Wider die Mär vom Humankapital

,Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ist in Deutschland und international ein heißes Wahlkampfthema geworden, auch im laufenden Europawahlkampf. Ökonomen und Wirtschaftsverbände empfehlen als Maßnahme gegen die Ungleichheit fast unisono, in Bildung vor allem der Benachteiligten zu investieren, um deren Humankapital zu steigern. Denn, so die Argumentation: Wenn wir in das „Humankapital“ investieren, erhöht das die Produktivität der Begünstigten und sie können höhere Einkommen erzielen. Dadurch geht dann die Ungleichheit zurück.

Die Theorie dahinter ist die neoklassische Humankapitaltheorie. Die Neoklassik geht davon aus, dass Arbeit und Kapital jeweils mit ihrem sogenannten Wertgrenzprodukt entlohnt werden, also mit dem, was bei Einsatz einer weiteren Stunde Arbeit oder einer weiteren Einheit Kapital herauskommt. Vergütungsunterschiede zwischen Beschäftigten lassen sich folglich darauf zurückführen, dass deren Arbeit unterschiedlich produktiv ist.

Das klassische Werk dazu, das das Denken vieler Ökonomen bis heute bestimmt, heißt „Human Capital“ und stammt bereits aus dem Jahr 1964, vom Chicago-Ökonomen und Nobelpreisträger Gary Becker. Humankapital wird darin als weiterer Produktionsfaktor neben Kapital und standardisierter Arbeit gesehen. Es macht Arbeit produktiver. Alles, was durch Schulbildung, elterliche Erziehung und sonstige „Investitionen“ erfolgreich getan wird, um die Fertigkeiten und damit die Produktivität eines Menschen zu steigern, erhöht das Humankapital dieses Menschen.

Pioniere wie Jacob Mincer haben früh den empirischen Nachweis erbracht, dass mehr Humankapital – gemessen an Jahren der Schulbildung – mit höheren Einkommen einhergeht. Der Befund hat jedoch auch einen Haken. Der gemessene Einfluss der Schulbildung auf das Einkommen erklärt nur einen kleinen Bruchteil der bestehenden Einkommensungleichheit. Das räumen auch Eric Hanushek und Ludger Wößmann im vor einigen Jahren erschienenen Überblicksaufsatz „The role of cognitive skills in economic development“ unumwunden ein. Sie erklären das damit, dass Jahre der Schulbildung Humankapital zu ungenau messen.

Geringe Erklärkraft

Indem man auf Fertigkeiten abstelle, die durch harmonisierte Vergleichsstudien wie den Pisa-Test gemessen werden, könne man mehr erklären. Doch auch damit ist der Erklärungsbeitrag eher bescheiden. Wer bei der Mathematikkompetenz gerade so das obere Drittel der Schülerinnen und Schüler erreiche, könne mit einem um 12 Prozent höheren Lebenseinkommen als der mittlere Schüler rechnen, haben sie ermittelt. Wenn das der einzige Einfluss auf die Lohnhöhe wäre, müssten über zwei Drittel im Bereich von plus bis minus 12 Prozent vom mittleren Einkommen liegen. Tatsächlich liegen aber nach Berechnungen des DIW in Deutschland weniger als zwei Drittel im sehr viel weiteren Bereich zwischen minus 33 Prozent und plus 200 Prozent des mittleren Einkommens.

Dieses Problem der Humankapitaltheorie wird als Galton-Pareto-Paradoxon bezeichnet. Die Fertigkeiten der Menschen sind in etwa „normalverteilt“, also entsprechend der Glockenkurve, wie Francis Galton schon vor etwa 150 Jahren feststellte. Es gibt besonders viele nahe der Mitte und kontinuierlich weniger mit geringeren beziehungsweise höheren Fertigkeiten. Demgegenüber weisen die Einkommen eine sehr viel stärker polarisierte „Pareto-Verteilung“ auf, mit besonders vielen eher niedrigen Einkommen und einigen sehr hohen Einkommen, die einen weit überproportionalen Teil des Gesamteinkommens auf sich vereinigen.

Theoretisch ist es trotzdem möglich, Einkommensunterschiede mit unterschiedlicher Produktivität zu erklären, räumt Kritiker Blair Fix von der York University in seinem aktuellen Beitrag „The trouble with human capital theory“ ein. Gern werde zum Beispiel angenommen, dass die verschiedenen Fertigkeiten erst in Kombination miteinander die Produktivität bestimmten. Noch leichter macht man es sich, wenn man unbeobachtete oder nicht messbare Fähigkeitsunterschiede zur Erklärung der Produktivitäts- und Einkommensdifferenzen heranzieht. Für Fix ist das unzulässig: „Karl Popper hat uns schon 1959 vor Theorien gewarnt, die jedes mögliche Ergebnis (empirischer Untersuchungen) erklären können“, kritisiert er diesen beliebten Ansatz. Er sieht eine unentrinnbare Zwickmühle der Humankapitaltheorie:

„Messbare Definitionen von Humankapital zeigen geringe Übereinstimmung mit dem Einkommen. Umfassendere Definitionen sind so vage, dass man nichts mehr messen kann.“

Damit hören die Probleme nicht auf. Denn auch die Produktivität einer Arbeitskraft lässt sich nicht objektiv messen. Dazu müsste man isolieren können, wie viel vom Produktionsergebnis auf die Beschäftigten und wie viel auf das eingesetzte Kapital zurückgeht. Das ist in den seltensten Fällen möglich. Denn Arbeit und Kapital sind in der Regel nur dann voll produktiv, wenn sie in optimaler Kombination zueinander eingesetzt werden. Noch schlimmer für die Theorie: Weder Arbeit noch Kapital haben eine messbare Einheit. Die standardisierte Arbeitseinheit ist nur ein theoretisches Konstrukt. Und wie die sogenannte Cambridge-Kapital-Kontroverse schon vor einem halben Jahrhundert ergeben hat, gibt es keine Möglichkeit, das eingesetzte Kapital zu messen, also die Summe aus einem Kran, einem Hammer und einem Regal zu bilden. Man kann natürlich annehmen, dass eine Stunde Arbeit verschiedener Leute und das eingesetzte Sachkapital so produktiv sind, dass sie genau das wert sind, was sie kosten. Aber das bedeutet, das Ergebnis vollständig in die Annahmen zu packen.

Weil sie vorgebe, die Einkommensverteilung zu erklären, in Wahrheit aber nichts Substanzielles dazu beitrage, bezeichnet Fix die Humankapitaltheorie als „Hindernis für die wissenschaftliche Untersuchung der Einkommensverteilung“.

Hierarchie erklärt viel mehr als Fähigkeiten

Ein ergiebigerer Erkläransatz für die Einkommensverteilung ist für Fix die Bezahlung nach Hierarchiestufen. So lasse sich allein mit der Anzahl der Untergebenen die innerbetriebliche Gehaltsverteilung in großem Umfang erklären. Messbare Fähigkeitsunterschiede spielten dagegen eine geringe Rolle für die Entlohnung, innerhalb einer Hierarchiestufe sogar eine sehr geringe.

Es gibt eine etablierte Theorie aus der Managementforschung, die große Gehaltsunterschiede bei geringen Fähigkeitsunterschieden voraussagt: die Turnier-Theorie. Danach ist die Beförderung auf die nächste Hierarchiestufe der große Preis, den jeweils nur einer oder eine gewinnen kann. Der Gehaltszuwachs für die Siegerin kann dabei in Relation zu den Fähigkeitsunterschieden der Kandidaten sehr groß sein.

Auch wenn das die richtige Theorie ist, kann man gut für vergrößerte Bildungsanstrengungen eintreten, um für größere Chancengleichheit zu sorgen.  Die Ungleichheit der Einkommen ließe sich dadurch aber kaum reduzieren.

Weniger etabliert sind Ansätze, die die großen Gehaltsunterschiede zwischen unterschiedlichen Berufen erklären: Warum zum Beispiel werden Beschäftigte in der Kinder- und Altenbetreuung in Deutschland schlecht bezahlt, und warum ist das in anderen Ländern anders? Auch dabei kommt man mit Rückgriff auf unterschiedliche Fähigkeiten und Produktivität wahrscheinlich nicht weit. Verteilungsfragen sind nun einmal politische Fragen, Machtfragen. Sie haben wenig mit Fähigkeiten und nichts mit einem imaginären „Humankapital“ zu tun. 

[26.3.2019]

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