Indiens Regierungschef Narendra Modi hat im November 2016 überfallartig die meisten Geldscheine aus dem Verkehr gezogen. Wissenschaftler weisen nun nach: Unter dem Bargeldentzug hat die Wirtschaft weit stärker gelitten als die Statistik bislang auswies. Keines der erklärten Ziele wurde auch nur annähernd erreicht.
Am 8. November 2016 wurde nicht nur Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt. Es war auch der Tag, an dem Indiens Ministerpräsident Narendra Modi völlig überraschend ein gigantisches Geldexperiment verkündete. Er verbot mit fast sofortiger Wirkung, die beiden größten Geldscheine zu 500 und 1 000 Rupien im Wert von rund sieben und 14 Euro weiter als Zahlungsmittel zu benutzen. Besitzer mussten sie bei Banken auf ein Konto einzahlen – bei größeren Mengen unter Nachweis der Herkunft. Damit waren 86 Prozent des umlaufenden Bargelds aus dem Verkehr gezogen.
Die Notenbank gab zwar neue Scheine im Wert von jeweils 2 000 Rupien aus. Aber es dauerte lange, bis diese gedruckt und verteilt waren. Für viele Käufe waren sie mangels Wechselgeld nicht zu gebrauchen.
Wochenlang war extrem wenig Bargeld in Umlauf. Bis die Lage sich einigermaßen normalisiert hatte, dauerte es Monate. Hunderte Millionen Menschen mussten zu Beginn tagelang in langen Schlangen vor Bankschaltern ausharren, anstatt ihrer Arbeit nachgehen zu können.
Glaubt man der offiziellen Statistik, dann hatte das alles kaum einen Effekt auf die Wirtschaft. Im März 2017 verkündete das Statistikamt ein Wirtschaftswachstum im 4. Quartal 2016 von sieben Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Selbst wenn man die in dem Quartal stark gestiegenen Staatsausgaben herausrechnete, war die Wachstumsrate mit sechs Prozent nur gut einen halben Prozentpunkt niedriger als im Vorjahresquartal.
Mangelhafte Statistik
Doch vier Ökonomen von der Harvard Universität, von Goldman Sachs und von der indischen Zentralbank Reserve Bank of India (RBI) haben nun in dem Aufsatz „Cash and the Economy: Evidence from India’s Demonetization“ gezeigt, dass der Schaden für die Wirtschaft viel größer war.
Warum die Demonetisierung in der offiziellen Statistik kaum Spuren hinterließ, erklären die vier damit, dass 90 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung im informellen Sektor erbracht werden, und damit statistisch nicht erfasst sind. Dieser Teil der Wirtschaft ist besonders auf Bargeld angewiesen. Eine geschätzte Wirtschaftsleistung des informellen Sektors wird zwar in das ausgewiesene Bruttoinlandsprodukt eingerechnet – aber eben jahrelang mit dem gleichen, nur trendmäßig fortgeschriebenen Betrag.
Die Ökonomen nutzten für ihre Studie stattdessen drei alternative Indikatoren. Alle deuteten auf einen „scharfen und ökonomisch bedeutsamen Abfall der wirtschaftlichen Aktivitäten“ nach der Demonetisierung hin. Der erste Indikator war eine große landesweite Umfrage zur Beschäftigung. Der zweite waren Satellitenbilder zur nächtlichen Lichtintensität. Und der dritte Indikator war die Kreditvergabe der Banken.
Um das Ausmaß der wirtschaftlichen Schäden zu beziffern und die Bargeldknappheit als Ursache zu verifizieren, brachen die Ökonomen die entsprechenden Daten auf Regionen herunter und verglichen die Veränderung mit den regionalen Unterschieden im Ausmaß der Bargeldknappheit. Das neue Bargeld der Zentralbank kam nämlich aus logistischen Gründen unterschiedlich schnell in den Geldautomaten und Banken der verschiedenen Regionen an.
Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die indische Wirtschaftsleistung im letzten Quartal 2016 gegenüber dem dritten geschrumpft ist und die Quartalswachstumsrate um mindestens zwei Prozentpunkte niedriger lag als ohne das drastische Geldexperiment.
Ist das viel? Einerseits ja, schreiben die Ökonomen, andererseits sei es aber nur ein Bruchteil der 86-prozentigen Bargeldverknappung. Die Menschen hätten Alternativen gefunden, seien es Kartenzahlung, mobile Bezahlsysteme oder das gute alte Anschreiben. Da vor allem die etwas besser Gestellten und die Unternehmen der formellen Wirtschaft gute Ausweichmöglichkeiten hatten, kaum aber die Armen, die Wanderarbeiter und die Kleinstgewerbetreibenden auf dem Land, dürfte sich der ökonomische Schaden auf Letztere konzentrieren.
Zwang zum digitalen Bezahlen
Das erzwungene Ausweichen der Menschen auf digitale Bezahlverfahren gehörte zu den erklärten Zielen der Aktion, wenn auch nicht von Anfang an. Zu Anfang hatte die Regierung erklärt, es gehe darum, Schwarzgeld aus dem System zu spülen sowie darum, Geldfälschung, Steuerhinterziehung und Terrorismus zu bekämpfen. Einige Wochen später kam als weiteres Ziel die Förderung der „finanziellen Inklusion“ hinzu. Laut Weltbank steckt dahinter die Idee, dass alle Menschen, insbesondere auch die sehr armen, Zugang zu kommerziellen Finanzdienstleistungen haben und diese regelmäßig nutzen sollten.
Nach den Daten der Zentralbank wurden nur 0,7 Prozent der für ungültig erklärten Banknoten nicht innerhalb der Frist umgetauscht. Die Schwarzgeldhalter fanden offenkundig Wege zur Legalisierung. Für viele andere hatte die erhöhte Transparenz dagegen üble Konsequenzen. Die Fälle von häuslicher Gewalt schossen im November nach oben, weil Frauen, die Bargeld vor ihren Ehemännern versteckt hatten, ihr Geheimnis lüften mussten.
Vom Kampf gegen den Terrorismus war ohnehin sehr bald keine Rede mehr gewesen, umso mehr dann aber von der Modernisierung und Digitalisierung Indiens und eben von der „finanziellen Inklusion“. Modi selbst betätigte sich intensiv als Werber für mobile Bezahlverfahren.
Kein Geld für ein Konto
Hasina Daya und Philip Mader vom britischen Institute of Development Studies haben untersucht, wie stark die Wirkung des Bargeldentzugs auf die „finanzielle Inklusion“ war. Sie verglichen die Daten für Indien aus der Findex-Datenbank der Weltbank zur Nutzung von Finanzdienstleistungen aus den Jahren 2011, 2014 und 2017, um zu sehen, ob es einen Bruch in den Daten gab.
Zwar ging die Anzahl der Konten zwischen 2014 und 2017 steil nach oben, aber das hatte sie auch schon von 2011 bis 2014 getan. Viele der Konten werden allerdings fast oder gar nicht genutzt. Obwohl deutlich mehr als die Hälfte der Inder ein Bankkonto haben, gaben auch 2017 nur 20 Prozent an, bei einer Finanzinstitution zu sparen, bescheidene sechs Prozentpunkte mehr als drei Jahre zuvor. Kreditnehmer bei einer Finanzinstitution waren sogar nur sieben Prozent. Das waren weniger als 2014 und sogar als 2011.
„In einem Land, in dem viele Menschen sich Sorgen um die nächste Mahlzeit der Familie machen und sich keine Bildung und sanitären Anlagen leisten können, geht es an der Problemlage vorbei, wenn die Regierung finanzielle Dienstleistungen priorisiert.
Der Anteil derer, die angaben, schon einmal eine digitale Zahlung bekommen oder veranlasst zu haben, stieg zwar von 2014 bis 2017 von 19 auf 29 Prozent. Aber in gewissem Gegensatz zu den euphorischen Erfolgsmeldungen der Anbieter und der Werbung durch den Ministerpräsidenten sank der Anteil derer, die ein Mobilgeld-Konto hatten, von 2,4 auf 2,0 Prozent.
Die Gründe waren leicht zu finden: Über die Hälfte der Teilnehmer an den Findex-Befragungen gab an, sie hätten zu wenig Geld, um ein Konto zu nutzen; über ein Viertel sagte, es sei zu teuer; einem Viertel fehlten nötige Dokumente und ein Fünftel vertraute den Finanzinstituten nicht. Das Fazit der Autoren: „In einem Land, in dem viele Menschen sich Sorgen um die nächste Mahlzeit der Familie machen und sich keine Bildung und sanitären Anlagen leisten können, geht es an der Problemlage vorbei, wenn die Regierung finanzielle Dienstleistungen priorisiert.“