Erstmals durfte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz seinen Namen mit auf das Deckblatt eines Präsidentenberichts zur Fortentwicklung der Währungsunion setzen. Er gab seinen Namen, um ein zutiefst undemokratischen Plan ein demokratisches Mäntelchen überzuhängen und missachtete dabei den Willen des EU-Parlaments.
Zur Vorgeschichte: Es gab schon einen Vierpräsidentenbericht, veröffentlicht 2012, bei dem der Präsident des ohnmächtigen EU-Parlaments nicht dabei war. Und auch diesmal hielt ursprünglich niemand das Parlament für wichtig genug, um bei der Weiterentwicklung der EU mitzureden. Der Euro-Gipfel am 24. Oktober 2014 beauftragte den Präsidenten derEU-Kommission wieder nur in Abstimmung mit den Präsidenten von Eurogruppe, EU-Rat und EZB, einen weiteren Bericht über die „Komplettierung“ der Währungsunion zu schreiben. Irgendwann nach dem 12. Februar 2015 kam Juncker dann auf die Idee, Parlamentspräsident Schulz beizuziehen und die anderen drei hatten nichts dagegen, weil Schulz so handzahm ist. Bei der Abfassung der „Analytical Note“, die Juncker, Ratspräsident Tusk, EZB-Präsident Draghi, und Eurogruppenchef Dijsselbloem dem informellen EU-Gipfel am 12. Februar 2015 präsentierten, war Schulz noch nicht beteiligt. Die vier anderen setzten allein die Agenda des Berichts, indem sie die Ausgangslage und die Probleme der Währungsunion beschrieben.
Noch in einem Papier der Kommission vom 21. April 2015 ist von den „vier Präsidenten und dem Präsidenten des EU-Parlaments“ die Rede. Da er das fünfte Rad am Wagen darstellt, wir Schulz folgerichtig im Fünfpräsidenenbericht als letzter genannt. Sein Job war es schließlich nur, den Anschein von demokratischer Legitimität zu geben. Irgendjemand muss beim informellen Eurogipfel gemerkt haben, dass in der Präsentation von Juncker und Co. die Wortgruppe Demokratie/demokratisch nicht vorkam. Kein einziges Mal.
Das EU-Parlament befasste sich in Eigenregie mit der gleichen Fragestellung, also der Komplettierung der Währungsunion, und arbeitete parallel zu den fünf Präsidenten einen Bericht dazu aus, den sogenannten Berés-Bericht, nach der Berichterstatterin Pervenche Berés. Junckers politische Alliierte im EU-Parlament schafften es allerdings die letztendliche Verabschiedung des Berichts im Parlament so lange zu verzögern, dass er erst am 24. Juni, zwei Tage nach dem Fünfpräsidentenbericht verabschiedet wurde. Das war vor allem wichtig für Martin Schulz, denn formal hatte er auf diese Weise keine Willensäußerung seines Parlaments zu beachten. Aber die Haltung der Parlamentarier war natürlich für den Parlamentspräsidenten kein Geheimnis. Und diese Haltung missachtete er in zentralen Punkten.
Am Wichtigsten: Der Berés-Bericht fordert Mitbestimmungsrechte („Co-Decision“) für das EU-Parlament. Im Fünfpräsidentenbericht ist zwar viel von größerer demokratischer Legitimität die Rede. Tatsächlich vorgeschlagen werden aber ausschließlich unverbindliche Gesprächsrunden mit Parlamentariern der EU und der nationalen Parlamente.
Im Berés-Bericht wird der Ausdruck „Strukturreformen“ durchgängig mit den Eigenschaftswörtern „nachhaltig“ und „sozial ausgewogen“ versehen. Im Fünfpräsidentenbericht sucht man diese Zusätze vergeblich. Sie würden der Stoßrichtung des Berichts auch entgegenstehen. Außerdem enthält der Berés-Bericht einen eigenen Punkt zur „überragenden Bedeutung der zunehmenden Ungleichheit in Europa“ und die Forderung, dieser durch die Betonung der Schaffung hochwertiger Jobs zu begegnen. Das Parlament drängt auf „mehr wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, wozu der Europäische Sozialfonds und der Europäische Strukturfonds gestärkt werden sollen, mit dem Ziel „Arbeitsplätze mit Rechten“ zu schaffen. Eine soziale Dimension soll gesichert werden, mit dem Ziel, Europas soziale Marktwirtschaft zu erhalten und insbesondere das Recht auf kollektive Verhandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu wahren, sowie Mindestlöhne oder gleichwertige Maßnahmen im Kampf gegen Armut und sozialen Ausschluss.
Das ist ein Protest des Parlaments gegen die tatsächlich von der EU-Kommission verfolgte Politik, die auf Abschaffung oder Absenkung von Mindestlöhnen, Schwächung der Gewerkschaften und Zurückdrängen tarifvertraglicher oder allgemeinverbindlicher Lohnfestlegungen abzielt und damit auch schon beträchtlichen Erfolg hatte. (Siehe: Lohnpolitische Paradigmenwechsel in der EU)
In dem vom Parlamentspräsidenten mitgetragenen Bericht, kommt weder das Wort Ungleichheit, noch die Qualität von Arbeitsplätzen vor. Eine soziale Dimension gibt es nicht, denn das Interesse der Arbeitnehmer wird gleichgesetzt mit dem Gewinninteresse der Unternehmen. Was die Qualität der Job angeht, verlegt sich der Bericht allein auf die bessere Qualifizierung der Arbeitskräfte, so wie angebotsorientierte Ökonomen das für richtig befinden. Rechte der Arbeitnehmer sind nur lästig.
Das Parlament erinnert in seinem eigenen Bericht auch noch einmal an die Forderung, die hochproblematische Rolle der technokratischen Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission bei der Abfassung und Überprüfung von Reformprogrammen in Krisenländern durch etwas unter demokratischen Gesichtspunkten Akzeptalbes zu ersetzen. Im Fünfpräsidentenbericht wird dieser ganze wichtige Fragenkomplex völlig ausgespart. Und Schulz gab seinen Segen dazu.
Gleichermaßen verlangt das Parlament eine Überprüfung der Entscheidungsfindung in der ungemein wichtigen aber rein informellen Eurogruppe der Finanzminister des Euroraums, wo es keine Geschäftsordnung, keine Protokolle und keine demokratische Kontrolle gibt. Mauschelei der Mächtigen pur. Weitab davon, diesem Begehren irgendwie Rechnung zu tragen, und sei es nur mit einer Floskel, Rechnung zu tragen, wollen die fünf Präsidenten. zynischer Weise im Abschnitt zur demokratischen Kontrolle – einer unreformierten Eurogruppe eine noch zentralere Rolle bei der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene zuweisen.
In der Steuerpolitik fordert das Parlament “europaweite Maßnahmen gegen Steuerbetrug, Steuervermeidung und aggressive Körperschaftssteuerplanung, sowie Maßnahmen um die Steuerpolitik der Mitgliedstaaten zur vereinheitlichen, eine gemeinsame Steuerbasis für die Körperschaftssteuer, einfachere und transparentere Steuersysteme und länderweise Steuerberichte der Körperschaften.“ Im Fünfpräsidentenbericht schlägt sich das Thema in einer einzeiligen Erwähnung der Vereinheitlichung der Steuerbasis nieder, die man später irgendwann einmal angehen könnte.
Wenn Schulz an anderer Stelle Positionen des EU-Parlaments durchgesetzt hätte, könnte man vielleicht noch verstehen und tolerieren, dass er seinen Namen für ein Dokument hergegeben hat, das wichtige Positionen seines Parlaments einfach ignoriert. Aber an keiner Stelle ist etwas zu erkennen, was die anderen vier nicht offenkudig auch ohne ihn so geschrieben hätten. Die Schlussfolgerung muss wohl lauten, dass der Parlamentspräsident die institutionellen Interessen und sachlichen Positionen seines Parlaments ignoriert hat. Warum akzeptieren die EU-Parlamentarier einen solchen Präsidenten?, fragt man sich unweigerlich.