Streit von IWF und EU über die desaströse Krisenpolitik: Der politische und der methodische Hintergrund

Gemeinsam haben EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) den Krisenländern des Euro-Raums detaillierte Spar- und Reformprogramme vorgeschrieben, die diese als Bedingung für Finanzhilfen umsetzen mussten. Aufsehen erregt hat deshalb jüngst ein Aufsatz von IWF-Ökonomen mit dem Titel „Neoliberalism: Oversold?“ Er kritisiert genau diese Politik. Dahinter steht politisches Kalkül und die opportunistische Wahl der ökonomischen Argumentationsmethode.

Es ist nicht das erste Mal, dass der IWF Fehler einräumt. Der ehemalige Chefvolkswirt Olivier Blanchard hatte schon vor Jahren moniert, dass Kommission und IWF Jahr für Jahr ihren Programmen viel zu hohe Wachstumswirkungen zugeschrieben hatten. Und als Konsequenz daraus hatte er eingeräumt, dass man die Nachfrageseite vernachlässigt habe. Mit dem ersten Programm für Griechenland 2010 etwa ging die Prognose von IWF und Kommission einher, die Wirtschaft werde 2011 dank reformbedingter Produktivitätssteigerungen nur um 1,1 Prozent schrumpfen. Es wurden 6,7 Prozent. Die Produktivitätsgewinne wurden in die Zukunft verschoben, so dass auch die Prognosen für die Folgejahre viel zu hoch ausfielen. Bei anderen Krisenländern waren die Fehlprognosen weniger drastisch, gingen aber in die gleiche Richtung.

Die EU-Kommission dagegen hat im April eine weitere große Studie zu Wirkungen der Strukturreformen in Frankreich, Spanien, Italien und Portugal veröffentlicht. Darin kommt sie zu dem Ergebnis, diese Reformen würden das Wachstum steigern.

Politisch ist die Meinungsverschiedenheit leicht zu erklären. Sie ist eingebettet in einen Streit zwischen Washington, das sich insbesondere eine weniger strikte Sparpolitik in Europa wünscht, insbesondere, ja eigentlich fast nur von Deutschland, und Berlin sowie Brüssel, die sich diesem Ansinnen widersetzen. Doch wie kommen ähnlich ausgebildete Ökonomen zu so unterschiedlichen Einschätzungen?

Reale Daten (WF) versus abgehobene Modellwelt (EU)

Die IWF-Ökonomen argumentieren wie schon Blanchard mit realen Wirtschaftsdaten.  Diese werden mit statistischen Methoden daraufhin untersucht, welche Wirkungen Maßnahmen auf die Entwicklung von Wirtschaftswachstum, Staatshaushalt, Arbeitslosigkeit und andere interessierende Ergebnisgrößen haben.

Die Ökonomen der EU-Kommission dagegen argumentieren und rechnen in Modellen, in ihrem Fall vor allem mit dem makroökonomischen Modell „Quest“ der EU-Kommission. In solchen Modellen sind die Wirkungsrichtungen von wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Annahmen enthalten. Wie realistisch die ermittelten Wirkungen der Reformen sind, hängt also daran, wie gut die Modellbauer die Einflüsse abgebildet haben, die in der Realität bedeutsam werden.

Die IWF-Ökonomen stellen für Krisenzeiten wachstumsdämpfende Effekte von Austerität und „neoliberalen“ Strukturreformen fest – also Reformen, die den Marktkräften stärker zum Durchbruch verhelfen sollen, wie etwa dem Abbau von Kündigungshemmnissen und Tarifbindungen. Um sich das theoretisch plausibel zu machen, greifen sie auf Elemente der keynesianischen Theorie zurück.  Insbesondere berücksichtigen sie, dass in einer Wirtschaftskrise die Kapazitäten stark unterausgelastet sind, dass es unfreiwillige Arbeitslosigkeit und dass es ein Nachfrageproblem gibt. Letzteres bewirkt, dass verbesserte Angebotsbedingungen nicht unbedingt zu mehr Produktion führen, sondern diese sogar dämpfen können.

Das Quest-Modell der Kommission ist ein sogenanntes neukeynesianisches Modell, im Fachjargon auch DSGE-Modell genannt – die englische Abkürzung von „Dynamisch-stochastisches allgemeines Gleichgewichtsmodell“. Der Name „neukeynesianisch“ führt etwas in die Irre. Denn Nachfragemangel als ein zentrales Problem in der Wirtschaftskrise kommt darin kaum vor. Entsprechend spielen Nachfrageeffekte in den Studien zur Wirkung von Reformprogrammen der EU-Kommission auch keine nennenswerte Rolle. „Keynesianisch“ an den Modellen ist nur, dass sich vor allem die Preise, aber auch die Löhne nur mit Verzögerungen an veränderte Bedingungen anpassen. Deswegen dauert es bei einer Störung des Gleichgewichts von außen immer etwas, bis das neue Gleichgewicht erreicht ist.

Das Gleichgewicht ist in dem Modell durch optimale Auslastung der Produktionskapazitäten und Abwesenheit von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Dass das Arbeitsangebot der Arbeitnehmer zum Teil weit hinter dem möglichen zurückbleibt, geht auf Optimierung durch die Haushalte zurück.  Diese sind – in der Diktion der Ökonomen – arbeitsscheu. Arbeit verursacht danach Arbeitsleid, und zwar mit jeder Stunde Arbeitszeit überproportional mehr.  Dem steht der mit jeder zusätzlich gearbeiteten Stunde einhergehende Konsumnutzen gegenüber, den der Lohn ermöglicht. In einer Studie der Kommissionsökonomen Janos Varga and Jan in’t Veld aus dem Jahr 2014, in der die Wirkungsweise verschiedener Maßnahmen im Quest-Modell genauer beschrieben wird, heißt es:

„Arbeitslosengeld wirkt im Modell als Subvention des Nichtstuns. Eine Senkung reduziert den (geforderten) Lohn und erhöht dadurch die Arbeitsnachfrage.“

In dem Modell äußert sich das darin, dass der repräsentative Durchschnittsarbeitnehmer dann zum Beispiel 27 Stunden statt 26 Stunden arbeitet. Gewerkschaften agieren als Machtmittel der Arbeitnehmer. Sie sorgen dafür, dass weniger Arbeit angeboten wird und so der Preis für Arbeit höher ist als das Arbeitsleid einer zusätzlichen Stunde Arbeit. Drückt man diesen monopolistischen Lohnaufschlag, etwa indem man die Gewerkschaften entmachtet, steigt die Beschäftigung. Marktmacht auf der Arbeitsnachfrageseite gibt es in dem Modell nicht. Das führt zum Beispiel dazu, dass Mindestlöhne auf jeden Fall die Beschäftigung vermindern und abgeschafft oder gesenkt werden müssen.

Da es unfreiwillige Arbeitslosigkeit nur kurzfristig in geringem Maße gibt, führen leichtere Entlassungen zu Effizienzsteigerungen, weil die am falschen Ort beschäftigten Arbeitnehmer schneller zu neuen Unternehmen kommen, die sie wirklich brauchen. Senkt man die Sozialhilfe, so bringt man die Haushalte dazu, mehr arbeiten zu wollen und dies zu einem geringeren Lohn zu tun. Die Beschäftigung steigt, und es gibt weniger (freiwillige) Arbeitslosigkeit.

Opportunistische Wahl des Modells

Auch die Modelle des IWF (oder der Europäischen Zentralbank) sind solche absurden DSGE-Modelle. Aber wenn die IWF-Ökonomen gegen die Austerität und harte Strukturreformen argumentieren, so tun sie das nicht auf Basis ihrer Modelle, sondern auf Basis einer damit nicht kompatiblen Theorie, in der es unfreiwillige Arbeitslosigkeit gibt, die bei sinkenden Löhnen vielleicht noch steigt, weil die Menschen einerseits einen gewissen Mindestbedarf haben, den sie decken müssen, andererseits Lohnsenkungen zu Nachfragerückgang führen, der Produktionseinschränkungen zur Folge haben kann. Leichtere Entlassungen können in dieser Theorie zu höherer Arbeitslosigkeit führen, vor allem in der Krise.

Der IWF ist zwar weiterhin für Arbeitsmarktliberalisierung, aber aus Gründen, die im Quest-Modell nicht vorkommen können. Abteilungsleiter Romain Duval forderte am 16. Juni in Berlin: „Man muss in guten Zeiten deregulieren, nicht in schlechten.“

Der Geschwisterstreit der Ökonomen findet seinen Widerhall in den unterschiedlichen Sichtweisen der Ökonomenzunft. Typisch für die in den USA vorherrschende Sicht ist ein Beitrag von Brad Setser, Senior Fellow am Council on Foreign Relations, mit dem Titel „The pain in Spain is easy to explain“. Darin argumentiert er, dass der Rückgang der Beschäftigung und der einhergehende drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit in Spanien im Zuge der Krise auf über 20 Prozent fast genau im Gleichlauf mit dem Rückgang der inländischen Nachfrage stattfand.

Für die Sichtweise deutscher Ökonomen typisch ist eher eine Studie von Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft. Er argumentiert, mangelnde Reaktionsfähigkeit von Löhnen und Preisen in Südeuropa habe „maßgeblich zu den entstandenen ökonomischen Ungleichgewichten und im Gefolge der Krise zu einem sehr starken Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen“. Entsprechend misst er den Erfolg der Arbeitsmarktreformen daran, wie stark im Gefolge die Löhne gesunken sind. Dies habe dann im Falle Spanien zu einer „Dämpfung des Anstiegs der Arbeitslosigkeit“ oder im Fall Griechenland zu „einer dynamischeren Entwicklung von Neueinstellungen trotz einer negativen Wirtschaftsentwicklung“ geführt.

Wie Erdbeben muss man wohl Zynismus auf nach oben offenen Skalen messen.

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