Wissenschaftlicher Betrug und die Komplizenschaft von Medien und Wissenschaftsbetrieb

Britische Bildungsökonomen haben eine Studie verfasst und über angesehene Publikationskanäle verbreitet, wonach hohe Studiengebühren nicht nur den Universitäten viel Geld bringen, sondern auch die Chancengleichheit von Arm und Reich fördern. Auf zentrale Fehler hingewiesen, wollen sie diese nicht korrigieren. Auch die Medien bekleckern sich nicht mit Ruhm.

Studiengebühren hatten in Deutschland ein kurzes Leben. Ab 2006 führten die meisten westdeutschen Bundesländer sie ein, bis 2014 waren sie alle wieder abgeschafft. Die Wähler wollten sie nicht. Ganz anders in Großbritannien. Dort wurden Studiengebühren schon 1999 eingeführt und im Verlauf der folgenden 15 Jahre sehr steil nach oben gezogen. Es ging los mit 1 000 Pfund pro Jahr nur für Studenten mit betuchten Eltern. 2006 wurden sie auf 3000 Pfund verdreifacht und verallgemeinert, 2012 wurden sie nochmals auf 9000 Pfund (10.000 Euro nach heutigem Kurs) erhöht.

Inzwischen sind es 9250 Pfund. Allerdings werden automatisch in gleicher Höhe Studienkredite gewährt. Zusätzlich gibt es Kredite für den Lebensunterhalt. Die Studenten müssen die Kredite, durchschnittlich sind es 50.000 Pfund, später nur zurückzahlen, wenn und soweit ihr Einkommen ein Mindestniveau übertrifft.

Und das alles ohne die in Deutschland befürchteten negativen Auswirkungen auf die Bildungschancen junger Menschen aus ärmeren Schichten, wie eine aktuelle Studie von drei britischen Bildungsökonomen behauptet. Sie wurde in der renommierten Reihe NBER Working Papers publiziert und von den Autoren über weitere Kanäle bekannt gemacht. Damit greifen sie in eine hitzige Diskussion um hohe Studiengebühren in den USA und Großbritannien ein. Neben Bernie Sanders im US-Vorwahlkampf und dem britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn bei den letzten Wahlen fordert nun auch einer der Architekten des britischen Systems, Blair-Berater Andrew Adonis, die Gebühren abzuschaffen.

Locken Gebühren Arme an die Uni?

Richard Murphy, Judith Scott-Clayton und Gillian Wyness haben in „The End of Free College in England: Implications for Quality, Enrolments and Equity“ untersucht, wie sich die Studentenzahlen und die Struktur der Studenten im Zuge der Einführung und der kräftigen Anhebung der Gebühren entwickelt haben. Die implizite Subvention in Form eines kostenlosen Studiums sei vorher vor allem von Sprösslingen aus besserem Hause abgegriffen worden, argumentieren sie, von denen ein weit höherer und wachsender Anteil studiert habe. Nach Einführung der Studiengebühren habe sich das umgekehrt. Sie schreiben:

Die Studienquote junger Menschen aus den Familien mit den niedrigsten Einkommen ist zwischen 1997 und 2015 am stärksten gestiegen und hat sich von rund zehn Prozent auf 20 Prozent annähernd verdoppelt.

War Deutschland also vorschnell mit der Abschaffung der Studiengebühren? Haben die britischen Schüler und Studenten, die gegen Studiengebühren auf die Straße gehen, Unrecht? Man könnte in Anbetracht der Ergebnisse von Murphy, Scott-Clayton und Wyness den Verdacht haben, es wären die bessergestellten Studenten, die den Protest tragen, weil sie ihre Studienkredite später am ehesten werden zurückzahlen müssen. Auch in die deutsche Diskussion fand das Papier Eingang, zum Beispiel in Form eines mit „Keine Angst vor Studiengebühren“ betitelten Beitrags in Fazit, dem Wirtschaftsblog der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Doch die Studie zeigt ganz offenkkundig nicht, was die Autoren behaupten. Eher zeigt sie ein anderes Problem auf. Heutzutage werden wissenschaftliche Aufsätze meist weit vor einer geprüften Veröffentlichung als ungeprüfte Arbeitspapiere weit verbreitet. Bis ein Gutachter einer Fachzeitschrift irgendwann vielleicht einen fundamentalen Fehler feststellt, hat die falsche Schlussfolgerung ihre Wirkung lange getan.

Die Kernaussage der drei Autoren, dass sich die Studienquoten von reichen und armen Haushalten angeglichen hätten, ist falsch. Aus einer Grafik, die sie mitliefern, kann man ablesen, dass sich die Quote der ärmeren Studenten nicht wie behauptet zwischen 1997 und 2015 verdoppelt, sondern nur leicht von etwa elf auf rund 13 Prozent erhöht hat. In der Mitte und am oberen Ende der Einkommensverteilung hat sich die Quote stärker erhöht. Die Kluft zwischen Arm und Reich ging also weiter auseinander. Auch auf dem viel gelesenen wirtschaftspolitischen Portal Vox des Forschungsinstituts CEPR machten die drei noch im Oktober 2017, vier Wochen nach Veröffentlichung des NBER-Arbeitspapiers, mit der falschen Aussage Stimmung für Studiengebühren.

Vernebeln und Täuschen

Auf Anfrage räumte Gillian Wyness den Fehler ein. Die Aussage beziehe sich eigentlich auf eine andere Grafik mit anderer Datengrundlage, die irrtümlich nicht mit abgedruckt worden sei. Sie verweist auf ihren im Dezember veröffentlichten Beitrag auf dem bildungspolitischen Weblog WonkHE  „Up, up and away, the era of high tuition fees„, den sie im Dezember nachgeschoben hat. Darin fasst sie  die Studie der drei nochmals zusammen und führt die angeblich herausgefallene Grafik ein. Sie beruht auf Daten der Zuteilungsstelle UCAS und zeigt tatsächlich einen Anstieg von zehn Prozent auf 20 Prozent in der untersten Zeitreihe, von der man annehmen soll, dass es die ärmsten Studenten sind. Allerdings bezieht sie sich auf einen anderen Zeitraum und auf eine ganz andere Gruppe. Der Text im NBER-Arbeitspapier kann sich also unmöglich darauf beziehen. Die Grafik zeigt die Entwicklung der Studierendenquote in dem Fünftel der Regionen mit den geringsten Studierendenquoten von 2004 bis 2016. Das merkt aber nur, wer den Fußnoten und Grafikunterschriften in die Orignalquelle der Daten folgt. Alle anderen werden in dem Glauben gelassen, es gehe um arme Haushalte versus reiche Haushalte. Wyness schreibt in dem Beitrag grob irreführend, die Grafik zeige, dass „der Anteil der Studenten aus dem am stärksten benachteiligten Fünftel der Haushalte“ sich etwa verdoppelt habe.

Fehlerkorrektur unnötig

Eine Korrektur der falschen Aussagen im NBER-Arbeitspapier und bei Vox sei nicht nötig, erwiderte Wyness auf Anfrage. Es handele sich um vorläufige Ergebnisse. Bei einer Publikation in einer Zeitschrift werde man die Datenquellen und deren Aussagegehalt diskutieren. Oxford-Professor Richard Baldwin, Chefredakteur von Vox, wollte nach dem Hinweis auf den eingeräumten Fehler und den vermuteten wissenschaftlichen Betrug keine Stellung dazu nehmen, ob eine Korrektur oder eine Rücknahme des Vox-Beitrags angezeigt sei. Der Beitrag wurde 12 000-mal gelesen. Er ist bis heute unkorrigiert.

NBER-Chef James Poterba dagegen reagierte prompt auf den Hinweis. Er veranlasste die Autoren, eine revidierte Version des Arbeitspapiers bei NBER einzustellen. Doch auch darin wurde die zum Beleg der These eingefügte neue Grafik wiederum grob verzerrt interpretiert, indem Daten zu Regionen in Daten zu unterschiedlich gut situierten Haushalten umgedeutet wurden. Darauf hingewiesen veranlasste Poterba eine neuerliche Revision der Studie. Diese Version vom 15. Februar enthält im Abstract unverändert die nun völlig unbelegte Schlussfolgerung, die Studiengebühren hätten die Gleichheit nach Einkommen beim Universitätszugang gefördert. Poterba wurde hierauf hingewiesen.

Ein mit dem NBER Arbeitspapier identisches, ebenfalls im Oktober 2017 veröffentlichtes Arbeitspapier des Centre fo Economic Performance (CEP) der London School of Economics an Political Science korrigierten die Autoren nicht aus eigenem Antrieb. Als ich im Ende Februar CEP Direktor Stephen Machin auf den eingeräumten Fehler in dem Papier hinwies, wurde auch dort die revidierte NBER-Version vom 15. Februar eingestellt, ebenfalls mit dem falschen Abstract.  

Keine Täuschungsabsicht

Wyness bestritt auf Nachfrage eine Täuschungsabsicht und verwies auf die zwischenzeitliche Revision des NBER-Arbeitspapiers. Den viel gelesenen und von den Medien breit aufgegriffenen Beitrag auf Vox korrigierten die Autoren trotz des eingeräumten Fehlers beim Beleg der zentralen Botschaft nicht. Ebensowenig korrigierten sie den täuschenden Beitrag auf dem Blog WonkHE.

Warum die drei Autoren sich solch fragwürdige Mühe geben, zu einem Urteil pro Studiengebühren zu kommen, ist nicht schwer zu erraten. Der letzte Satz des Blogbeitrags von Wyness lautet: „Wir belegen zumindest, dass sich die finanzielle Situation der Universitäten dramatisch verbessert hat, während ein etwaiger Schaden für typische Studenten minimal war.“

Keine Fehlerkorrektur in den Medien

Insgesamt war die Täuschungsaktion ein voller Erfolg, obwohl sie aufflog – jedenfalls wenn man den Reputationsschaden für die Autoren unberücksichtigt lässt. Der vielgelesene Vox-Beitrag musste nicht korrgiert werden. Das NBER Working Paper hat immer noch die falsche Behauptung im Abstract. Vor allem wurde der falsche Befund in der hitzigen Debate um Studiengebühren von den Medien breit rezipiert, vom Massenblatt Daily Mail bis Forbes und Boomberg, wo der bekannte Ökonomieblogger Noah Smith eine Kolumne dazu schrieb. Ich wies Forbes, die Autorin des Beitrags in Daily Mail und Noah Smith, sowie einen zuständigen Redakteur von Bloomberg auf den inzwischen eingeräumten und korrigierten Fehler der Studienautoren beim Beleg der zentralen These hin. Es ab keine Reaktion und keine Korrekturen. Auch der Beitrag auf Fazit ist unkorrigiert geblieben.

Wissenschaftlicher Betrug funktoniert offenbar, zumindest wenn das Ergebnis mächtige Vorurteile und Interessen stützt. Das Ganze ist mehr als ein Armutszeugnis für die Autoren der Studie, für Richard Baldwin und Vox, für Daily Mail, Forbes, Bloomberg und Noah Smith. Mit Einschränkungen gilt das auch für James Poterba und NBER, sowie Stephen Machin und CEP, die immerhin auf Hinweise reagierten. Allerdings taten sie nur das Allernötigste. Angemessen wäre es gewesen, wenn sie mindestens auch den nicht mehr belegten Abstract hätten korrigieren lassen und die Revision der zentralen These auch deutlich gemacht hätten.

Eine englische Version dieses Beitrags ist vor kurzem in WEA Commentaries erschienen.

[20.3.2018]

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