Von wegen unbezahlbare Renten: Produktivität schlägt Demografie

Von Patrick Schreiner.* Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat einst medienwirksam eine Horrornachricht verbreitet: Wenn man das Rentenniveau stabilisieren und gleichzeitig den Beitragssatz nicht ansteigen lassen wolle, müsse das Renteneintrittsalter angehoben werden – und zwar bis 2041 auf 73 Jahre. Allerdings blenden die Kölner aus, dass 2041 die Produktivität sehr viel höher sein wird als heute. Diese Produktivitätsgewinne machen es möglich, das Rentenniveau zu stabilisieren, ohne das Rentenalter anheben zu müssen.

Der demografische Wandel muss immer wieder herhalten, um die angebliche Nicht-Finanzierbarkeit einer lebensstandardsichernden Rente mit menschenwürdigem Renteneintrittsalter zu belegen. In ihrer Veröffentlichung „Wie lange arbeiten für ein stabiles Rentenniveau?“ schreibt das IW Köln Ende Mai 2016:

Ein stabiles Rentenniveau bei gleichbleibendem Renteneintrittsalter lässt sich nur zu Lasten der künftig Erwerbstätigen erreichen. Rente mit 67, ein stabiles Rentenniveau und beides bei gleichbleibenden Beitragssätzen – das ist politisches Wunschdenken, dem die Demografie einen Strich durch die Rechnung machen wird.

Dass ein arbeitgebernahes Institut an steigenden Beitragssätzen kein Interesse haben kann, mag nachvollziehbar sein. Schließlich müssen die Beiträge ja durch Arbeitgeber hälftig finanziert werden. Die Interessen abhängig Beschäftigter aber sind andere. Jeder Cent, den ihr Arbeitgeber durch einen stabilisierten Rentenbeitragssatz, durch ein Senken des Rentenniveaus oder durch ein weiteres Anheben des Renteneintrittsalters einspart, fehlt den ArbeitnehmerInnen später bei der eigenen Rente. Oder anders formuliert: Höhere Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung werden von Arbeitgeber und ArbeitnehmerIn je zur Hälfte finanziert – die Rente bekommt aber nur der/die ArbeitnehmerIn. Wer daher einen stabilen Rentenbeitragssatz fordert, fordert faktisch nichts anderes als Lohnverzicht durch die Hintertür.

Ein steigender Beitragssatz ist also aus dieser Perspektive nicht weiter schlimm. Dies gilt umso mehr, als die Arbeitsproduktivität auch in den kommenden Jahrzehnten zunehmen wird. „Arbeitsproduktivität“ ist eine Kennziffer, die angibt, wie hoch die durchschnittliche Produktion je Arbeitsstunde ausfällt. Wenn die Arbeitsproduktivität wächst, dann wächst also auch der Kuchen, den eine Gesellschaft an Erwerbstätige, RentnerInnen und alle anderen verteilen kann. Diese Form der Produktivität ist damit letztlich die Quelle des Wohlstands. Steigern lässt sie sich beispielsweise durch eine effektivere Arbeitsorganisation sowie vor allem durch Investitionen in Bildung, Technologie und Infrastruktur.

Schon seit mindestens dem späten 19. Jahrhundert haben wir es der steigenden Arbeitsproduktivität zu verdanken, dass der Wohlstand in Mitteleuropa trotz demografischem Wandel wächst. Denn obwohl schon seit mindestens dem späten 19. Jahrhundert immer weniger erwerbstätige Menschen für immer mehr RentnerInnen aufkommen müssen, ist der Lebensstandard keineswegs geschrumpft. (Weder der demografische Wandel noch der Anstieg der Arbeitsproduktivität ist also ein neues Phänomen. Umso auffälliger ist es, dass interessierte Kreise – etwa Arbeitgeber und deren Verbände und Institute – immer nur ersteren erwähnen, letzteren aber regelmäßig zu erwähnen vergessen.)

Nun gibt es in allen westlichen Industriegesellschaften eine Tendenz abnehmender Zuwächse bei der Arbeitsproduktivität. In den 1970er Jahren wuchs sie in Deutschland durchschnittlich noch um 3,8 Prozent pro Jahr. In den 1980er und 1990er Jahren waren es nur noch knapp über zwei Prozent. Seit dem Jahr 2000 ist sie unter zwei Prozent gefallen, in vielen Jahren sogar unter ein Prozent. Ein Grund hierfür dürften unter anderem vergleichsweise schwache Investitionen der Unternehmen und der öffentlichen Hand seit etwa den frühen 2000er Jahren sein. Zugleich gibt es zahlreiche Studien, die nahelegen, dass die Produktivität in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wieder deutlich zunehmen könnte: Stichwort „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0“.

Doch selbst wenn die Produktivität auf ihrem heutigen schwachen Niveau verbleiben sollte, wird sie ausreichen, um trotz demografischem Wandel eine lebensstandardsichernde Rente ohne höheres Renteneintrittsalter zu ermöglichen. Unterstellt sei für eine Beispielrechnung das Folgende:

  1. Die Arbeitsproduktivität wächst bis 2060 um 1,4 Prozent jährlich. (Dies entspricht der durchschnittlichen Zunahme seit 1991.)
  2. Die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (20-65 Jahre) schrumpft bis 2060 in jenem Umfang, den das Statistische Bundesamt prognostiziert, nämlich von fast 50 Millionen auf weniger als 38 Millionen Menschen. (Die Zahlen wurden der 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts entnommen, Variante 2).
  3. Spiegelbildlich entwickelt sich die Zahl der Über-65-Jährigen ebenfalls so, wie es das Statistische Bundesamt prognostiziert, nämlich von etwa 16 Millionen auf über 23 Millionen.
  4. Die Erwerbsbeteiligung steigt nicht weiter an.

Dies sind insgesamt eher vorsichtige Annahmen. Im Ergebnis ergibt sich bis 2060 dennoch ein realer Einkommenszuwachs von fast 70 Prozent: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Gesamtbevölkerung steigt von 32.137 Euro (2010) auf 42.209 Euro (2040) und schließlich auf 53.973 Euro (2060).

Man kann das Ganze auch umgekehrt betrachten und fragen: Wie hoch müsste die durchschnittliche jährliche Produktivitätssteigerung sein, damit die Auswirkungen des demografischen Wandels ausgeglichen werden und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gleich bleibt? Die Antwort: Weniger als 0,4 Prozent. Dies ist ein niedriger Wert, der mehr als realistisch erscheint.

Also: Keine Angst vor steigenden Rentenbeitragssätzen – denn das, was nach Abzug der Rentenbeiträge übrigbleibt, wird dennoch von Jahr zu Jahr größer! (Jedenfalls wenn die Löhne entsprechend steigen. Umso wichtiger ist es, die Entwicklung der inflationsbereinigten Löhne nicht hinter die Entwicklung der Arbeitsproduktivität zurückfallen zu lassen. Aber auch davon wollen die Arbeitgeber ja in der Regel nichts wissen. Und auch die rot-grüne Agenda 2010 hatte sich von dieser Idee einst verabschiedet, was heute trotz des Hypes um Martin Schulz offenbar noch heute kein Thema ist…)

*Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie. Dieser Beitrag erschien zuerst auf seinem lesenswerten Blog annotazioni.de 

[2.3.17]

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