Nachdem zunächst Heiner Flassbeck das Buch „Der Sektor“ von Michael Hudson verrissen hat, erklärtermaßen ohne es gelesen zu haben, und ich dem meine positive Rezension des Buches (plus Nachtrag zur Rolle der Nachfrage) entgegengehalten habe, reitet nun Christoph Stein auf Makroskop zur Verteidigung des angegriffenen Finanzsektors in den Feldzug gegen Hudson.
Die Kritik Steins läuft im Kern darauf hinaus, dass es keine keynesianische Analyse sei, die Hudson da vorstellt. Recht hat er. Stein zitiert Hudsons Darstellung des Grundproblems vom Ende des Buches:
„Das politische Problem, das Schuldenabschreibungen verhindert, besteht darin, dass „die Schulden der einen Partei (hauptsächlich der 99 Prozent) die Ersparnisse der anderen sind. Es ist nicht möglich, Schulden auf der Passiva-Seite der Bilanz zu annullieren, ohne Ersparnisse auf der Aktiva-Seite zu vernichten. Solange „Ersparnisse“ (hauptsächlich des Einen Prozent) die Form von Forderungen gegen den Rest der Gesellschaft annehmen, werden sie exponentiell ansteigen und die 99 Prozent in einer sich vertiefenden Schuldknechtschaft halten, während das Eine Prozent den Überschuss monopolisiert, und zwar in einer Weise, die die Wirtschaft schrumpfen lässt.“ (S. 569)
Das sei „eine in jeder Hinsicht dystopische Vision“ ist alles, was er dazu zu sagen hat. Dann kommt das, was er offenbar für eine Gegenargumentation hält.
„Da es bei Michael Hudson um Schuldverhältnisse und irgendwie auch um eine Bilanzbetrachtung geht, betrachte ich im Folgenden die Sektorbilanz der USA, also die aggregierten Verschuldungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren, den privaten Haushalten, den privaten Unternehmen, dem Staat und dem Ausland.“
Die Veränderungen in dieser Sektorbilanz über die Jahrzehnte werden dann ausgiebig dargestellt, ohne allerdings, wie versprochen, einen Versuch zu unternehmen, sie irgendwie in Zusammenhang mit Hudsons Analyse zu stellen, also „nach Spuren von Hudsons Gläubigerklasse zu suchen“. Stattdessen folgt das Verdikt:
„Ich habe die Sektorbilanz der USA seit 1975 so ausführlich kommentiert, um dem Leser vorzustellen, dass die Verschuldungssituation der USA in den letzten Jahrzehnten teilweise dramatische Wandlungen durchlebt hat. Von dieser wechselvollen Geschichte erfährt man bei Michael Hudson so gut wie nichts. Das analytische Instrument der Sektorbilanzen findet man bei Michael Hudson an keiner Stelle des Buches, was einigermaßen erstaunlich ist. Hudson arbeitet am Department of Economics der University of Missouri-Kansas City als Research Professor, in derselben Fakultät, in der auch L. Randall Wray und Stephanie Kelton lehren, zwei führende Theoretiker der Modern Money Theorie (MMT). In der MMT sind Sektorbilanzen ein selbstverständliches Analyseinstrument. Dass an Hudson dieses Instrumentarium vorbei gegangen ist, ist umso mehr verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Hudson zusammen mit Wray ein Buch herausgegeben hat und Hudson Wray in seinem Buch mehrfach erwähnt.“
Das ist also die Hauptkritik an Hudsons Buch: Dass es darin keine Sektorbilanzen gibt. Es ist eine Kritik, die stark darauf hindeutet, dass Stein das Buch nicht gelesen hat. Denn Hudson verwendet einige Seiten darauf, darzustellen und zu kritisieren, dass es dem Finanzsektor gelungen ist, sich durch entsprechende Ausgestaltung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung unsichtbar zu machen und die Extraktion von Renten als produktive Tätigkeit erscheinen zu lassen. Der „Sektor“ taucht in der Sektorbilanz nicht auf. Sie ist daher für Hudsons Analyse kaum brauchbar. Spuren von Hudsons Argumenten hätte man aber durchaus finden können, wenn man danach gesucht hätte. So gibt es genügend Analysten, bis hin zum Internationalen Währungsfonds, die die dargestellte Verschuldung der privaten Haushalte ab der Jahrtausendwende mit der massiven Konzentration der Einkommen und Vermögen bei Hudsons oberstem Prozent in Zusammenhang bringen.
Randall Wray ist übrigens noch giftiger als Flassbeck und Co., wenn es darum geht, Kritiker des „Sektors“ anzugreifen und zu Scharlatanen zu erklären.
„Auch andere analytische Instrumente sucht man bei Hudson vergeblich“, schreibt Stein und meint damit ausgerechnet die von Hudson ausgiebig durchexerzierte Analyse der Rente im Sinne eines leistungslosen Einkommens. Stein will aber gar nicht sagen, was er sagt, sondern kritisiert nur, dass Hudson den Begriff der „Rente“ nicht erfunden habe. Auch da hat er Recht und liegt doch voll daneben. Wenn ich mit jemand über die Rentenextraktionsthese reden will, und sei es mit distinguierten Ökonomen, muss ich ganz von vorne anfangen und ernte meist irgendetwas zwischen Unverständnis und Widerwillen. Schon als ich studierte, wurden die Besonderheiten von Grundrente und ähnlichen leistungslosen Einkommen allenfalls noch rudimentär gelehrt. Ich habe mehr davon nur im Rahmen meines Vertiefungsfachs Regionalökonomie erfahren. Seither ist das mit Sicherheit nicht besser geworden. Auch Stein hält es nicht für nötig, auf dieses Konzept und seine große Bedeutung für Hudsons Thema in der Sache einzugehen.
Auf meine Argumente für Hudsons Thesen und deren Vereinbarkeit mit keynesianischem Denken geht Stein in keiner Weise ein, obwohl er die Diskussion zwischen Flassbeck und mir in der Einleitung seines Beitrags ausdrücklich zum Ausgangspunkt nimmt. Das ist erstaunlich.
Zum Schluss, ohne dass Stein auf irgendein Argument Hudsons eingegangen wäre, kommt dann der Knockout, mit dem er ihn zum pseudoökonomischen Scharlatan erklärt:
„Hudson entwickelt also keine ökonomische Theorie im eigentlichen Sinn, er entwirft eine apokalyptische ökonomische Untergangsvision. Apokalyptische Visionen haben in der europäischen Geschichte ihren festen Platz. In früheren Jahrhunderten trieben sie manch eine religiöse Sekte zu Wahnsinnstaten. In unserer postmodernen Kultur sind sie weit verbreitet: in der Unterhaltungsliteratur, in den Katastrophenfilmen aus Hollywood, in Videospielen, in der Popmusik. Hier mögen sie ihren gewissen Unterhaltungswert haben. Ich sehe jedoch wenig Sinn darin, dieses Genre innerhalb der Wirtschaftswissenschaften zu betreiben.“
Mit Verlaub, das ist mehr als dreist. Natürlich entwickelt Hudson ausführlich eine Theorie: die Rentenextraktionstheorie. Nur weil Stein dazu nichts zu sagen weiß, außer dass Hudson sie nicht selbst erfunden hat, heißt das noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.
Liebe Keynesianer, ich habe nichts gegen Eure Analyse. Sie leistet für einige sehr wichtige Fragen sehr gute Dienste. Aber ich frage gerne noch einmal: „Warum werdet Ihr regelmäßig so überaus giftig, wenn jemand die Machtfragen thematisiert, die in Eurer Analyse keinen Platz haben, und das Wirken des Finanzsektor grundlegend kritisiert?