oder Position durch Verhinderung geplanter Vorträge oder künstlerischer Auftritte zum Schweigen gebracht wurde, oder mit unverhältnismäßig schweren Sanktionen bestraft oder bedroht wurde.

Ich habe mein Cancel-Culture-Tagebuch begonnen, als meine noch junge Rubrik „Kurz gemeldet“ immer wieder Einträge aufwies, die sich unter dieses Stichwort fassen ließen. Da immer wieder Menschen bezweifeln, dass es eine Cancel-Culture überhaupt gibt, oder dass sie ein Problem für die Meinungsfreiheit darstellt, entschloss ich mich, diese Kurzmeldungen separat zu archivieren.

Ich will Cancel-Culture hier einmal definieren als ein verbreitetes und oft mit Erfolg gekröntes Bestreben von Teilen der Gesellschaft, Menschen mit ihnen nicht genehmen Meinungen an öffentlichen Auftritten zu hindern oder mit unverhältnismäßig schweren Sanktionen zu belegen, also solchen, die weit über Missfallensäußerungen hinausgehen.

Während das Phänomen gemeinhin von der rechten Seite des politischen Spektrums beklagt und eher von der linken Seite geleugnet wird, zeigt mein Tagebuch, dass es beide Seiten betrifft. Allerdings werden die gecancelten Linken von anderen vermeintlich Linken oft als „rechts“ verschrien, weil sie Meinungen vertreten, die von dem abweichen, was heute als progressiv gilt.

Der in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub hat in seinem Buch „Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst“ die Diagnose Cancel-Culture als unzulässige Verallgemeinerung von wenigen Einzelfällen eingestuft. Wie die Auflistung unten zeigt, handelt es sich aber keinesfalls um Einzelfälle. Sondern um etwas, womit Menschen zu rechnen haben, die sich gegen Corona-Maßnahmen, für Frieden oder gegen die vorherrschende Meinung in der Klimapolitik und -Wissenschaft positionieren, und alle, die Veranstaltungen mit diesen machen wollen.

Die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski delegitimiert den Cancel-Vorwurf damit, dass diejenigen sich so in eine Opferrolle begäben, die für rassistische oder anstisemitische Äußerungen Gegenwind bekommen. Wer möchte, kann über die unten angebotenen Links überprüfen, wie wenig es braucht, um des Rassismus oder des Antisemitismus bezichtigt zu werden und wie konstruiert die Vorwürfe oft sind. Denn die unstreitigen Antisemiten und Rassisten werden von Veranstaltern, auf die selbsternannte Tugendwächter gemeinhin Druck ausüben können, ohnehin nicht eingeladen.

Es kann für das Triggern von Antirassisten reichen, wenn dunkelhäutige Künstler zur Aufarbeitung selbst erfahrener Diskriminierung das Wort „Neger“ aus einem Kinderreim zitieren. Und schon wenn man auf einen Rechtsruck in Israel hinweist, gegen den dort massenhaft demonstriert wird, oder die Behandlung der Palästinenser durch Israel kritisiert, kann man als Antisemit verunglimpft und gecancelt werden. Oft besteht das Vergehen auch nur in einer Abweichung von der – fast immer von der Regierung befürworteten -, vorherrschenden Meinung, was dann als „rechts“ bezeichnet wird.

Gegenwehr kaum möglich

Besonders perfide ist, dass Veranstaltungsabsagen oft darauf zurückgehen, dass von einer selbsternannten Sittenpolizei koordiniert Druck auf Veranstalter ausgeübt wird, wobei die Initiatioren oft anonym bleiben oder sich in der Masse verstecken. Wenn das oft genug vorkommt, werden viele Veranstalter von vornherein darauf verzichten, bestimmte Wissenschaftler, Journalisten oder Künstler zu Vorträgen oder Ausstellungen einzuladen, um sich keinen geschäfts- oder rufschädigenden Ärger einzuhandeln. Davon erfährt dann niemand mehr.

Besonders deutlich hat das Dilemma von Veranstaltern vor Kurzem der Professor gemacht, der eine Einladung zum Vortrag an den Historiker Egon Flaig auf Druck von diffuser Seite „mit großem Bedauern“ zurücknahm, um Schaden von seinen Mitarbeitern abzuwenden. An der Uni übernimmt niemand die Verantwortung für die Ausladung und die Beteiligten verweigern eine Begründung. Sie verstecken sich stattdessen hinter einem behaupteten Konsens.

Hier nun eine Liste der Gecancelten der letzten sechs Monate auf die ich aufmerksam wurde, mit dem (nicht immer explizit geäußerten) Vorwurf, in chronologischer Reihenfolge seit Februar:

Roger Waters, Sänger. Antisemitismus. Versuchte Konzertverhinderungen (1, 2)

Daniele Ganser, Historiker. Putinversteher. Versuchte Vortragsverhinderungen (1, 2)

Uwe Steimle, Kabarettist. „Deutschland besetztes Land“; „Keine Meinungsfreiheit“. Versuchte Auftrittsverhinderung

Samuel Becket, Autor von „Warten auf Godot“. Frauenausschluss. Aufführungsverbot

Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin. Falsche Meinungen zu Corona und Ukraine. Kündigung durch Uni Bonn wg. Plagiarismus

Scott Adams, Autor von „Dilbert“. Kritik an schwarzem Rassismus ggü. Weißen. Massenhafte Vertragskündigungen

Boris Reitschuster, Blogger. Falsche Meinungen zu Corona u.a. Schikanen durch Polizei und Justiz wg. angeblicher gefährdenden Identifizierung

Richie Allen, Show-Host. Einladung von maskenkritischem Wissenschaftler. Sperre durch Microsoft

Alina Lipp, Journalistin. Ukraine-Berichte. Vortragsverhinderung

Claire Fox, Oberhausabgeordnete. Verbreitung transunsensiblen Witzes. Vortragsabsage

We want our world back, Kongress. Kapitalismuskritik. Räume entzogen

Miriam Block, Hamburger Grünen-Abgeordnete. Stimmte für Untersuchungsausschuss NSU. Entzug aller Ämter

Patrik Baab, Journalist. Berichte aus Ukraine. Versuchte Vertragskündigung durch Uni Kiel

Jill Sandjaja , Künstlerin, C.-Maßnahmenkritik. Ausstellungsabsage

David Richardson, US-Geschichtsprofessor. Witz mit Nüssen. Suspendierung durch Uni

Guérot, Baab, Bhakdi, Meyen, Wissenschaftler. Kritische Äußerungen zu C.-Maßnahmen und Ukraine. Massenmediale Hinrichtung und Entlassungsforderung

Marie-Luise Vollbrecht, Biologie-Doktorandin. „Es gibt (nur) zwei biologische Geschlechter“. Vortragsabsage

Bibiana Malay und Grit Díaz de Arce, dunkelhäutige Künstlerinnen. N-Wort ausgesprochen. Performance-Absage

Steffen Hentrich, FDP-Klimareferent. Verbreitung nicht genehmer Klimainformationen. Massenmediale Hinrichtung und Entlassungsforderung

Oh, Jeremy Corbyn, Film. Verteidigung von Jeremy Corbyn. Streichung vom Glastonbury Festival of Contemporary Performing Arts

Jakob Reimann, Journalist. Bericht über Rechtsruck in Israel. Vortragsabsage

Michael Meyen, Medienwissenschaflter. C.-Maßnahmenkritik. Disziplinarverfahren durch Uni München

John Clauser Physik-Nobelpreisträger, nicht genehme Aussagen zur Klimakrise, Vortragsabsage

Florian Warweg, Redakteur Nachdenkseiten. Frühere Mitarbeit bei RT. Versuchter Ausschluss von Bundespressekonferenz

Egon Flaig, Historiker. Hinweis auf weiße Sklaven und schwarze Sklavenhalter. Vortragsabsage

Tarik Cyril Amar, Geschichtsprofessor Columbia University. Warnung vor atomarer Eskalation des Ukraine-Kriegs. Dauerhafte Twitter-Sperre.

Achgut-Verlag. Verlegen umstrittener Bücher.  Buch „Land ohne Mut“ von Frankfurter Buchmesse verbannt

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