EU-Kommission, Europäische Zentralbank (EZB), Bundesregierung und die deutschen neoklassischen Ökonomen sahen die Ursache der Euro-Krise darin, dass Staatsausgaben und Löhne in den Krisenländern zu stark gestiegen seien. Deshalb seien sie im Wettbewerb mit Deutschland zurückgefallen und hätten immer größere Außenhandelsdefizite angesammelt. Nur Kürzungen bei Löhnen und Staatsausgaben könnten die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Keynesianer wie Heiner Flassbeck und Peter Bofinger sehen dagegen die Schuld bei Deutschland, wegen zu niedriger Lohnsteigerungen. Einige linke Ökonomen kritisieren diese Sichtweise als zu nahe bei den Neoklassikern – zu Recht.
Im November 2015 veröffentlichte eine Gruppe internationaler Ökonomen mit Schwerpunkt an der London School of Economics ein Papier, in dem sie die Finanzpolitik der Krisenländer aus der Schusslinie nahmen. Zu der Gruppe mit dem selbstbewussten Anspruch, eine „Konsens-Diagnose“ der Euro-Krise vorzulegen, gehören der ehemalige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Olivier Blanchard, Nobelpreisträger Christopher Pissarides und die ehemalige Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro. „Die Euro-Krise sollte nicht als eine Staatsschuldenkrise betrachtet werden, auch wenn sie sich zu einer solchen entwickelte“, schreiben sie. Vielmehr sei die Krise aufgrund eines plötzlichen Stopps von starken Kapitalzuflüssen in die damaligen Boom- und jetzigen Krisenländer ausgelöst worden.
Das rief keynesianische Ökonomen wie Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas sowie den Würzburger Wirtschaftsweisen Peter Bofinger auf den Plan. Sie monierten, dass die „Konsens-Diagnose“ den Beitrag der deutschen Politik mit der starken Lohnmäßigung nicht als Krisenursache erwähne. Durch sie habe sich Deutschland einen großen Kostenvorteil gegenüber den Partnerländern erschlichen. Das führe zu hohen Außenhandelsüberschüssen bei uns und entsprechenden Defiziten und immer höherer Verschuldung im Ausland.
Statt einer Replik der kritisierten Konsens-Ökonomen kam etwas, was Bofinger später „friendly fire“ nennen sollte: Beschuss aus den eigenen Reihen. Der Delfter Ökonom Servaas Storm warf Flassbeck, Bofinger & Co. vor, sie verwendeten das gleiche neoklassische Lehrbuchmodell der Währungsunion, das auch Prediger der Austerität und Lohnsenkung wie Hans-Werner Sinn verwendeten, nur dass sie sich eben stärker auf Deutschlands Rolle fokussierten. In einem vom Institute for New Economic Thinking (NET) des Hedgefonds-Milliardärs George Soros publizierten Beitrag kritisierte Storm: Die Keynesianer trügen so zu dem fehlgeleiteten Versuch bei, die Krise über Lohnsenkungen zu lösen, argumentativ zu unterfüttern. Das löste einen öffentlichen Disput mit Repliken von Flassbeck und Bofinger aus.
Der rebellische Niederländer verweist darauf, dass Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit nicht etwa das Exportwachstum der Südländer abgewürgt hätten, sondern dass die Exporte vor und nach der Krise zunahmen. Die Verschlechterung des Außenhandelssaldos vor der Krise und die Verbesserung danach seien ganz überwiegend von den Importen verursacht worden. Das würde darauf hindeuten, dass nicht Wettbewerbsfähigkeit die Hauptrolle spielt, sondern die heimische Nachfrage. „Der Außenhandelssaldo hat sich zuerst verschlechtert, erst später sind die Löhne verstärkt gestiegen“, betont Storm. Zu wenig beachtet werde zudem, dass Löhne gerade in der Industrie einen eher geringen Kostenblock ausmachten. Unterschiede in den Finanzierungskosten seien wichtiger; in diesem Punkt hat Deutschland seit der Finanzkrise einen großen Vorteil.
Finanzströme in der Führungsrolle
Storm ist sich mit der „Konsens-Gruppe“ einig, dass die Finanzströme in der Führungsrolle waren. Der starke Zinsrückgang durch den Übergang zur Währungsunion löste danach in den Südländern einen Kreditboom aus, an dem sich auch die Banken der Nordländer mit großem Eifer beteiligten. So kam es zu dem Kapitalzustrom. Durch die Ausweitung des Kreditvolumens nahm die zahlungskräftige Nachfrage stark zu, was einen sich selbst verstärkenden Boom auslöste. Erst als diese Dynamik längst in Gang war, seien die Löhne stark gestiegen.
Bofinger räumt auf meine Nachfrage ein: „Die Euro-Krise wäre kaum vermieden worden, wenn die Löhne in Deutschland ebenso stark gestiegen wären wie im übrigen Euro-Raum.“ Dennoch wirbt er dafür, die Bedeutung von Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit nicht gänzlich zu leugnen. „Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich bin für höhere Lohnsteigerungen in Deutschland“, sagt auch Storm. „Diese würden aber den Krisenländern nicht helfen, weil Deutschland nicht wegen niedriger Löhne, sondern wegen Technologieführerschaft so erfolgreich ist.“
Seine Motivation, trotzdem die Argumente von anderen Keynesianern für höhere deutsche Löhne anzugreifen, erklärt Storm so: „Eine falsche Diagnose führt auch zu falscher Therapie.“ Für ihn hat die deutsche Lohnpolitik das Problem verstärkt, weil sie die EZB veranlasste, die Zinsen für die übrigen Euro-Länder zu niedrig zu halten, so dass es zu einer übermäßigen Kreditaufnahme kam. Aus diesem Blickwinkel würde man die Abhilfe bei der Geldpolitik suchen und bei Maßnahmen, die Überschuldung abbauen, Kreditklemmen beheben und Kapitalkosten senken. „Wenn man sich auf die relativen Löhne konzentriert, dann verschwinden die wirklich nötigen Maßnahmen aus der Debatte“, beklagt er.
Auch Marxisten kritisieren Diagnose der Keynesianer
Unabhängig von Storm erschien zur etwa gleichen Zeit in der marxismusnahen Zeitschrift PROKLA ein ganz ähnlich argumentierender Beitrag von Frederic Heine und Thomas Sablowski (für Abonnenten; auf Englisch ohne Paywall hier). Grundlage ist eine empirische Untersuchung Heines im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Um die Widerlegung dieses Beitrags kümmerte sich nicht Flassbeck selbst, sondern Paul Steinhart, der gerade dabei ist, mit Flassbeck zusammen das Internet-Magazin „Makroskop“ aus der Taufe zu heben. Steinharts Beitrag auf Flassbeck Economics geht allerdings nicht auf die Argumente und Belege von Heine und Sablowski ein. Er baut seine Kritik vielmehr praktisch allein auf folgendem Zitat aus dem Papier auf:
„Der Zustrom von Kapital ist bestimmend für den Importsog und die damit verbundenen Leistungsbilanzdefizite in den Krisenländern.“
Er nennt das „die Sinn-These“. Diese sei falsch. Ab da argumentiert er nur noch gegen die tatsächlich falsche These von Hans-Werner Sinn, der von Geldströmen ausgeht, wie sie sich klein Fritzchen vorstellt. In Sinns Welt ist eine bestimmte Menge Geld vorhanden, die, wenn sie in die Krisenländer „fließt“, woanders fehlt, grade so wie zu Zeiten als Geld noch im Wesentliche aus Gold- und Silbermünzen bestand.
Steinhart behauptet zwar noch beleglos, die Sinn-These in der Version „linker Theoretiker“ beruhe auf dem „Onkel Dagobert“ Bild eines Kapitalisten, der auf Säcken voller Geld sitzt sich den Kopf zerbricht, wie er dieses Geld gewinnbringend anlegen kann. Dann geht er aber nur noch auf Sinn selbst und seine These ein. Sinn hatte verschiedentlich argumentiert, die Krise sei entstanden, weil deutsche und französische Banken Kapital in die Krisenländern transferiert hätten, das dann der heimischen Wirtschaft fehlte, während es gleichzeitig in den Krisenländern einen Boom auslöste, der irgendwann in den „Bust“ überging, als der Kapitalzustrom versiegte.
Steinhart stimmt Sinn nur in einem Fall zu:
„Kapital, das, wie behauptet, einen Investitionsboom zu initiieren erlaubt, ist ganz wesentlich kein Bargeld, sondern Buchgeld. (…) Beteiligt sich Onkel Dagobert an einem spanischen Immobilienentwickler mit 1 Million Euro, dann reduziert sich das Guthaben auf seinem Konto um diesen Betrag und das Guthaben des spanischen Immobilienentwicklers erhöht sich entsprechend um 1 Million Euro. In diesem Fall macht es zweifellos Sinn, von einem Kapitalexport Onkel Dagoberts nach Spanien zu reden, denn nun hat ein Spanier Geld, das er verwenden kann, um eine Investition in eine Immobilie zu tätigen, und Onkel Dagobert hat ein Recht, an den möglichen Gewinnen dieser Investition zu partizipieren.“
So weit so korrekt. Nun aber versucht Steinhart zu begründen, warum eine Finanzbeteiligung andere Finanzströme hervorruft als ein leistungsbilanzrelevanter Export.
„Nehmen wir an, ein Leistungsbilanzdefizit entstehe alleine aufgrund des Kaufs einer Baumaschine eines spanischen Bauunternehmers von einem deutschen Maschinenbauer im Wert von 1 Millionen Euro. Nun ist (…) mehr Geld in Deutschland und weniger in Spanien. (E)ine spanische Organisation (muss) nun eine Verbindlichkeit gegenüber einer ausländischen Organisation eingehen. Es ist die spanische Bank, die das Girokonto ihres Kunden zur Abwicklung des Kaufs der Baumaschine mit 1 Million Euro belastet hat.“
Ab da wird es wirr, wohl weil er in der Abfolge den ersten Schritt überspringt. Die spanische Bank belastet wahrscheinlich nicht einfach das Girokonto des spanischen Bauunternehmers, sondern sie gibt diesem zunächst den nötigen Kredit, um sein Konto hinreichend aufzufüllen, mit annahmegemäß 1 Million Euro. Diese 1 Million streicht sie dann gleich wieder und überweist das Geld nach Deutschland. Das geht so, dass sie die deutsche Bank des Baumaschinenproduzenten anweist, diesem 1 Million Euro gutzuschreiben. Im Gegenzug bekommt die deutsche Bank eine Geldmarktforderung (Anspruch auf Zentralbankgeld) gegen die spanische Bank von 1 Million Euro.
Im Ergebnis wurde die Kaufkraft in Spanien durch Kreditvergabe um 1 Million Euro ausgeweitet. Da sich die Kaufkraft auf ausländische Waren bezog, führte dies zu einem um 1. Million Euro erhöhten Leistungsbilanzdefizit. Dieses wurde durch den Geldmarktkredit der deutschen an die spanische Bank finanziert.
In der Führungsrolle war also die Kreditvergabe der spanischen Bank. Diese konnte allerdings nur so großzügig und massenhaft Kredit geben, weil ausländische Banken wiederum ihr großzüig und zu günstigen Bedingungen Kredit gaben. Das heißt allerdings noch nicht, dass die deutschen Banken (allein oder vor allem) schuld an der Krise sind. Hätten sie die Geldmarktkredite nicht gegeben, etwa weil sie geahnt (und entsprechend gehandelt) hätten, dass das irgendwann schief geht, wenn die Immobilienblase platzt, hätte sich die spanische Bank bei der EZB das nötige Zentralbankgeld besorgt. Sie hätte dabei – bei gegebener Zentraolbankgeldmenge – den Zins nach oben getrieben. Die EZB verfolgte aber – wie heutzutage alle großen Zentralbanken – die Politik, immer „genug“ Zentralbankgeld bereitzustellen, damit die Banken ihre Zahlungsverpflichtungen untereinander und ihre Mindestreservepflicht problemlos erfüllen können. Da beides im Zuge des Kreditbooms in den späteren Krisenländern anstieg, stellte die EZB mehr Zentralbankgeldkredite zu Verfügung. Nur deshalb war der Geldmarkt so flüssig, dass die spanischen Banken ihren Kreditboom problemlos über den Geldmarkt refinanzieren konnten. Letztlich ist es also die EZB, die den Kreditboom finanzierte, weil sie entgegen ihrer erklärten Politik die viele Jahre lang zweistelligen Kreditwachstumsraten in den Krisenländern nicht als Problem identifizierte und problemlos alimentierte.
Exkurs: Im Zuge der Finanzkrise bekamen spanische Banken keine Geldmarktkredite mehr von anderen Banken und die 1 Million Zentralbankguthaben musste direkt vom Zentralbankkonten der spanischen Bank auf das der deutschen Bank transferiert werden. Wenn es nicht vorhanden war, gab die EZB zu nun sehr großzügigen Bedingungen Kredit.
Wenn diese Darstellung stimmt, dann ist folgendes Resümee Steinharts irreführend:
„Es gibt also keinen Nettozufluss von Geld, der für einen Investitionsboom und einen ‚Importsog‘ sorgen könnte.“
Vielmehr gilt: Ausländische Banken (oder die EZB) haben der spanischen Bank zusätzlichen Kredit gewährt, mit dem diese den Kauf der Baumaschinen auf Kredit und damit das Leistungsbilanzdefizit finanzieren konnte.
Dass Steinhart sich mit dem theoretischen Nachweis der Unmöglichkeit eines kreditgetriebenen Importsogs zu viel vorgenommen hat, erschließt sich leicht, wenn man bedenkt, dass es dann auch keinen kreditgetriebenen Boom am amerikanischen Immobilienmarkt hätte geben können. Es sollte jedoch unstreitig sein, dass die massenhafte Gewährung von Subprime-Hypothekenkrediten ab den frühen Nuller-Jahren an Hauskäufer ohne ausreichendes Einkommen zu zusätzlicher Immobiliennachfrage geführt und somit den Boom befeuert hat.
Nachdem dieser theoretische Nachweis Steinharts absehbar gescheitert ist, entfällt die Rechtfertigung, auf die empirischen Nachweise von Heine und Sablowski nicht einzugehen, dass nicht der von Lohndivergenzen getriebene Warenhandel, sondern die Finanzströme die Führungsrolle beim Aufbau der gefährlichen Ungleichgewichte im Euroraum hatten. Heine und Sablowski haben daher ebenso wie Storm Recht, wenn sie sagen: Es reicht nicht, die Lohnpolitik am Erfordernis der Bewahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts im Euroraum auszurichten. Man muss sich auch darum kümmern, was die Finanzbranche antreibt und was sie treibt. Außerdem haben Heine und Sablowski Recht, wenn sie die These kritisieren, der deutsche Neo-Merkantilismus sei dumm, weil er den eigenen Interessen der dortigen Unternehmen widerspreche. So führe etwa die Krise in anderen Ländern des Euroraums dazu, dass der Euro niedrig bewertet bleibt und somit die deutschen Exporte billig bleiben. Sie übersehen dabei sogar noch ein zusätzliches Argument, das ihre Gegenthese unterfüttert: Der im Zuge der Krise stark gestiegene Zinsvorteil des deutschen Staates und der deutschen Unternehmen gegenüber anderen Ländern bringt den deutschen Unternehmen einen ganz erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen aus den Krisenländern. Diesen können die Krisenländer auch durch massive Lohnkürzungen kaum wettmachen.
Hier rückt dann die EZB statt oder zusätzlich zur Lohnpolitik in den Fokus. Sie hat bis 2012 die stark auseinanderlaufenden Zinsen toleriert und sogar politisch instrumentalisiert, indem sie begrenzte Gegenmaßnahmen ausdrücklich davon abhängig gemacht hat, dass die betroffenen Regierungen Sozialkürzungen und Ähnliches nach detaillierten Vorgaben der EZB beschlossen. Erst als Finanzmärkte und Währungsunion deshalb kurz vor dem Kollaps standen, kam die entschlossene Gegenreaktion von der EZB, die die Zinsdifferenzen stark schrumpfen lies. Jetzt, wo sich die Lage beruhigt zu haben scheint, fängt die EZB aber schon wieder an, Regierungen mit zunehmenden Zinsaufschlägen zu erpressen, wie zum Beispiel am gestrigen Montag Portugal.