Modern Monetary Theory: Eine Geldtheorie sorgt für Aufregung

Als US-Notenbankchef Jerome Powell vor einigen Wochen vor dem Kongress gefragt wurde, was er von dieser „Modern Monetary Theory“ (MMT) halte, die in Washington gerade Furore machte, räumte er ein, dass er noch nichts gelesen habe, was diese Theorie genauer erklärt. Er halte aber nichts davon, wusste er dennoch zu sagen. „Die Vorstellung, dass Defizite keine Rolle spielen, wenn ein Land sich in der eigenen Währung verschulden kann, ist einfach falsch“, sagte er.

So wie Donald Trumps Mann an der Spitze der Fed hält es auch Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman, der dem Establishment der Demokraten nahesteht. Er widmete mehrere seiner „New York Times“-Kolumnen der Kritik an MMT, und lies dabei ebenfalls durchblicken, dass er sich nicht allzu intensiv damit auseinandergesetzt hat. Auch der frühere Finanzminister Larry Summers, ein Demokrat, und der ehemalige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Ken Rogoff, schleuderten Blitze aus dem Olymp der Ökonomik. Unsinn und Quacksalberei, so lautete ihr Urteil.  Ziel des Zorns ist eine sehr kleine, manchmal sektenhaft anmutende Gruppe von Geldtheoretikern, von der bisher nur wenige Notiz nahmen.

Summers kritisierte die Verheißung von MMT, die Regierung könne durch Drucken von Geld Defizite kostenlos „finanzieren“. Es sei nicht wahr, dass Regierungen alle ihre Verpflichtungen erfüllen und den Konkurs vermeiden könnten, indem sie neues Geld drucken. „Weder für die Rechten, noch für die Linken gibt es einen kostenlosen Lunch“, schrieb er. Vergessen war, dass er wenige Jahre vorher unter Verweis auf seine These von der „säkularen Stagnation“ selbst geschrieben hatte: „In einer Zeit schwacher Wirtschaft und unzureichender öffentlicher Investitionen gibt es nun doch einen kostenlosen Lunch.“

 Linke Fürsprecher

Dass sich die Ökonomenelite mit solchem Furor einer bisher ignorierten Theorie annimmt, hat einen einfachen Grund: Linke Politiker, die das konservative Establishment der demokratischen Partei herausfordern, haben sich auf diese Theorie berufen, vor allem die populäre Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez.  Sie begründete mit Verweis auf MMT, dass ein höheres Staatsdefizit keine Katastrophe wäre.

Sie prügeln MMT, aber sie meinen natürlich die linken Präsidentschaftskandidaten der Demokraten.

Mit Stephanie Kelton war eine führende Vertreterin von MMT 2016 Wahlkampfberaterin von Bernie Sanders. Der Sozialist bewirbt sich auch diesmal um die Nominierung bei den Demokraten. Er fordert unter anderem eine staatliche Jobgarantie, für die auch führende MMT-Vertreter eintreten.

„Sie prügeln MMT, aber sie meinen natürlich die linken Präsidentschaftskandidaten der Demokraten“, schreibt Bill Black, ein ehemaliger Bankenregulierer und Professor für Recht und Wirtschaft an der Universität Missouri, einer Heimstätte von MMT. Schließlich werben ja selbst die MMT-Kritiker Krugman und Summers dafür, höhere Defizite in Kauf zu nehmen. Und auch die Republikaner unter Trump haben kein Problem mit Defiziten, solange nicht ein Green New Deal oder eine Beschäftigungsgarantie damit finanziert werden sollen.

Die Diskussion hat auch Deutschland erreicht. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und ehemaliger Ökonom der Europäischen Zentralbank (EZB), schrieb auf Twitter, Rogoff habe recht mit dem Urteil, dass MMT größtenteils Unsinn sei. Peter Bofinger von der Universität Würzburg hielt mit dem Beispiel Japan gegen. Dort hat die Notenbank 2017 sogar den unlimitierten Aufkauf von Staatsanleihen angekündigt. Zinsen und die Inflation sind dennoch weiter sehr niedrig.

Ein anderer Blick auf Geld

MMT ist eine mit rund 25 Jahren recht junge Theorie. Im Zentrum steht die „staatliche Theorie des Geldes“, die Georg Friedrich Knapp vor 100 Jahren entwickelte. Demnach gibt der Staat Geld heraus und bestreitet damit seine Ausgaben. Steuern werden im Rahmen von MMT nicht als Finanzierungsinstrument des Staates betrachtet. Vielmehr dienen sie dazu, die Inflation zu begrenzen, indem ein Teil des in Umlauf gebrachten Geldes wieder eingesammelt wird. Daneben dienen Steuern als Instrument der Umverteilung. Auch Staatsanleihen dienen nicht der Finanzierung, sondern dazu, den Zins zu steuern. Wenn der Staat Anleihen ausgibt und auf diese einen positiven Zins zahlt, verhindere er, dass der Zins auf null fällt. Denn durch Ausgabe von Anleihen tauscht die Regierung einen Teil des ausgegebenen, zinslosen Geldes gegen verzinste Anleihen.

Laut MMT gibt es immer mehr Platz für höhere Defizite, nicht nur bei niedrigen Inflationsraten.

Exponierteste Vertreter von MMT sind in den USA der ehemalige Hedgefonds-Manager Warren Mossler und die Ökonomen Bill Mitchell und Randall Wray sowie die Sanders-Beraterin Kelton. Auch James Galbraith und Michael Hudson werden dem MMT-Umfeld zugerechnet. Zu den wenigen europäischen Vertretern zählt Dirk Ehnts, Autor des auf der MMT-Perspektive basierenden Buchs „Geld und Kredit: eine Euro-päische Perspektive“.

„Laut MMT gibt es immer mehr Platz für höhere Defizite, nicht nur bei niedrigen Inflationsraten“, bestätigt Ehnts die Position, die Powell, Krugman und Summers angreifen. Er fügt hinzu: „Das heißt aber nicht, dass auch nur irgendeiner von uns generell für höhere Defizite plädiert.“ MMT sei ein Analyseinstrument, das dazu diene, Zusammenhänge zu begreifen. Es sei keine wirtschaftspolitische Handlungsempfehlung. Man könne darauf linke Positionen aufbauen, wie Kelton das tut, aber auch rechte. Tatsächlich kann man auf Basis von MMT ebenso gut für niedrigere Steuern wie für höhere Ausgaben eintreten. MMT-Begründer Warren Mosler ist kein Linker, sondern kommt aus dem Umfeld der Republikaner-Elite.

Die Kommunikation zwischen MMT-Vertretern und dem Mainstream ist schwierig, auch wegen dem, was Krugman „messianischen“ Eifer nennt. Man sieht den eigenen Blickwinkel im MMT-Lager nicht als einen zusätzlichen, andere ergänzenden, sondern als den einzig richtigen. Einige Vertreter, zuvorderst Randall Wray, fallen immer wieder durch rüde Wortwahl und Attacken gegen alles auf, was sich in der Nachbarschaft zu MMT bewegt, aber eine andere Begrifflichkeit verwendet und nicht alle MMT-Konzepte übernimmt.

Randall Wray randaliert gegen „schuldenfreies“ Geld

Makroskop reitet wieder gegen Hudson und für den „Sektor“

Ehnts hält die Kritik, MMT propagiere die direkte Staatsfinanzierung mit der Notenpresse, für ein Missverständnis. „Das ist eine Möglichkeit, aber wir werben nicht dafür“, sagt er. Vielmehr seien seit Ende der Golddeckung der Währungen die Zusammenhänge de facto überall so, wie MMT das darstellt, unabhängig vom konkreten geldpolitischen Arrangement. Auch im heutigen System etwa der USA finanziere die Regierung die Staatsausgaben mit selbst herausgegebenem Geld – wenn auch auf indirekte, verschleierte Weise.

Gehorsame Notenbanken

Das gehe so: Die Notenbank stellt den Banken durch einfachen Computereintrag Geld in Form von Notenbankguthaben zur Verfügung. Die Banken kaufen damit Staatsanleihen und stellen es so ihrerseits wieder dem Staat zur Verfügung.  Wenn die Notenbanken, wie sie das in den letzten Jahren in großem Umfang getan haben, selbst Staatsanleihen kaufen, betätigen sie sich sogar fast direkt als Staatsfinanzierer; nur mit dem kleinen Umweg, dass sie die Anleihen den Banken abkaufen, nicht gleich dem Staat.

Letztlich betätige sich die Notenbank bei Bedarf immer als Finanzierer des Staats, so Ehnts. Die formale Unabhängigkeit der Notenbanken von den Regierungen dient aus Sicht der MMT-Vertreter nur der Verschleierung dieses Zusammenhangs.

Das dürfte auch ein wichtiger Grund dafür sein, dass MMT unter Mainstream-Ökonomen und Notenbanken schlecht ankommt. Denn dort betont man sehr die Bedeutung der Unabhängigkeit. MMT sei eine Theorie des Vorrangs der Finanzpolitik, die dem Vorrang der Geldpolitik, wie er in Europa praktiziert werde, zuwiderlaufe, sagte EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Coeuré jüngst auf einer Veranstaltung in Mailand. Die EZB mache Geldpolitik für 19 Länder mit unabhängigen Finanzpolitiken. Zumindest für die Währungsunion scheinen deshalb die von MMT unterstellten Zusammenhänge nicht zu gelten.

Bank von Kanada als Musterbeispiel für MMT

Wenig bekannt bei all dem Furor: Gesetze und Praxis des Industrielands Kanada geben konkretes Anschauungsmaterial für eine solche Politik. Die Bank von Kanada schafft standardmäßig neues Geld, mit dem der Staatshaushalt teilweise finanziert wird. Jedes Mal, wenn sie für die Regierung eine Auktion von neuen Staatsanleihen organisiert, nimmt sie vorneweg rund ein Fünftel der Neuemission in die eigenen Bücher. Der Regierung schreibt sie den Gegenwert auf deren Zentralbankkonto gut. Mit diesem Geld kann die Regierung beliebige Ausgaben tätigen.

Die rechtliche Basis dafür erläutert der wissenschaftliche Dienst des kanadischen Parlaments in einem Aufsatz aus dem Jahr 2015 mit dem Titel: „How the Bank of Canada Creates Money for the Federal Government“. Das Notenbankgesetz ermächtige die Bank von Kanada, Wertpapiere zu kaufen, die von der Regierung garantiert sind, und Guthabenkonten für die Regierung zu führen.  „Diese beiden Vorschriften zusammen scheinen die Bank zu ermächtigen, durch direkten Kauf von Staatsanleihen Geld zu schaffen“, schreiben die Parlamentsexperten.

Das funktioniere wie die Geldschaffung durch private Banken im Zuge der Kreditvergabe, mit einem wichtigen Unterschied: Es gebe keine Obergrenze für die Menge an Geld, die die Notenbank für die Regierung schaffen kann. Bei Geschäftsbanken dagegen limitierten die Regulierer die Geldschöpfung. Auch die Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers, die bei der Kreditvergabe einer privaten Geschäftsbank der wichtigste Faktor ist, spiele für die Entscheidung der Bank von Kanada, der Regierung Geld zu leihen, keine Rolle. Aus beidem folgt für die Parlamentsexperten ein Satz, der aus einem MMT-Handbuch stammen könnte und von den prominenten Mainstream-Ökonomen derzeit heftig angegriffen wird: „Das bedeutet, dass externe Faktoren, wie etwa Funktionsstörungen der Finanzmärkte, nicht dazu führen können, dass der Regierung das Geld ausgeht.“

Externe Faktoren, wie etwa Funktionsstörungen der Finanzmärkte, können nicht dazu führen, dass der Regierung das Geld ausgeht.

Trotz dieser routinemäßigen direkten Staatsfinanzierung durch die Notenbank ist die von der vorherrschenden geldpolitischen Theorie prognostizierte Inflationsspirale bisher in Kanada ausgeblieben. Dagegen ließe sich einwenden, dass diese direkten Staatsanleihekäufe recht begrenzt sind. Das war allerdings nicht immer so. Josh Ryan-Collins von der New Economics Foundation in London hat unter dem Titel „Is Monetary Financing Inflationary?“ eine Fallstudie über Staatsfinanzierung durch die Bank von Kanada von 1935 bis 1975 veröffentlicht.  In dieser Zeit habe die Notenbank sowohl direkt als auch indirekt, durch Nutzung ihres Einflusses auf die Geschäftsbanken, in großem Umfang dafür gesorgt, dass neu geschaffenes Geld der Finanzierung der Staatsausgaben zugutekam. Trotzdem sei die Inflation nicht aus dem Ruder gelaufen.

Direkte Staatsfinanzierung durch die Notenbank wird nicht nur von MMT-Anhängern propagiert, sondern indirekt auch von Anhängern des Vollgelds oder 100%-Gelds.  Das Konzept sieht vor, den Banken das Geldschöpfungsprivileg zu nehmen und es auf die Notenbank zu konzentrieren. Da die Notenbank in der Regel im Staatsbesitz ist, würde der deutlich erhöhte Geldschöpfungsgewinn dem Staatshaushalt zugutekommen. Damit verwandt ist der Helikoptergeld-Vorschlag.  Danach soll die Notenbank neues Geld als Bürgerdividende direkt allen Einwohnern eines Landes auf ihren Konten gutschreiben.

Siehe auch: Interview und Streitgespräch mit Dirk Ehnts zu MMT

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