Stimmt es wirklich, liebe Marshmallow-Psychologen,…

 …dass man lernen muss Selbstkontrolle zu üben, um Erfolg zu haben? Oder ist das vielleicht nur ein klassischer Fall dessen was die Statistiker „Omitted Variable Bias“ nennen. In einer sehr farbig geschriebenen Titelstory  des Wirtschaftsteils der „Zeit“ präsentieren Kirstin Bund und Kolja Rudzio die Ergebnisse einer Forschungsrichtung, die sich mit Selbstkontrolle und Erfolg beschäftigt. Anlass ist das Buch „The Marshmallow-Test: Mastering Self-Control“ das der  Psychologieprofessor

Walter Mischel, vor kurzem mit durchschlagendem Erfolg in den USA veröffentlicht hat.

 Mischel hat seinen Ruf mit diesem Test begründet, den er erstmals in den 1960er Jahren mit Kindergartenkindern durchführte. Dabei werden die Kinder an einen Tisch gesetzt, auf dem eine Süßigkeit steht (damals ein Marshmallow) und bekommen gesagt, sie sollen auf dem Stuhl sitzen bleiben, bis der Betreuer wiederkommt. Sie dürfen den Marshmallow essen, aber für den Fall, dass sie es schaffen, damit bis zur Rückkehr des Betreuers zu warten, bekommen sie einen zweiten versprochen.

 Mischel und andere meinen mit diesen Tests ein Geheimnis des Erfolgs herausgefunden zu haben. Geduld und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle seien ebenso wichtig für späteren Erfolg wie Intelligenz.

 Die Zeit-Autoren stellen eine entscheidende Frage: Was ist in diesem Zusammenhang Erfolg? Gemessen wird der spätere ökonomische Erfolg. Aber sind die erfolgreichen Selbstkontrolleure auch glücklicher? Können sie genießen? Sind sie kreativ und humorvoll? Haben andere Leute Freude daran, mit ihnen Zeit zu verbringen, oder sind sie einsam? Bund und Rudzio liefern Beispiele, bei denen das Gegenteil der Fall ist. Man muss sich auch nur das Video eines dieser Test anschauen um Zweifel zu bekommen. Da quält sich ein kleiner Junge erkennbar durch die Wartetortur, haut sich links und rechts gegen den Kopf, und bekommt dann den zweiten Marshmallow – nur um beide auf einmal in den Mund zu schieben und in Rekordzeit hinunterzuschlucken. Ob das wirklich so eine tolle Erfahrung für ihn war.

 Aber eine andere, wichtige Frage stellen die Zeit-Autoren nicht und springen deshalb deutlich zu kurz. Sie akzeptieren, dass es hilft, Geduld und Selbstkontrolle einzuüben. Man dürfe es bloß nicht übertreiben damit, sonst landet man leicht im Burnout-Sanatorium.

 Das ist für gute Psychologen zwar nichts Neues, aber doch eine viel originellere Erkenntnis als das, was Mr. Mischel abliefert. Wie ein Buchrezensent treffend bemerkt, sind die herausgestellten Zusammenhänge von Geduld, Selbstkontrolle und Erfolg nur experimentell abgestützte Binsenweisheiten, die jedem seine Oma schon kannte und von sich gab.

 Und dann ist das, was Mischel daraus macht auch noch irreführend. Er zeigt nämlich, „wie Selbstkontrolle erlernt werden kann, und angewandt auf Herausforderungen  des täglichen Lebens“, von gesundheitlicher Selbstoptimierung bis zum Sparen für die Rente.“ Er verspricht auch „tiefgreifende Konsequenzen für Eltern, Erzieher, die Politik.“

 Bevor Sie dieses Buch lesen und sich selbst oder ihre Kinder grausamen Übungen aussetzen wie in dem Video, halten sie kurz inne und denken über Statistik nach. Wenn Kinder, die ihre Begehren gut kontrollieren können statistisch gesehen später wahrscheinlich erfolgreicher sind, bedeutet das wirklich, dass es erfolgreicher macht, Selbstkontrolle zu lernen oder zu üben? Das Ergebnis könnte Zufall sein, aber das glaube ich eher nicht.

 Das Ergebnis könnte aber auch eine Folge des Omitted Variable Bias sein. Ich bin ziemlich sicher, dass der hier eine große Rolle spielt. Die „Verzerrung durch vernachlässigte Variablen“ entsteht, wenn das was man für ursächlich hält, selbst nur die Folge der eigentlichen Ursache ist. So wie wenn man aus der Tatsache, dass größere Kinder mehr können als kleine schließt, dass Wachstumshormone Kinder intelligenter und allgemein fähiger machen würden. Das Größenwachstum ist in diesem Fall aber nur die Folge der vernachlässigten Variablen, der Tatsache, dass die Kinder älter werden und sich entwickeln. Lässt man das in der statistischen Betrachtung außen vor, kommt man zu irreführenden bis absurden Schlussfolgerungen.

 In dem Zeit-Beitrag kommt der ausgiebig zitierte experimentelle Wirtschaftsforscher Matthias Sutter der Sache schon sehr nahe. Er hat mit seinen Experimenten festgestellt, dass Kinder aus einem intakten Elternhaus mit einem erfolgreichen Vater und einer Mutter, die Zeit für sie hat, mehr Selbstkontrolle haben als Kinder aus zerrüttetem Elternhaus mit psychisch nicht ganz gesunden Eltern, die immer befürchten müssen, zu kurz zu kommen und sich nie auf das verlassen können, was gesagt und versprochen wird. Denn, so hat Sutter eine schon ziemlich alte Erkenntnis der Psychologie mit seinen Experimenten entdeckt: nur Kinder, dies das Vertrauen entwickeln konnten, dass sie tatsächlich später das Versprochene bekommen in dem Marshmallow-Test „gut“ abschneiden. Aber diese Kinder sind auch diejenigen, die wegen ihrer behüteten Kindheit und guten Erziehung gute  Chancen haben, später erfolgreich zu sein.

 Warum dann auch Sutter trotz dieser Erkenntnisse den naheliegenden Fehlschluss zu ziehen scheint, dass man für Abhilfe Dinge tun sollte wie etwa in der Schule das Fach Geduld und Selbstkontrolle einführen sollte, und alles wird besser, ist ein bisschen schleierhaft. Vielleicht werden Kinder aus zerrütteten Familien mit psychisch belasteten Eltern durch Selbstkontroll-Training tatsächlich erfolgreicher als ohne. Aber wenn es Kandidaten für das Burnout-Syndrom gibt, dann dürften sie es sein.

 Warum schlagen Mischel und Sutter nicht lieber vor, dass man etwas dafür tun sollte, dass möglichst viele Kinder in intakten Familien aufwachsen, materiell halbwegs ausgestattet, mit einem oder mehreren Ernährern, die keine große Angst um ihren Job haben müssen, mit Müttern oder Vätern, die Zeit für sie haben, mit Erziehungsberatung und psychologischer Hilfe für alle Eltern, die sie brauchen?

 Und wenn es schief gegangen ist, was in einigen Familien auch unter günstigeren gesellschaftlichen Bedingungen vorkommen wird, dann wäre die bessere Variante in den meisten Fällen nicht, einem Erwachsenen, der als Kind zu kurz gekommen ist, beibringen zu wollen dass er sich kurz halten soll um etwas zu erreichen. Viel erfolgversprechender ist es, ihm oder ihr psychologische Hilfe angedeihen zu lassen, die ihr Selbstvertrauen stärkt. Diese Kinder haben dann nicht nur eine gute Chance bei dem erfolgreich zu sein, was sie erreichen wollen, sondern auch zu wissen was sie erreichen wollen sollten um glücklich zu sein.

 Das ist auch die Richtung in die Kentaro Fujita  in einem Aufsatz in Personality and Social Psychology Review argumentiert. „Selbstkontrolle ist mehr als die mit Anstrengungen verbundene Unterdrückung von Impulsen“ lautet übersetzt der programmatische Titel.  Fujita stellt fest, dass es um die Abwägung von konkurrierenden langfristigen und kurzfristigen Wünschen geht. Diese Balance kann man verändern, indem man die kurzfristigen Wünsche unterdrückt. Man kann sie aber auch verändern indem man die langfristigen Wünsche stärkt, zum Beispiel durch Stärkung des Vertrauens in deren Erreichbarkeit.

  Es gibt noch ein Argument gegen anstrengende Selbstkontroll-Übungen. Es hat mit dem Jungen zu tun, der beide Marshmallows gleichzeitig verschlingt. Die Psychologen  Roy  Baumeister  Jessica Alquist weisen in einem wissenschaftlichen Aufsatz darauf hin, dass Selbstkontrolle eine knappe Ressource ist. Wer seine Selbstkontrolle aufbraucht beim Versuch den Marshmallow vor sich stehen zu lassen, hat vielleicht wenig davon, wenn er am Ende nicht einmal mehr genug Selbstkontrolle hat, um langsam genug zu essen, damit er den zweiten überhaupt genießen kann. Wer ein Problem mit der Selbstkontrolle hat, der schafft es vielleicht, bei vielen Kleinigkeiten, sich die sofortige Befriedigung zu versagen. Aber die Gefahr ist hoch, dass dies seinen Wunsch noch verstärkt, auch einmal spontan sein zu wollen. Und das kann genau dann durchschlagen, wenn Selbstkontrolle besonders wichtig wäre.

 Fazit: Wachstumshormone sorgen nicht für mehr Intelligenz und größer Fähigkeiten, auch wenn naiv interpretierte statistische Untersuchungen und Experimente das nahelegen würden. Oder um es mit H.L. Mencken zu sagen. Es gibt für jedes komplexe Problem der Menschheit eine einfache Lösung: die klar, plausibel und falsch ist.  

Print Friendly, PDF & Email

Antworten auf

  1. Pingback: briansclub
  2. Pingback: this contact form

Dieser Kommentarbereich ist geschlossen.