Anders als etwa in den USA ist reich zu sein in Deutschland eher peinlich. Alle wollen zur Mittelschicht gehören, nicht nur Multimillionäre wie Friedrich Merz (CDU) oder Sehrgutverdiener wie Finanzminister Olaf Scholz (SPD).
Fragt man die Deutschen, wo das Reichsein anfängt, setzen sie die Untergrenze dafür in etwa bei einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 7.000 und 10.000 Euro, berichtet Judith Niehues, Leiterin Methodenentwicklung beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Handelsblatt. Die Deutschen gehen der Expertin zufolge davon aus, dass ein Fünftel der Bevölkerung so viel Geld jeden Monat verdient.
Doch die Realität sieht ganz anders aus: Allenfalls drei Prozent der Haushalte in Deutschland verfügen laut IW über dieses monatliche Nettoeinkommen. Betrachtete man die einkommensstärksten 20 Prozent der Haushalte in Deutschland als reich, dann wäre man bereits mit einem Nettomonatseinkommen von knapp 3.000 Euro reich.
Legt man diesen Maßstab an, wäre Finanzminister Scholz ohne Zweifel dem Kreis der Reichen zuzurechnen. Der SPD-Politiker hatte kürzlich eine Debatte ausgelöst, indem er auf die Interview-Frage, ob er sich als „reich“ bezeichnen würde, geantwortet hatte, er verdiene „ganz gut“. Er würde sich aber nicht als reich empfinden, hatte der SPD-Kanzlerkandidat ergänzt.
Als Bundesminister bekommt Scholz nach Angaben des Bundesfinanzministeriums inklusive Zuschläge ein monatliches Gehalt in Höhe von rund 15.500 Euro. Seine Ehefrau, die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst, bezieht rund 14.000 Euro monatlich. Zusammen kommt das kinderlose Ehepaar also auf knapp 30.000 Euro Bruttoverdienst pro Monat.
Großzügige Mittelschichts-Obergrenzen
Für IW-Expertin Niehues beginnt die obere Mittelschicht beim Eineinhalbfachen des mittleren monatlichen Nettoeinkommens von knapp 2.000 Euro und reicht bis zum Zweieinhalbfachen dieses Betrags: Das wären dann knapp 4.900 Euro. Einkommensreichtum beginnt für sie über diesem Schwellenwert. Nur 3,3 Prozent der Haushalte in Deutschland sind „einkommensreich“ nach dieser Definition – das Ehepaar Scholz zählt demnach dazu. 15 Prozent der Bevölkerung gehören dagegen laut dieser Definition zur oberen Mittelschicht.
Stefan Bach, Steuer- und Verteilungsexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), verortet die Obergrenze der Mittelschicht noch höher. Für ihn ist man mit 60.000 Euro netto im Jahr „Besserverdiener“, ein Zwischenschritt zum Einkommensreichen. „Viele darüber fühlen sich sicher noch als Mittelschicht, nicht nur Herr Merz“, urteilt Bach.
Bach zieht die Grenze zum Einkommensreichtum dort, wo das oberste Hundertstel der Einkommen beginnt. Um zu diesem Kreis zu gehören, muss man mindestens 160.000 Euro brutto im Jahr verdienen. Auch bei dieser Definition zählte Scholz zu den Reichen im Lande.
Noch schwerer ist es, zu den Einkommensreichen zu gehören, wenn man die Reichensteuer zum Maßstab nimmt, die als Alleinstehende ab einem steuerpflichtigen Einkommen von 265.327 Euro einen erhöhten Steuersatz von 45 Prozent zahlen müssen. Das trifft 163.000 Steuerzahler oder rund 0,2 Prozent der Bevölkerung.
Wie Haushalte vergleichbar gemacht werden
In der Mitte der Verteilung liegt man nach einer Aufstellung von Bach mit 22.500 Euro Jahresbrutto pro Haushaltsmitglied. Die genannten Grenzen der Einkommensschichten beruhen auf dem sogenannten äquivalenzgewichteten Haushaltseinkommen pro Person, das die OECD anlegt. Dabei wird das Gesamteinkommen auf alle Haushaltsmitglieder aufgeteilt.
Das erste erwachsene Haushaltsmitglied wird dabei mit eins, jedes weitere ab 14 Jahren mit 0,5 angesetzt, Kinder mit dem Faktor 0,3. Das soll die Ersparnisse in der gemeinsamen Haushaltsführung und geringeren Bedarf der Kinder widerspiegeln und die Haushaltsmitglieder mit Single-Haushalten vergleichbar machen.
Paare teilen also das Gesamteinkommen durch 1,5, um ihre Position in dieser Verteilung zu bestimmen. Ein Paar mit einem Kind teilt das Gesamteinkommen durch 1,8, eines mit zwei Kindern durch 2,1.
Wem die Bedarfsfaktoren der OECD für die Haushaltsmitglieder arg niedrig vorkommen: Das Statistische Bundesamt nennt sie „willkürlich“ gewählt. Bevor die OECD sie modifiziert hat, lagen sie deutlich höher, die ausgewiesenen Äquivalenzeinkommen pro Haushaltsmitglied also deutlich niedriger.
Vermögend schon mit einem Auto
Die Vermögen sind noch deutlich ungleicher verteilt als die Einkommen. Hier steht eine Mehrheit der Habenichtse einer Minderheit von Menschen mit großen Vermögen gegenüber. Dazwischen liegt eine eher schmale wohlhabende Mittelschicht.
Laut einer Untersuchung des beim DIW angesiedelten Sozioökonomischen Panels (SOEP) von Juli reicht ein Nettovermögen nach Abzug der Schulden im Wert eines neuen Mittelklassenautos, um zur vermögenderen Hälfte der Bevölkerung zu gehören: knapp 23.000 Euro. Die untere Hälfte der Bevölkerung hat insgesamt betrachtet so viele Schulden wie Vermögenswerte.
Mit einem Nettovermögen von 126.000 Euro, also etwa einem halb abbezahlten Haus unterer Preislage gehört man zum reichsten Viertel der Deutschen. Ein abbezahltes Haus in dieser Preislage (279.000 Euro) reicht für einen Platz unter den reichsten zehn Prozent. Ein hypothekenfreies Reihenhaus in der Stadt (438.000 Euro), und man gehört zu den reichsten fünf Prozent. Dann kommt ein größerer Sprung.
Reiche haben ertragreichere Vermögenswerte
Die Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Für die unteren Einkommensschichten ist der fahrbare Untersatz meist der wichtigste Vermögenswert. Darüber, bis dort wo der Reichtum beginnt, besteht das Vermögen überwiegend aus den Wohnungen und Häusern, in denen man wohnt. Hinzu kommen bei den Bessergestellten noch in gewissem Umfang vermietete Immobilien.
Wer zum reichsten Prozent gehört und besonders zu den reichsten 0,1 Prozent, hat dagegen vor allem Betriebsvermögen. 1,3 Millionen Euro muss man netto sein Eigen nennen, um zur erstgenannten Gruppe zu gehören, knapp 5,5 Millionen bringen einen in das reichste Tausendstel der Deutschen.
Typischerweise wirft Betriebsvermögen die höchste Rendite ab, Autos die niedrigste. Ederer, Mayerhofer und Rehm haben in einer Studie aus dem Jahr 2019 nachgewiesen, dass die Durchschnittsrendite der Vermögensanlagen systematisch um so höher ist, je höher das Vermögen ihrer Eigentümer.
Wer wird Millionär?
Der typische Vermögensmillionär sieht so aus, wie ihn die meisten sich vorstellen werden: ein weißer älterer Herr (west-)deutscher Abstammung oder in den Worten des SOEP: „Sie sind überdurchschnittlich häufig männlich, haben einen überdurchschnittlichen Bildungsabschluss, sind älter als der Rest der Bevölkerung und haben unterdurchschnittlich häufig einen Migrationshintergrund.“
Millionäre haben auch, wenig überraschend, mit über 7.600 Euro ein weit überdurchschnittliches Nettoeinkommen (gewichtetes Haushaltseinkommen) und sparen überdurchschnittlich. Auch deshalb können sie schneller zusätzliches Vermögen akkumulieren als die Nichtmillionäre.
Wenn Millionäre arbeiten, dann in der Regel selbstständig, unternehmerisch oder als Geschäftsführer oder in ähnlicher leitender Position. Diejenigen, die arbeiten, arbeiten mit 47 Stunden pro Woche erheblich mehr als der Durchschnitt. Welcher Anteil der Millionäre arbeitet, schreibt das DIW nicht.
In ihren Persönlichkeitsmerkmalen unterscheiden sich Millionäre vor allem in zwei Eigenschaften von den Nichtreichen. Eine gebräuchliche Einteilung in der Persönlichkeitspsychologie ist das Fünf-Faktoren-Modell. Bei den drei Hauptdimensionen Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Extroversion (Geselligkeit) gibt es laut den Befragungen des SOEP keinen Unterschied. Bei Neurotizismus haben Millionäre etwas höhere Werte.
Aber der einzige große Unterschied bei diesen fünf Merkmalen liegt darin, dass Millionäre deutlich weniger verträgliche Menschen sind. Das jedenfalls ergeben die SOEP-Befragungen. Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft und Einfühlungsvermögen sind demnach bei ihnen im Durchschnitt wenig ausgeprägt.
Den zweiten großen Unterschied gibt es bei einer Eigenschaft, die unter den „Großen Fünf“ nicht separat ausgewiesen ist. Millionäre sind im Durchschnitt sehr risikofreudig. Von ihnen weisen der SOEP-Befragung zufolge 40 Prozent die drei höchsten Werte von acht bis zehn auf. Bei der übrigen Bevölkerung ist der Anteil weniger als halb so hoch
Ob Millionäre es sich einfach besser leisten können, Risiken einzugehen, weil sie Reserven haben, oder ob sie reich geworden sind, weil sie Risiken eingegangen sind, lässt sich aus der Befragung nicht ablesen.
Fragt man die Millionäre, wie sie reich geworden sind, so sind Arbeit und unternehmerisches Geschick die Hauptfaktoren. Erbschaften, Schenkungen und Glück spielen dagegen nach ihrer Selbstwahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle.
Folgerungen für die Politik
Die Neigung auch noch Menschen zur Mittelschicht zu zählen, die dreimal so viel Geld ausgeben können wie Menschen in der unteren „Mittelschicht“ und die starke Verzerrung der Wahrnehmung dessen, was man normalerweise in Deutschland verdient, bewirken, dass vieles von dem, was als Politik für die Mitte verkauft und wahrgenommen wird, in Wahrheit eine Politik für eine erweiterte Oberschicht ist. Demgegenüber sind soziale Leistungen und Maßnahmen, die in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit einer Schicht von Benachteiligten zugute kommen, tatsächlich Leistungen an die Mittelschicht.