Anstupsen ist kein Politikersatz – Wider den Hype vom liberalen Paternalismus

Der Hype um sanfte Verhaltenslenkung, Nudging genannt, kann dazu führen, dass wirksamere Politikmaßnahmen unterbleiben, etwa in der Klimapolitik. Denn damit kann man hervorragend Aktivität heucheln, ohne jemand weh zu tun. Selbst Wissenschaftler, die den Hype mit begründet haben, warnen deshalb vor Missbrauch.

Das Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ aus dem Jahr 2008 von Richard Thaler und Cass Sunstein war ein begriffsprägender, politisch einflussreicher Bestseller. Thaler hat 2017 für seine Pionierarbeit in der ökonomischen Verhaltensforschung den Ökonomie-Nobelpreis bekommen. Eine Reihe von Regierungen haben inzwischen sogar  „Nudge-Teams“ gegründet, die Erkenntnisse der Verhaltensforschung für die Politikberatung nutzbar machen sollen.

Nudging, übersetzt Anstupsen, ist eine Methode, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, ohne dabei auf Zwang oder finanzielle Anreize zurückzugreifen. Stattdessen werden die Rahmenbedingungen so gesetzt, dass das gesellschaftlich erwünschte oder mutmaßlich für die Angestupsten beste Verhalten zur natürlichen ersten Wahl wird. Ein einfaches Beispiel ist das Einstellen von Druckern auf doppelseitigen Schwarzweißdruck als Standard zur Umweltschonung . Umstellen muss den Drucker, wer einseitig und farbig – also weniger ressourcenschonend – drucken will. Da die meisten die Standardeinstellung unverändert nutzen, spart das viel Toner und Papier ohne irgendjemand in seiner Wahlfreiheit einzuschränken.

Heikler und entsprechend umstritten ist ein  Nudge-Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn. Er will Zustimmung zur Organspende im Todesfall voraussetzen, wenn man vorher nicht ausdrücklich widersprochen hat. Die Grenzen zum Autoritären sind fließend, je nachdem, wie schwer einem der Widerspruch gemacht wird, und wie leicht das Vergessen eines eigentlich gewollten Widerspruchs ist.

Der Nudging-Ansatz ist eine Antwort liberaler und libertärer Wissenschaftler auf Kritik an staatlichen Eingriffen. Er rechtfertigt lenkendes Regierungshandeln damit, dass Menschen auf verschiedene Weise irrational oder unbedacht handeln. Das ließe sich durch Nudging ausgleichen, so die Verheißung, ohne die Entscheidungsfreiheit der Individuen zu beeinträchtigen.

Angestupst in die Katastrophe?

Immer mehr Wissenschaftlern ist der Boom des Nudging nicht geheuer. Zu den Kritikern der angeblichen Wunderwaffe für alle möglichen Probleme, einschließlich der Umweltzerstörung, gehört Felix Ekardt, Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig. Unter dem Titel „Angestupst in die Katastrophe“ schrieb er 2017 in der „Zeit“ einen scharfen Kommentar gegen den Nudging-Hype und die Erwartung, man könne damit große ökonomische Probleme lösen. Am Beispiel des Klimaschutzes bemängelt er: „Nudging mag in der Lage sein, Menschen einen kleinen Schritt in die richtige Richtung zu schubsen. Aber Klimaschutz bedeutet nicht, ein kleines bisschen besser zu werden.“ Durch Nudging könne man weder die Zahl der Flüge und Schnitzel drastisch reduzieren noch den technischen Wechsel von fossilen zu regenerativen Energien schaffen. „Um Fortschritte zu erreichen, muss man an allen Ecken ansetzen, statt nur auf ein neues Wunder-Politikinstrument zu hoffen“, so Ekardt.

Der renommierte Verhaltensökonom George Loewenstein von der Carnegie Mellon University hat  Nudging selbst mit popularisiert, unter anderem mit dem viel zitierten Beitrag „Regulation for Conservatives“ mit Colin Camerer und anderen aus dem Jahr 2003. Doch seit einigen Jahren zieht er gegen übertriebene Erwartungen zu Felde. In dem Artikel „Putting Nudges in Perspective“, den er mit Nick Chater in „Behavioral Public Policy“ veröffentlichte, beklagt er, dass die ökonomische Verhaltenswissenschaft auf das reduziert werde, was sich in Form eines Nudges in konkrete Politik umsetzen lasse.

Oft wird Nudging von Wirtschaftspolitikern als einfache Ausweichmöglichkeit genutzt, wenn sie effektivere, aber schmerzhafte Lösungen vermeiden wollen.

Die Überbetonung des Nudging führe dazu, dass Individuen für die Lösung von Problemen verantwortlich gemacht würden, die in Wahrheit struktureller Natur sind, kritisiert Loewenstein im Beitrag mit Chater. „Oft wird Nudging von Wirtschaftspolitikern als einfache Ausweichmöglichkeit genutzt, wenn sie effektivere, aber schmerzhafte Lösungen vermeiden wollen“, urteilt er. Als Beispiel führt er die inzwischen auch bei uns gebräuchliche Information der Energiekonsumenten über den Energieverbrauch der Nachbarschaft an. Damit wolle die britische Regierung ihre Energiesparziele erfüllen. Tatsächlich führe dieses Nudging zu zwar völlig freiwilligen und kosteneffizienten, aber eben nur sehr geringen Einsparungen.

Das wäre kein Problem, wenn das Anstupsen nur eine zusätzliche Maßnahme wäre, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Anders sieht es aus, wenn es wirksamere Maßnahmen ersetzt oder verdrängt.

Mit David Hagmann und Emily Ho hat Loewenstein überprüft, ob es eine Konkurrenz dieser Art gibt. Das bemerkenswerte Ergebnis haben sie vor Kurzem unter dem Titel „Nudging out support for acarbon tax“ veröffentlicht.

Die Wissenschaftler gaben eine Serie von sechs großen Umfragen in Auftrag. Die Teilnehmer wurden gefragt, ob sie bestimmte Maßnahmen gerne umgesetzt sähen. Wurden sie nur gefragt, was sie von einer CO2 – Steuer als Maßnahme gegen den Klimawandel halten, war die große Mehrheit dafür. Das änderte sich, wenn zusätzlich ein Nudge zur Beurteilung anstand. Dabei mussten sich die Befragten nicht zwischen CO2 – Steuer und Nudge entscheiden. Sie konnten beide Maßnahmen befürworten. Der vorgeschlagene Anstupser bestand darin, die Wahl von etwas teurerem, „grünem“ Strom als abwählbaren Standard vorzugeben. Wurde diese zusätzliche Option mit abgefragt, sank die Zustimmung für eine CO2 – Steuer um 15 Prozentpunkte.

Der gleiche Effekt trat bei der Alterssicherung auf. Eine große Mehrheit war für einen Ausbau der gesetzlichen Rentenversicherung. Bei denen, die zusätzlich die automatische Einbehaltung von Betriebsrentenbeiträgen mit Widerspruchsmöglichkeit im Angebot hatten, war die Zustimmung zum Ausbau der gesetzlichen Rente erheblich geringer.

Opportunistische Politik

Die Autoren warnen deshalb: Wenn die Wähler entweder die Wirksamkeit von Nudges überschätzen oder eine Vorliebe für gewissensberuhigende Maßnahmen haben, die sie wenig kosten, dann, müsse man damit rechnen, dass die Politikverantwortlichen auch entsprechend handeln.

Eine der Umfragen hatte als Zielgruppe Absolventen einer politikwissenschaftlichen Ausbildung (Public Policy School). Von diesen gab die Hälfte an, im Politikberatungsgeschäft aktiv zu sein oder gewesen zu sein. Auch bei dieser Gruppe waren die Ergebnisse im Wesentlichen dieselben. Es ist also kein Privileg der in der Politik unerfahrenen, dass sie Handlungsoptionen als Alternativen betrachten, die sich ergänzen sollten.

Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Loewenstein und Co. haben mit ihren Befragungen zugleich eine Gegenstrategie für diejenigen ermittelt, denen es wirklich auf den tatsächlichen Effekt ankommt, nicht auf die Show. Die Aufklärung über den begrenzten Effekt der Nudges sorgt demnach dafür, dass der negative Effekt auf die Unterstützung von wirksameren Maßnahmen deutlich geringer wird. Der Unterstützung für die Nudges selbst tut die Aufklärung aber offenbar keinen Abbruch. Sie werden auch als Zusatzmaßnahme weiter befürwortet. Der Einsatz von Nudges oder Werbung dafür sollten also unbedingt mit dem Hinweis verbunden werden, dass sie wegen ihrer begrenzten Wirksamkeit nur als Ergänzung für andere Maßnahmen gedacht sind.

[10.9.2107]

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