Verhaltensökonomik im Dienst der Moralbeseitigung

Jürgen Hardt, Gründungspräsident der Psychotherapeutenkammer Hessen, hat auf der „Pluralistischen Ergänzungsveranstaltung“ zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik den Auftaktvortrag gehalten zu den psychoanalytischen Grundlagen von Behvaioral Economics und Behavioral Finance. Besprochen wird neben Daniel Kahneman, Gerd Gigerenzer, Robert Shiller und Uwe Jean Heuser auch David Tuckett, der in einer Session der Haupttagung auftritt. Hardt ist ziemlich kritisch mit der Adaption der Erknntnisse der Psychologie  durch die Ökonomen.

Jürgen Hardt, Münster am 06. September 2015:

Die Verhaltensökonomik aus fachpsychologischer Sicht – Psychologisierung als Exkulpation?

Meine Damen und Herren,

vielleicht fragen Sie sich, was ein Psychoanalytiker zu ökonomischen Grundfragen sagen kann. Ich werde ökonomisch geläufige Konzepte in einem anderen Kontext diskutieren und versuchen, Sie zu psychologischen Überlegungen zu führen. Mithilfe einer solchen methodischen Verfremdung (Fritz Wallner) ist es möglich, interdisziplinär Grundpositionen aus ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit herauszurücken und zu klären.

I

Auf ökonomische Fragen bin ich erst spät in meinem Berufsleben gestoßen, nämlich als Präsident einer Psychotherapeutenkammer während der sogenannten Gesundheitsreformen. Reformen, die nicht die Gesundheit erneuern wollten, wie die Reformbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern das Gesundheitsversorgungssystem umbauten und Schritt für Schritt die ehemals solidarische Krankenbehandlung in einen Gesundheitsmarkt transformierten; eine Transformation mit erheblichen Folgen.

Die Behandlung von Krankheiten trat in den Hintergrund, die Produktion der Ware Gesundheit drängte sich vor, was von führenden Gesundheitsökonomen als Fortschritt angesehen wurde. Wesentliche Diskurs- und Machtverschiebungen traten im sogenannten Gesundheitsversorgungssystem ein, besonders aber änderte sich das leitende Menschenbild:

Die Patienten wurden zu Kunden, was als Erfolg gepriesen wurde. Der Wert von solidarischer Verpflichtung gegenüber dem Kranken wandelte sich. Anstelle von Solidarität und Brüderlichkeit traten Wettbewerb und Fairness auf dem Markt. Diese Entwicklung wurde mit dem „Wettbewerbsstärkungsgesetz im Gesundheitswesen“ vollendet.

Ich erwachte aus einem ideologischen Tiefschlaf in einer neoliberalen Wirklichkeit, in der ich mich erst zurechtfinden musste. Ich entdeckte die postmoderne Ideologie, ein Zusammenspiel von Ökonomismus, Globalismus und Digitalismus. Diese Strömungen haben stillschweigend die großen Erzählungen der Moderne – Aufklärung und Demokratisierung – abgelöst. Die ideologische Postmoderne hat scheinbar eine neutrale, nüchterne Sicht auf die Welt, sie versteht sich als Ende der Geschichte.

In diesem Zusammenhang stieß ich erstmals auf das psychologisch äußerst befremdliche Wesen „homo oeconomicus“ und begann mich mit ihm zu beschäftigen. Zuerst mit seiner Geschichte, die verzweigter und raffinierter ist, als sie in den gängigen Erzählungen des Mainstreams erscheint. Was mich als Analytiker besonders interessierte, ist sein angebliches Herkommen von Hobbes, dieselbe Wurzel wie das Menschenbild Freuds. Befremdlicher Weise spielt aber in dieser Version die Vernunft und das Streben nach Einsicht eine andere Rolle als bei Freud. Einsicht in komplexe Zusammenhänge erscheint als Anmaßung, die der homo aufgegeben und nicht als unerbittliches Ideal zu folgen sollte.

Auf dieses Grundmotiv, das Verhältnis von Trieb und Vernunft, Natur und Norm, homo psychologicus simplex und homo rationalis et moralis werde ich in meinen Ausführungen immer wieder zurückkommen.

II

Wenn man als berufs- und lebenserfahrener Psychoanalytiker die verhaltensökonomische Literatur liest, ist man erstaunt. Man findet eine Unzahl alt bekannter Entdeckungen über das Seelische, Befunde, die vor über 100 Jahren systematisch experimentell erhoben worden sind. Daniel Kahneman führt viele gestaltpsychologische, aus Wahrnehmungs- sowie Sozial- und Handlungsexperimenten gewonnene Ergebnisse an, besonders sogenannte Sinnestäuschungen, die ihm zur Erklärung der Fehlerhaftigkeit des rationalen homo oeconomicus diesen sollen.

In der systematischen Psychologie haben diese „Täuschungen“ aber einen anderen Sinn, als den, Fehler aufzuzeigen. Um „Fehler“ handelt es sich nach einem alltagspsychologisch-rationalistischen, weit verbreiteten und wirksamen Vorurteil. Innerhalb der theoretischen Psychologie wird mithilfe der sogenannten Sinnestäuschungen die Eigenart seelischer Logik sichtbar gemacht, denen aber auch mit Korrekturen entgegengewirkt wird. Menschen funktionieren komplexer und vielgestaltiger, als Kahneman glauben machen will. Auch alltäglich rechnen wir mit unseren „Fehlern“, müssen und sollten sie kennen und ihnen nicht einfach unterliegen. Das Wissen um die eigene Schwächen gehört zum erwachsen werden.

Das was man in der Psychoanalyse „Fehlleistung“ nennt, wird ebenfalls häufig zur „Erklärung“ benutzt. Fehlleistungen, die das rationalistische Ideal – der vernünftige Mensch verfüge über sich – beleidigen. Mit ihnen wird die Wirksamkeit irrationaler, unbewusster, triebhafter Prozesse im normalen Seelenleben aufgewiesen. Freud stellte die „Fehlleistungen“ und deren Funktionieren an den Anfang seiner Einführung in die Psychoanalyse, um die Geltung psychoanalytischer Konzepte auch außerhalb der Psychopathologie zu betonen. Als Bindeglied zwischen Normalität und Krankheit galt ihm der Traum. Unbewusste Prozesse setzen sich scheinbar sinnlos im Normalleben und in der Krankheit durch. Die psychoanaltische Methode deckt ihren Sinn auf. Alle diese Phänomene sind Produkte verschiedener Kräfte: Triebe und gegen sie gerichtete, im weitesten Sinne moralische und vernünftige Kräfte; dieses Gegeneinander- und Zusammenwirken erklärt die Vielfalt seelischer Prozesse.

Die meisten Befunde der psychoökonomischen Literatur sind altbekannt. Aber sie werden durch Experimenten mit neuen Probanden und engen Fragestellungen wiederholt, um zu belegen, dass die Grundannahme der EMH: der homo oeconomicus sei ein rationaler Entscheider, der umsichtig alle Informationen berücksichtigt und nach nachvollziehbarem Kalkül sein Geschäft erledigt, nicht länger haltbar ist. Der homo oeconomicus simplex soll durch den homo psychologicus ersetzt werden: dem Mensch, so wie er nun mal ist. D.h. dem menschlichen Faktor soll Rechnung getragen werden. So wird das Menschlich-allzu-menschliche einkalkulierbar und damit kann die grundlegende These der EMH erhalten bleiben: menschliche Fehler werden einberechnet, um sie wieder heraus zurechnen.

An dieser Literatur fällt dem Outsider aber auch ein recht eigentümlicher Stil auf. Weit davon entfernt, dass diese Literatur nüchtern und ernsthaft ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen vorträgt, was ihrem verantwortlichen Kontext entsprechen würde, kommt sie eher locker, flockig und unterhaltsam daher. Sie formuliert oft mit einem Augenzwinkern, den Usancen vieler Verhaltenspsychologie entsprechend!

Daniel Kahneman nennt den in ökonomischen Kreisen wenig bekannten „deutschen Psychologen“  Gerd Gigerenzer seinen beharrlichsten Kritiker. Im Geiste sind sie sich aber gleich! Auch Gigerenzers Buch: „Bauchentscheidungen – die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“ ist mit hohem Unterhaltungswert geschrieben. Es hat, wie das opulente Werk von Kahneman einen „Spaßfaktor“, wenn man über studentische Witze zu lachen vermag und die Tendenzen darin überhört. Wichtig ist beiden die Botschaft: So sind wir alle: machen Fehler, sind gierig, unvernünftig und betrügen, wenn wir nicht erwischt werden. In dieser Literatur wird das moralische Gebot abgewehrt, der moralische Mensch wird entmündigt.

Der homo oeconomicus simplex entlastet, wenn wir alle so sind. Wenn wir alle Fehler machen, kann man niemandem einen Fehler anlasten! Fehler sind nur Fehler, die verzeihlich sind. Sie haben keinen Sinn, erfüllen keinen Zweck: das ist ein Rückfall hinter die Anfänge der Psychoanalyse!

Kahnemans Überlegungen zum „Planungsfehlschluss“ (S. 308ff) machen das besonders deutlich. Er beschäftigt sich mit den tendenziösen Fehlangaben von Kosten bei Ausschreibungen, die „mit“ auf dem „Optimismus von Planern und Entscheidern“ beruhen. Er gesteht zu, dass „Fehler in der anfänglichen Budgetierung nicht immer schuldlos“ sind. Aber der allgegenwärtigen Tendenz, zu fälschen, zu täuschen, gar zu betrügen, um den Zuschlag zu bekommen, gibt er kaum ein Gewicht. Denn es fällt doch auf, dass eine Ausschreibung selten zu hoch veranschlagt wird und weniger Kosten entstehen, sondern regelmäßig werden, zumindest bei Großprojekten die fehlerhaften geplanten Kosten mit hoher Wahrscheinlichkeit maßlos überschritten. So muss man annehmen, dass diese Fehler nicht zufällig sind und nicht nur darauf beruhen, dass wir alle Fehler machen, sondern sie haben eine Tendenz, einen unbewussten Sinn. Der Sinn ist die bewusste Täuschung und der Fehler soll einen Zweck erfüllen.

Auch Robert Shiller betreibt – und er ist dabei der Seriöseste – eine wilde Psychologie. Eine Psychologie, die keinen Ordnungsträger hat, die sich eklektisch in alle Richtungen bewegt und zu naturalistischen Fehlschlüssen neigt, indem er z.B. hirnmythologische Glaubenssätze als quasi Gesetze anführt. Das Unbewusste im Sinne einer systematischen Psychologie von Freud ist bei ihm sinnentleert. Offensichtlich hat er den eigentlichen Dreh der Rede vom Unbewussten nicht verstanden. Die Komplexität psychoanalytischer Ansätze geht verloren. Shiller ist psychologischer Laie.

Shillers herbei gezogene Analogien für seelische Prozesse haben eine unausgesprochene Tendenz. Sie stellen das seelische Geschehen als unausweichlich, zugleich als normal, weil natürlich dar, was psychoanalytisch gesehen, höchst fraglich ist. Davon ahnt er wohl etwas, denn auch er bedient sich des Stilmittels, das man in der sonstigen verhaltensökonomischen Literatur häufig findet: Ironie, Unernsthaftigkeit, schiefe Analogien, gar Treppenwitze. Sein oft benutztes „wir“ hat etwas fast Beschwörendes, inkludiert und exkludiert zugleich: es bezieht sich auf die besser gestellten Golfspieler, die sich auf dem Green über ihre Anlagen unterhalten…

Sigmund Freud, der sich vor über 100 Jahren mit dem unbewussten Seelenleben beschäftigte, sucht man in der Literatur über die unbewusste Dimension seelisch-ökonomischen Geschehens vergeblich. Freud hat darauf Wert gelegt, dass das Unbewusste einen meist egoistischen Sinn verfolgt, dem im gesunden Seelenleben entgegengewirkt wird. Bei ihm ist das Unbewusste eine Herausforderung, eine Anstrengung, der es sich zu stellen gilt, und keine Exkulpation für egoistisches Verhalten. Der Mensch ist konflikthaft in sich und er verliert sein Wesen, wenn er dem Unbewussten verfällt. Seine Aufgabe ist es, die unbewussten Tendenzen zu bemeistern, indem er sie zu bewussten, rationalen und gesellschafts- und kulturkonformen Prozessen transformiert. Im Zusammenhang mit Fehlkalkulationen ist der systematische Fehler zum eigenen Vorteil keine Entschuldigung, sondern es ist eine Herausforderung an den Professionellen, wenn er sich um Einsicht bemüht und seiner Verantwortung gerecht werden will.

So wird in dieser Literatur über das Unbewusste das Wesentliche der Psychoanalyse, die Spannung des triebhaft Unbewussten im Gegensatz zum kulturellen Gebot, die zur Einsicht zwingt, verfehlt.

III

Verantwortung im Leben verlangt Einsicht und setzt sie voraus! Wenn wir unsere Entscheidungen unbewussten Kräften und seien es die des Marktes überlassen, entsteht eine moralisch prekäre Situation. Wenn der Markt regiert, pervertiert ein psychoanalytisches Motiv im Umgang mit dem Unbewussten. In der Psychoanalyse wird Einsicht in Bereiche vorangetrieben, in denen sie alltäglich unmöglich zu sein scheint. Das Unbewusste soll bewusst gemacht und soweit möglich der bewussten Kontrolle und Verantwortung zugeführt werden. Psychoanalytisch gesehen, bedeutet die Anerkennung des Unbewussten nicht ein Laissez-faire gegenüber den triebhaften Prozesse und gerade nicht eine Abdankung der Vernunft, sondern eine Aufforderung, sich in entschiedener Weise und mit Verantwortung den Grenzen der Vernunft zu stellen. Man muss daran erinnern, dass Freud ein fast religiöses Verhältnis zur Vernunft hatte.

Die „Humanomics“ als Entdeckung des Menschlichen in der Wirtschaft (Heuser 2008) stellen einen „psychologischen Menschen“, den homo psychologicus heraus und ersetzen mit ihm den homo oeconomicus simplex der EMH. Das Buch von Uwe Jean Heuser ist eine moralische und ästhetische Zumutung. Er wendet sich zynisch an Gleichgesinnte. Was nicht berücksichtigt wird, ist der Gegensatz zum homo moralis, dem moralischen Menschen. So wird ein Mensch unabhängig von jeglicher Moral eingeführt. Über die moralische Verpflichtung wird mit einem „Augenzwinkern“ hinweggegangen. Dieser homo psychologicus simplex kann zur Exkulpation von tendenziösen „Fehlern“ dienen.

Das ergibt eine einfache Alltagspsychologie des gesunden Menschenverstandes gepaart mit dem Verständnis für alle menschlichen Schwächen. Damit ist aber der Mensch seiner immanenten Komplexität beraubt. Die Psychoanalyse beschreibt den Menschen nicht nur als triebhaftes Wesen, sondern als hochkomplexes Wesen, mit Spannungen und Konflikten. Der Mensch ist immer auch ein moralisches Wesen, weil er nur in Gemeinschaft leben kann. Seine Struktur ist wesentlich konflikthaft, denn er gehorcht nicht nur Trieben, sondern auch gesellschaftlichen Geboten, ohne die er nicht sein kann. Die psychoanalytische Rede vom Unbewussten ist so implizit immer auch ein moralischer Diskurs, denn das Unbewusste ist das, was die kulturellen Gebote in uns erzeugen.

Es mag Sie verwundern, wenn ein Psychoanalytiker vom moralischen Menschen spricht, vom moralischen Subjekt und vom Gebot. Gar vom Menschen, der aus vernünftigen Gründen einer gemeinsam vereinbarten Moral folgt und seine egoistischen Impulse bekämpft, weil er einsieht, dass Moral als Basis des gemeinsamen Lebens unerlässlich ist. Die Spanne zwischen Trieb und Gewissen ist die Grunddimension analytischen Denkens: Triebhaftigkeit und Gewissen stehen unaufhebbar gegeneinander. Die Psychoanalyse hat sich nie für die eine oder andere Seite ausgesprochen, sondern immer die Spanne und die Konflikthaftigkeit betont und darauf hingewiesen, dass Unbehagen im Nicht-erfüllen-können aller triebhaften Ansprüche zu ertragen ist, um die Gesellschaft erhalten zu können. Wenn das verloren geht, ergibt sich ein flaches Menschenbild.

Jeder, der verantwortlich einer Profession nachgeht, muss immer auch die Gebote der Gemeinschaft berücksichtigen, will er seiner Aufgabe und seiner kulturellen Verpflichtung Genüge tun. Bei dem Psychoanalytiker David Tuckett, dessen Auffassungen Sie am Dienstag im Hauptprogramm hören können, findet man von dieser Spanne nur Rudimente, ansonsten aber viel Verständnis für triebhaftes Gescehen. Damit wird das psychoanalytische Menschenbild systemkonform und flach. Die für den Menschen essentiellen Konflikte zwischen Trieb und Gewissen, Egoismus und Solidarität werden eingeebnet.

IV

Ich werde jetzt meine Arbeit von 2014 über David Tucketts „Minding the Markets. An emotional Finance View of Financial Instability“ zusammenfassen. Der provokante Untertitel meiner Publikation betont die kritische Haltung zu dieser Arbeit: „Psychoanalyse als Magd im Haushalt des Big Money und eine andere Auffassung der globalen Finanzkrise ist möglich und notwendig“.

Was in den Konzepten der Verhaltensökonomie fehlte, waren Aspekte, die ein tiefenpsychologischer Ansatz liefern könnte. Zwar hatten Kahneman und Gigerenzer das „Unbewusste“ als „schnelles Denken“ bzw. als „Bauchgefühl“ in die Diskussion eingebracht, aber nur als Abweichungen von der rationalen Norm, denen als Fehler entgegen gewirkt werden kann. Zu diesem Zeitpunkt erschien ein erweiterter, psychoanalytischer Versuch viel versprechend, der, ganz im Sinne von Sigmund Freuds Arbeitsprogramm, versucht, den Sinn von Fehlfunktionen zu erfassen, um das Versagen der Vernunft gegen alle Bemühungen erklärbar zu machen. Damit würde sich eine Basis für begründbare und planmäßig, präventive und therapeutische Maßnahmen des Marktversagens ergeben.

Dieser Aufgabe stellten sich David Tuckett und Richard Taffler kurz vor Beginn der großen US-Finanzkrise, die sich später zu einer globalen Staatenkrise ausweitete. Sie setzten zwar am Entscheidungsverhalten einzelner Manager an, wollten aber von Beginn an nicht nur das Fehlverhalten und Versagen von Einzelpersonen zum Thema ihrer Nachforschungen machen, sondern die personenübergreifenden Prozesse verstehen, um auf dieser Basis Vorschläge zu erarbeiten, wie der Markt funktionieren (reguliert werden?) sollte, um sicherer zu werden. Im zu besprechenden Buch legt Tuckett erste Ergebnisse seiner Untersuchungen und Schlussfolgerungen für ein psychoanalytisches Fachpublikum vor, Damit hat er viel Anerkennung und Zustimmung erfahren. Die Zielsetzung der Publikation wird an mehreren Stellen dargestellt.

Ziel des Buches

Der Autor möchte zwei Fragen klären: 1. ob ein emotional-finanzwirtschaftlicher Ansatz verständlich machen kann, wie Finanzmärkte im Allgemeinen funktionieren und 2. warum „normale Märkte“ entgleisen, „wild“ und unberechenbar werden können, in krisenhafte Entwicklungen geraten, die kaum zu beherrschen sind. Im Gegensatz zum neoklassischen Ansatz der Wirtschaftswissenschaft , der davon ausgeht, dass Märkte „rational“ sind, stellt Tuckett fest, dass auf Finanzmärkten keine rational zu erfassende Dinge gehandelt werden, sondern „Geschichten“, die in emotionalen Gruppensituationen mit Normdruck und Profilierungszwang ihren Wert gewinnen. Der Wert besteht in Meinungen, Befürchtungen und Hoffnungen. Das Ergebnis der Befragung zeigt deutlich, dass das bisherige Verständnis und die daraufhin abgestimmten Prozesse der Finanzinstitutionen (auch der Kontrolleinrichtungen) der Realität des Finanzhandels nicht gerecht werden, weil sie die wesentlichen emotionalen Faktoren des Geschehens nicht berücksichtigen können. Anders ausgedrückt heißt das, dass die neoklassische Finanztheorie versagt, weil sie für psychologische – besonders emotionale und unbewusste – sowie gruppenpsychologische Prozesse blind ist. Wie weit der emotional-finanzwirtschaftliche Ansatz ein besseres Verständnis bieten kann und daraus präventive Maßnahmen gegen ein „wild“ werden des Marktes abgeleitet werden können, ist das Maß, dem der Autor sich unterwirft.

Das Material

David Tuckett hat kurz vor der Finanzkrise von 2008 mit führenden und „mächtigen“ Fond-Managern in unterschiedlichen Branchen und unterschiedlichen Regionen der Welt Gespräche geführt, die er als Tiefeninterviews bezeichnet. Die Interviewpartner wurden befragt, wie sie zu Entscheidungen gekommen sind, Wertanlagen zu kaufen, zu halten und wieder zu verkaufen. Tuckett betont, dass diese Gespräche in einer Atmosphäre von Vertraulichkeit und Offenheit stattgefunden haben und berichtet, dass die Interviewmittschnitte transkribiert und soweit anonymisiert wurden, dass sie publiziert werden konnten. Der Publikation dieses Materials haben die Interviewten zugestimmt. Das ergibt ein lebendiges und psychologisch äußerst interessantes Bild der Vorgänge im Finanzgeschehen; so wie es die am Geschehen Beteiligte und Verantwortliche schildern.

Die Hauptergebnisse

Tuckett beschreibt, dass ihm schon im ersten Interview klar wurde, dass die These vom effizienten Markt, die EMH-Hypothese, falsch sei. Finanzentscheidungen werden nicht nach kühler, nur berechnender Kalkulation getroffen. Weil immer viele Unwägbarkeiten zu berücksichtigen sind, würden sie einer anderen Logik gehorchen. Darüber hinaus müssen Entscheidungen in emotional belastenden Situationen getroffen werden, die ein kühles Abwägen erschweren, oft unmöglich machen. Die Manager von Finanzanlagen nehmen zu den Produkten, die sie vertreten und mit denen sie handeln, emotionale Beziehungen auf (analog Liebesbeziehungen – Gelegenheit anzüglicher Bemerkungen), die von Natur aus ambivalent sind, denn Manager können nicht wissen, wie Finanzprodukte sich verhalten werden, ob sie ihnen Erfolg bringen (treu bleiben), oder Misserfolg bringen (untreu werden). Dadurch kommen die Manager unter einen ungeheuren Druck –Outperformance – und bilden, um diese Situation zu ertragen, Geschichten aus, die sie den Kunden und sich erzählen. Mit diesen Geschichten wird letztlich gehandelt und nicht mit nüchternen Finanzprodukten.  Gesellschaftliche Verantwortung und Gewissensprobleme spielen offensichtlich keine Rolle.

Die fachliche Kritik: Das Material.

Tuckett hat mit 52 Fond-Managern Gespräche geführt, die Richard J. Taffler vermittelt hat. Aus der gemeinsamen Publikation mit Taffler, ein Jahr nach Tucketts Buch erschienen, erfahren wir, dass Taffler als Finanzwissenschaftler seine Beziehungen zu Chefs von Fond-Managementgesellschaften nutzte, um Verbindungen zu einzelnen Mitarbeitern zu knüpfen, denen „erlaubt“ wurde Interviews zu geben und die „erfreut“ waren, endlich einmal über ihre Tätigkeit offen sprechen zu können.

Das sollte einen Analytiker kritisch machen, denn in einer Zeit, in der die gesamte Finanzwirtschaft – und das war nicht erst nach 2008 – unter erheblichem öffentlichen Rechtfertigungsdruck stand, ist anzunehmen, dass die Gesprächspartner von ihrem Chefs handverlesen waren: für das Renommee der Finanzindustrie sichere Gesprächspartner, die kein schlechtes Bild abgeben und nicht das Urteil bestätigen, das in der Presse kursierte: es herrsche maßlose Gier und Verantwortungslosigkeit im Finanzgeschäft. Außerdem sind Fondsmanager als Verkäufer Meister in der Selbstdarstellung und beherrschen die Kunst der Beeinflussung. Interessanter Weise erfahren wir die Einzelheiten der Interview-Akquise nicht in der Arbeit von Tuckett, sondern in der gemeinsamen Publikation mit Taffler.

Wenn man das Bild, das Tucketts Interviewpartner zeichnen lässt, mit den vielen Schilderungen über die unsagbaren Vorgänge im Fond-Management vergleicht, die z.B. Helge Peukert in „Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise“[2] anführt – Berichte von schamloser Bereicherung , rücksichtsloser Verantwortungslosigkeit und kriminellem Treiben -, kann man sehen, unter welch großem Druck diese Berufsgruppe stand.

Die Auswertungen der Interviews folgt der „grounded theory“ nach Barney Glaser und Anselm Strauss. Wobei Tuckett offen lässt, welche der unterschiedlichen Interpretationsstrategien bei ihm zur Anwendung gekommen ist. Wiederum bei T&T erfahren wir nebenbei, dass die sogenannte qualitative Inhaltsanalyse sich auf die Nennungshäufigkeit von Affektworten bezieht, dem Verfahren, das Klaus Krippendorf in der Folge von Glaser („Just do it“) eingeführt hat. Srauss hat sich abfällig über dieses Verfahren geäußert: er habe immer wieder solche Leute – „vorzugsweise aus Chicago“ – getroffen, „die Berge von Interviews und Felddaten erhoben hatten und erst hinterher darüber nachdachten, was man mit den Daten machen sollte.“ Strauss war eher dem symbolischen Interaktionismus verpflichtet und verzichtete nicht auf Kontext, Sinn und Bedeutung seiner Daten. Ein Interpretationsverfahren, wie das von T&T praktizierte, widerspricht grundlegend der psychoanalytischen Bearbeitung von Tiefeninterviews.

So werden im Kontext der Situation verständliche Rationalisierungen zu unhinterfragten Äußerungen der Interviewten und es wird darauf verzichtet, durch eine Rekonstruktion des manifesten Textes zu einem tieferen Verständnis der unbewussten Inhalte zu gelangen.

Das führt zu seltsamen Ergebnissen. T&T berichten (S.94ff), dass die Angst bei Fond-Managern im Entscheidungsverhalten eine große Rolle spielt. Ängstlichkeit werde zwar nicht genannt, aber sie sei zu vermuten und deswegen sei die Nichtnennung ein schlagender Beweis für die Ängstlichkeit als Grundform ihrer Gemütsverfassung. Dem steht die Argumentation diametral entgegen, dass Gier keine Rolle spiele: Gier spiele keine Rolle, obwohl sie so oft vermutet worden sei und gerade deswegen. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil keiner der Interviewten von Gier gesprochen habe. Da kann man in Verwirrung geraten. Gewissenskonflikte und Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft sucht man vergebens.

Der Umgang mit psychoanalytischen Konzepten

Die Interviews liefern, wenn sie als tiefenpsychologische Interviews verstanden werden, manifeste Inhalte, die einer Rekonstruktion bedürfen, um den latenten Inhalt zu erfassen. Die Rekonstruktion wiederum rechnet unbewusste, primitive, infantile Triebkräfte und Abwehren gegen sie mit ein. Primitive Triebkräfte setzen sich sublimiert und modifiziert im Erwachsenenverhalten durch und führen zu Inkonsistenzen und Mischformen, die durch eine Dekonstruktion durchsichtig gemacht werden müssen, um sie psychoanalytisch zu verstehen. Auf diese Rekonstruktionsarbeit verzichtet Tuckett weitgehend. Er verwendet z.B. die Konzepte der paranoid-schizoiden Position und depressiven Position, in modifizierter (kastrierter) Form und ohne sie beim Namen zu nennen, weitgehend als bloße Beschreibung und verfehlt ihre dynamische Funktio

Er nennt die paranoid-schizoide Position mit ihrem anti-sozialen Größenwahn, ihrer Unerbittlichkeit und ihrem gnadenlosen Egoismus einen gespaltenen Zustand, um, wie er schreibt, seine Leser und Interviewten nicht zu verschrecken. Das kann man als Rücksicht auf ein Laienpublikum verstehen. Dass er die depressive Position in den wünschenswert integrierten Zustand umbenennt, ist weniger harmlos.[3]

Die depressive Position würde, und das spielt in den Überlegungen von Tuckett keine große Rolle, ein schmerzhaftes Schuldanerkenntnis beinhalten, gegen das besonders die manische Abwehr eingesetzt wird, ein von Winnicott eingeführtes, sehr fruchtbares Konzept. Die manische Abwehr ist ein Versuch, dem unerträglichen Schuldgefühl zu entgehen, indem die „innere Realität“ (Winnicott S.243) verleugnet wird. Das führt zu einer Perpetuierung von Spaltung mit scheinbar leichter und lebendiger Beweglichkeit, ohne eine behindernde Selbstreflektion riskieren zu müssen, die als Stagnation und Todesdrohung empfunden würde. Diese Überlegungen fehlen bei Tuckett.

Man kann das mitgeteilte Material unter dem Gesichtspunkt der manischen Abwehr – als „omnipotente Manipulation“ (S.240) in der Gefahr von Steuerungsverlust – diskutieren: Dann zeigen sich dynamische Zusammenhänge zwischen Größenwahn, Realitätsverlust und Abwehr von Schuld und Scheitern

Im Kapitel: „Gespaltene Zustände – Der Zwang zur kurzfristigen Performance“ (S.124ff) wird der enorme Druck beschrieben, unter dem Fondsmanager stehen, trotz Unsicherheit sichere und übermäßige Gewinne zu machen. Verschärft wird ihre Situation dadurch, dass sie einem permanentem Benchmarking – Vergleiche und Zielvorgaben zum Übertreffen der Konkurrenz als Leistungsanreiz – ausgesetzt sind. Das führt zu einer aufgeregten, hektischen Betriebsamkeit, die kein Nachlassen und keine Besinnung erlaubt. Insider berichten über den Suchtcharakter des ständigen sich Übertreffen-müssen, was zu immer weiterer Anstrengung zwingt. Dadurch wird die manische Abwehr als Abwehr der Angst zu scheitern implantiert. Gleichzeitig ist die Entscheidungssituation wegen ihrer Komplexität und der Überfülle an Informationen kaum zu überschauen. Das führt zu einem Dilemma, in dem die Wirkungsweise manischer Abwehr deutlich zutage tritt.

„Als globaler Investor muss man jeden Tag Hunderte von Entscheidungen treffen, ohne die Umstände genau zu kennen. Man hat vermutlich hunderte von Aktienkurs-Diagrammen gleichzeitig auf dem Monitor… Man wird mit viel zu viel überhäuft… Wir überprüfen täglich unsere Performance auf vielerlei Art, was vielleicht überhaupt nicht gut ist. Alles dreht sich dann um die kurzfristige Performance.“ (Brian Anderson)

„Was wir uns jeden Tag, als Erstes, anschauen ist unsere Performance, gemessen an unser Benchmark für den Börsentag. Also, gestern haben wir neun Basispunkte verglichen mit unserem Benchmark verloren, aber auf dem letzten Stand lagen wir noch 77 darüber. Wir schauen uns also (ständig) an, wo wir gemessen an unserem Benchmark stehen.“ (Andrew Smythe)

Druck und Unlösbarkeit der Aufgabe, allen Erwartungen zugleich gerecht werden zu können, verfestigt sich in einer manischen Betriebsamkeit, die unverkennbar Abwehrcharakter hat:

„Das wird nicht mir zugeschrieben, oder? Stündlich, vielleicht! Ich habe in diesem Geschäft 1993 angefangen, damals, als ein Nachwuchstyp, der von nichts eine Ahnung hatte. Und ich arbeitete mit diesem smarten Typ zusammen. Jedes Mal, wenn ich da war, sagte er so was wie: > Oh! Mein Gott! Hilton ist drei Cent raufgegangen. Hilton ist fünf Cent raufgegangen: Oh! Wir sind heute drei Basispunkte rauf. < Ich hielt das für das Lächerlichste, was ich je erlebt hatte, und… heute mache ich das ganz genauso.“ (George Monroe)

Die Wirkungsweise von manischer Abwehr ist am deutlichsten am Umgang mit Versagen zu erkennen, denn das Scheitern an Normen und Geboten, würde normalerweise Gewissenskonflikte bewirken.

 „Metanarrationen“

T&T verwenden das Konzept der Metanarration und verstehen darunter den Rahmen der Geschichten, die ihre Interviewten über Finanzprodukte erzählten. Aus der gemeinsamen Publikation wiederum können wir entnehmen, dass die beiden Autoren mit Bedacht das Konzept der Metanarration von Jean François Lyotard übernommen haben (S.52). Allerdings reduzieren sie Metanarration auf etwas, was man „Firmenphilosophie“ oder allgemeine strategische Überlegung von gebildeten Finanzmanagern nennen könnte. Damit wird zugleich die eigentliche, den Finanzmarkt bestimmende, Geschichte, d.h. dessen Metanarration, nicht berücksichtigt und aus dem Blick gerückt. Darüber hinaus fehlt der Hinweis auf die psychoanalytische Metanarration, die als Instrument der Deutung des Geschehens erforderlich ist. Die Metanarration der Psychoanalyse als Triebfeder des Psychoanalytischen Projekts (Hardt 2007) ist in Freuds Kulturtheorie (Hardt 2009b) artikuliert. So ist die Schrift insgesamt blind gegenüber den beiden Metanarrationen, in denen sie sich bewegt. Was gänzlich übergangen wird, ist, dass sich Lyotard auf die großen Metanarrationen der Moderne. Aufklärung und Demokratisierung bezog.

 Freuds kulturpsychologischer Aspekt fehlt, deswegen gelingt es nicht, die geschilderten Gesamtprozesse psychoanalytisch zu erfassen. Freuds Überlegungen zur Massenpsychologie oder zum Unbehagen in der Kultur werden übergangen. In seiner Blindheit gegenüber der verborgenen Metanarration des Ökonomismus und dem Stehenbleiben auf einem klinischen Standpunkt, der nur die persönliche Entscheidung thematisiert, bleibt Tuckett selbst der Ideologie des freien Marktes im Sinne eines methodischen Individualismus verhaftet. Eine Ideologie, die er zwar für unzureichend hält, um Entscheidungsprozesse auf dem Markt zu beschreiben, die für ihn aber den selbstverständlichen Hintergrund für die Finanzwirtschaft abgibt, vor dem sie agiert, lebt und gedeiht.

Tuckett gibt einen kurzen Abriß der Geschichte der Finanzmärkte und folgt dabei dem Begründungsmythos des Neoliberalismus: entstanden als bürgerliche Befreiungsbewegung im Untergang der absolutistischen Anmaßung. Tuckett betont zwar, dass diese alte Geschichte nicht mehr zeitgemäß sei, denn es gelte nicht mehr, gegen starre Autoritäten aufzubegehren, aber er hört mit der Geschichte der entfesselten Finanzmärkte dort auf, wo sie erst beginnen müsste. Es fehlt das Scheitern dieser Bewegung an ihrer Unmäßigkeit im Verlust an die Gemeinwohlbindung im 19. Jahrhundert, was zur Wiederbelebung solidarischen Denkens führte, sowie in den Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts. Im vorigen Kontext formuliert, bedeutet das: sein homo oeconomicus psychologicus im Rahmen des methodischen Individualismus hat keinen Gegenpart in einem homo oeconomicus socialis et moralis. Die klärende Verfremdung der die VWL beherrschenden zugrundliegenden Konzepte des homooeconomicus ist Tuckett nicht gelungen, weil er den dominanten Diskurs nicht überstiegen hat.

Ohne die Geschichte des radikalen Neoliberalismus, der sich von einer Reformbewegung zu einer aggressiven Ideologie weltweit agierender Politiker und deren Berater gewandelt hat, ist die Perversion der Finanzwirtschaft nicht zu verstehen. Wie sich diese Entwicklung vollzogen hat, ist in den Schriften über die Entwicklung der Mont Pélerin Society beschrieben. Die von verschiedenen Seiten formulierte Kritik an dieser Entwicklung findet bei Tuckett keine Erwähnung.

Eine Wissenschaft, die dem entfesselten Markt verpflichtet bleibt, auch wenn sie nicht davon weiß, dient unbedacht dem Profit, der einzigen Wahrheit, die am Finanzmarkt Geltung hat. So wird man unversehens zum „second-hand-dealer in ideas“, wie Hayek die „berufsmäßigen Vermittler“ seiner Ideen abfällig nannte. Ihre Aufgabe ist es, die öffentliche Meinung von marktradikalen Ideen zu überzeugen, so dass sie als naturnotwendig, alternativlos und schließlich als selbstverständlich erscheinen und anerkannt werden. Psychologie und sogar Psychoanalyse sind in diesem ideologischen Kontext bloße Exkulpationsmaschinerien: die Ideologie fordert ein bestimmtes Menschenbild, das im Gegenzug das System rechtfertigt.

Epikrise

Während Tuckett in der Tradition von Shiller, die Finanzwirtschaft  menschlicher machen will, indem er die emotionale Dimension des Unbewussten in das Verstehen der Transaktionen einführt, ist die Entwicklung des Marktes schon längst über ihn hinweggegangen. Der Finanzmarkt folgt seiner immanenten technizistischen Logik, mit der er sicherer, im Sinne von berechenbarer, zu werden verspricht. Dazu verwendet er bessere, raffiniertere Modelle, die dem Fehler „Mensch“ vermeiden. Die Zukunft, die längst begonnen hat, geschieht im HFT (Hochfrequenzhandel), der das menschliche Auffassungsvermögen überschreitet; es gibt zwar zögernde Bemühungen seine Herrschaft einzugrenzen und zu mildern, aber viel größere Investitionen, sie zu befördern. Demzufolge wird sich der digitalisierte Finanzökonomismus durchsetze

Dort ist der Mensch durch schnelle Rechner, die die Überfülle an Informationen algorithmisch bearbeiten, ersetzt. Der homo oeconomicus dyctos (Birger Priddat, 2014) ist erschienen. Menschen sind zu langsam, um diese Vorgänge noch zu erfassen, geschweige denn zu verstehen. Sie sind nur noch hochbezahltes Wartungspersonal der Programme, die blitzschnell über alle finanzielle Transaktionen entscheiden. „Millionen in Millisekunden“ war in der FAZ am 16. Februar 2014 zu lesen. Aktien, die eine realwirtschaftliche Relevanz in der Lebenswelt haben, verdunsten mit Haltezeiten von weit unter einer Sekunde in bodenloser Spekulation. Das ist die endgültige Dehumanisierung der Finanzwirtschaft, gegen die Tuckett sein Konzept der emotionalen Finanzwirtschaft setzen sollt

In Kontext der endgültigen Dehumanisierung der Finanzwirtschaft wäre eine „emotionale Finanzwirtschaft“ besonders gefragt, weil die Algorithmen der Finanzentscheidungen von Menschen erfunden und die Computer von Menschen gespeist und gewartet werden und zugleich ist sie fehl am Platz; die Finanzwirklichkeit hat sich von den menschlichen Belangen längst entfernt, bewegt sich nur noch nach eigenen Gesetzen, selbst der homo oeconomicus simplex ist heraus gerechnet. Der Ansatz von Tuckett und Taffler verdient Beachtung; aber er greift zu kurz, weil er die unbewusste Metanarration des Systems „Finanzmarkt“ nicht thematisiert und ihr deswegen verhaftet bleibt: eine vertane Chance psychoanalytischen Bemühens.

Ein psychoanalytischer Beitrag zur Bewältigung der globalen Finanzkrisen, die durch systemisches Fehlverhalten verursacht werden, macht eine sozialpsychoanalytische Sichtweise nötig. Tuckett beschreibt nur individuelles Fehlverhalten, das im System rational, normal, manchmal auch falsch aber nicht vorwerfbar und meist erfolgreich ist. Tuckett fehlt eine Sichtweise, die Freuds kulturpsychologischen Schriften eröffneten, die Gesellschaft, Kultur, System als eine das Individuum übergreifende soziale, gesellschaftliche, kulturelle Wirklichkeit anerkennt. Seelische Realitäten, die individuelles Verhalten und Erleben mitbestimmen, oft determinieren, immer aber durchdringen. Erst eine solche Sichtweise macht es möglich, Chancen und Grenzen menschlicher Rationalität in Finanzdingen anzuerkennen und zugleich Regulierungen vorzuschlagen, die der menschlichen Natur adäquat sind.

Fazit

Fast alle sind sich einig, dass der homo oeconomicus simplex durch raffiniertere Konzeptionen abgelöst werden muss. Mit dem bisher auf dem Wissenschaftsmarkt von der Verhaltensökonomie angebotenen neuen Modell, dem homo oeconomicus psychologicus, gelingt es aber weder, die vielfältigen Prozesse angemessen zu beschreiben, noch bietet es einen Ansatz für die zu klärenden wirtschaftsethischen Fragen, weil der homo oeconomicus moralis vernachlässigt wird. Auch die Einführung des Unbewussten in den verhaltensökonomischen Diskurs löst dieses Dilemma nicht, weil das Unbewusste entweder nur als eine Erklärung für Fehler in der rationalen Kalkulation und deren Exkulpation verwendet wird oder aber – seiner Komplexität beraubt – einseitig die individuelle Triebhaftigkeit betont und die gemeinschaftlich-moralische Bindung vernachlässigt.

Literatur:

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Tuckett, David (2011): “Minding the Markets – An Emotional Finance Vies of Financial Instability”, Chippenham & Eastbourne, Palgrave McMillan. Deutsch: (2013): “Die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte, übersetzt v. A. Becker, Gießen, Psychosozialverlag.

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